Vierundzwanzig


JETZT

»… es sich um eine zervikale Schwangerschaft gehandelt«, erklärt die Ärztin. »Ein sehr seltenes Phänomen. Tatsächlich liegt das Risiko, dass sich das befruchtete Ei im Zervikalkanal unterhalb des inneren Muttermunds, also im Gebärmutterhals, einnistet, bei weniger als einem Prozent.«

Graham drückt meine Hand. Ich liege in meinem Krankenhausbett und wünsche mir nichts mehr, als dass die Ärztin endlich geht, damit ich wieder schlafen kann. Die Schmerzmittel machen mich so benommen, dass ich mich gar nicht auf das konzentrieren kann, was sie sagt. Ich weiß aber auch, dass ich nicht zuhören muss, weil Graham das für mich tut. »Zwei Wochen Bettruhe« ist das Letzte, was ich höre, bevor ich die Augen schließe.

Graham ist zwar der Mathematiker von uns beiden, aber ich ahne, dass meine Gedanken in der nächsten Zeit um diese Wahrscheinlichkeit von weniger als einem Prozent kreisen werden. Das bedeutet, dass meine Chance, nach so vielen Jahren unermüdlicher Versuche, schwanger zu werden, größer war als das Risiko, schwanger zu werden und dann eine Fehlgeburt zu haben, weil sich das Ei an der falschen Stelle eingenistet hat.

»Gibt es einen Grund, warum es passiert ist?«, fragt Graham.

»Höchstwahrscheinlich ist es eine Folge der Endometriose«, antwortet die Ärztin und geht ins Detail, aber ich blende ihre Stimme aus, drehe den Kopf in Grahams Richtung und öffne die Augen. Er sieht die Ärztin an und hört ihr aufmerksam zu. Ich sehe, wie besorgt er ist. Seine rechte Hand liegt auf seinem Mund, die linke hält meine.

»Könnte …« Er wirft mir einen kurzen Blick zu und in seinen Augen liegt Angst. »Könnte die Fehlgeburt auch durch eine extreme Stresssituation ausgelöst worden sein?«

»Wenn eine zervikale Schwangerschaft nicht rechtzeitig entdeckt wird, kommt es zwangsläufig zu einem Abort«, antwortet die Ärztin. »Und leider sind die heftigen Blutungen in den meisten Fällen nicht zu stillen, sodass an einer Hysterektomie kein Weg vorbeiführt.«

Die OP ist jetzt neunzehn Stunden her. Ich begreife erst in diesem Moment, dass Graham die letzten neunzehn Stunden in dem Glauben gelebt hat, womöglich schuld zu sein. Dass er geglaubt hat, die Sache mit Andrea und der darauffolgende Streit könnten die Blutung ausgelöst haben.

Nachdem die Ärztin den Raum verlassen hat, streiche ich mit dem Daumen über seine Hand. Es ist nur eine winzige Geste, und sie kostet mich Überwindung, weil ich immer noch wütend auf ihn bin. »Du hast definitiv Grund, dir Vorwürfe zu machen, aber das hier gehört nicht dazu.«

Graham sieht mich einen Moment lang mit leerem Blick an, als wäre seine Seele gebrochen. Dann lässt er meine Hand los, steht auf und geht aus dem Zimmer. Seine Augen sind gerötet, als er nach einer halben Stunde wiederkommt.

Er hat ein paarmal geweint, seit wir uns kennen. Aber vor gestern Abend habe ich ihn nie weinen sehen, sondern es immer erst hinterher mitbekommen.

In den nächsten Stunden weicht Graham nicht von meiner Seite und sorgt dafür, dass ich alles habe, was ich brauche. Meine Mutter kommt zu Besuch, aber ich stelle mich schlafend. Als Ava anruft, bitte ich Graham, sogar auch ihr zu sagen, ich würde schlafen. Die Zeit vergeht. Es wird Abend, dann Nacht. Ich versuche, nicht darüber nachzudenken, was passiert ist, aber sobald ich die Augen schließe, rotieren meine Gedanken. Ich wünschte, ich hätte gewusst, dass ich schwanger war, auch wenn klar ist, dass ich das Kind nicht hätte austragen können. Ich kann mir nicht verzeihen, dass ich nicht intensiver in mich hineingehorcht und es gemerkt habe, weil ich mich dadurch um das Glück gebracht habe, mich über die Schwangerschaft zu freuen. Hätte ich doch nur mehr auf meinen Körper geachtet, dann wäre ich vielleicht auf die Idee gekommen, dass ich schwanger sein könnte. Ich hätte einen Test gemacht, der positiv gewesen wäre, und dann hätten Graham und ich wenigstens eine Zeit lang das Gefühl auskosten können, Eltern zu werden. Auch wenn es nur ganz kurz gewesen wäre.

So krass es klingt: Ich wäre sofort bereit, das alles noch einmal durchzumachen, nur um bewusst erleben zu dürfen – selbst wenn es nur für einen Tag gewesen wäre –, wie es ist, schwanger zu sein. Was für eine grausame Ironie, dass wir es so viele Jahre vergeblich probiert haben, und in dem Moment, in dem es endlich klappt, habe ich eine Fehlgeburt und zusätzlich muss mir auch noch die Gebärmutter herausgenommen werden, sodass wir uns nicht einmal damit trösten können, vielleicht eine zweite Chance zu bekommen.

Es ist einfach so verdammt unfair und tut so verdammt weh. Körperliche Schmerzen werden mich wohl auch noch eine ganze Weile begleiten. Wegen der starken Blutung konnten die Ärzte die Gebärmutter nicht auf vaginalem Weg entfernen, sondern mussten die Bauchdecke öffnen, was bedeutet, dass es einige Zeit dauern wird, bis die Wunde verheilt ist. Ich muss ein paar Tage im Krankenhaus bleiben und danach zu Hause Bettruhe einhalten.

Und das ausgerechnet jetzt, wo zwischen Graham und mir alles ungeklärt ist. Es sieht aus, als müssten wir die Entscheidung, wie es mit uns weitergeht, erst mal auf Eis legen. Ich bin jetzt nicht in der Lage, mit ihm über unsere Beziehung zu diskutieren. Wahrscheinlich wird es Wochen dauern, bis wieder halbwegs Normalität in unser Leben eingekehrt ist.

So normal, wie sich ein Leben eben anfühlen kann, wenn man keine Gebärmutter mehr hat.

»Kannst du nicht schlafen?«, fragt Graham, der im Sessel neben meinem Bett sitzt. Er sieht erschöpft aus, aber ich weiß, dass er nicht nach Hause fahren wird, solange ich hier sein muss. »Soll ich dir was zu trinken holen?«

Ich schüttle den Kopf. »Ich habe keinen Durst.« Im Zimmer ist es dunkel, nur die Lampe an der Wand über mir brennt und taucht Graham in ihren hellen Schein, als säße er einsam im Scheinwerferlicht auf einer Bühne.

Ich sehe ihm an, wie gern er mich trösten würde, andererseits ist da der zwischen uns schwelende Konflikt. Aber davon lässt er sich nicht abhalten. »Darf ich mich zu dir legen?«, fragt er und kommt zu mir, noch bevor ich den Kopf schütteln kann. Sehr vorsichtig legt er sich neben mich und achtet darauf, nicht am Infusionsschlauch zu ziehen, als er einen Arm unter mich schiebt und mir einen Kuss in die Haare drückt. Ich war mir nicht sicher, ob ich ihn so nah bei mir haben will, aber jetzt spüre ich, dass es doch tröstlicher ist, gemeinsam traurig einzuschlafen als allein.

***

»Ich setze mich sofort in den Flieger«, verkündet Ava, ehe ich auch nur die Chance habe, »Hallo« zu sagen.

»Nein, das machst du nicht. Mir geht es gut.«

»Quinn, ich bin deine Schwester. Ich will bei dir sein.«

»Nein«, sage ich resolut. »Das schaffe ich schon. Du bist schwanger. Ich will nicht, dass du einen ganzen Tag lang in einem Flugzeug sitzt.« Sie seufzt schwer. »Außerdem habe ich mir überlegt, dass ich vielleicht stattdessen euch besuchen könnte.« Das ist gelogen. Die Idee ist mir gerade eben erst gekommen. Aber ich könnte mir vorstellen, dass ich nach der zweiwöchigen Bettruhe, wenn ich halbwegs wieder auf dem Damm bin, dringend eine Auszeit von zu Hause brauche.

»Im Ernst? Meinst du, das erlauben sie dir? Was glaubst du, wann du fliegen darfst?«

»Ich frage die Ärztin bei der nächsten Gelegenheit.«

»Aber bitte sag so was nicht, wenn du es nicht auch ernst meinst.«

»Ich meine es total ernst. Ich glaube, das würde mir guttun.«

»Und was ist mit Graham? Der hat ja wahrscheinlich seine ganzen Urlaubstage aufgebraucht, um sich um dich kümmern zu können.«

Ich habe bisher mit niemandem über unsere Ehekrise gesprochen und darüber, dass er eine andere Frau geküsst und danach seinen Job gekündigt hat. Noch nicht einmal mit Ava.

»Ich komme allein.« Sie schweigt, woran ich merke, dass sie spürt, dass irgendetwas los ist. Aber ich will warten, bis wir uns sehen, und ihr erst dann alles erzählen.

»Okay«, sagte sie. »Dann sprich mit deiner Ärztin und sag mir Bescheid, wann du kommen kannst.«

»Das mache ich. Ich liebe dich.«

»Ich liebe dich auch.« Als ich das Handy weglege und aufblicke, steht Graham in der Tür. Ich warte darauf, dass er mir sagt, dass er es für keine gute Idee hält, so bald nach der OP eine große Reise zu machen. Er schaut auf den Kaffeebecher in seiner Hand, dann fragt er: »Du fliegst zu Ava?«

Er sagt du, nicht wir. Mein schlechtes Gewissen regt sich, andererseits muss er verstehen, dass ich Raum und Zeit brauche, um das alles zu verarbeiten.

»Erst wenn die Ärzte mir das Okay geben. Aber ja. Ich will sie sehen.«

Er schaut immer noch auf den Becher, dann nickt er. »Kommst du wieder zurück?«

»Natürlich.«

Natürlich.

Ich höre selbst, dass das nicht sonderlich überzeugt klingt, aber wohl doch überzeugend genug, um ihn wissen zu lassen, dass das jetzt nicht die endgültige Trennung bedeutet. Es ist nur eine Auszeit.

Er schluckt schwer. »Wie lange willst du bleiben?«

»Ich weiß es nicht. Ein paar Wochen vielleicht.«

Graham nickt, nimmt einen Schluck Kaffee und macht die Tür zu. »Wir haben noch Bonusmeilen. Wenn du mir sagst, wann du fliegen willst, buche ich den Flug.«