Dreiundzwanzig
DAMALS
Es ist unser letzter Abend im Strandhaus. Morgen fahren wir nach Connecticut zurück. Graham muss wegen eines Meetings nachmittags wieder in der Kanzlei sein, und ich habe noch einen Haufen Wäsche zu waschen, bevor ich Dienstag wieder arbeiten gehe. Wir würden beide am liebsten noch länger bleiben. Es war so friedlich und wunderschön mit Graham, dass ich mich jetzt schon darauf freue, mit ihm zurückzukommen. Und wenn ich meiner Mutter den ganzen nächsten Monat jeden noch so absurden Wunsch erfüllen muss, damit wir wieder hierherkommen können – für ein so absolut perfektes Wochenende bin ich gern bereit, selbst diesen Preis zu zahlen.
Heute ist es noch ein bisschen kälter als die beiden letzten Abende, was es irgendwie noch gemütlicher macht. Ich habe die Heizung im Haus aufgedreht. Wir bibbern jetzt schon seit ein paar Stunden an der Feuerstelle und kuscheln uns nachher zum Aufwärmen ins Bett. Das ist eine so schöne Routine, die ich niemals satthaben werde.
Ich komme aus der Küche, wo ich uns heiße Schokolade gemacht habe, reiche Graham seinen Becher und setze mich wieder neben ihn.
»Okay«, sagt er. »Du bist dran.«
Heute Morgen hat er erfahren, dass ich den Atlantik zwar gern anschaue, aber noch nie auch nur einen Fuß ins Wasser gesetzt habe. Das hat ihn auf die Idee gebracht, mir den ganzen Tag Fragen zu stellen, um noch mehr Unbekanntes aus mir herauszukitzeln. Mittlerweile ist ein Spiel daraus geworden und wir wechseln uns mit den Fragen ab.
An unserem allerersten Abend damals hat er gesagt, dass er ungern mit anderen über Religion oder Politik diskutiert. Aber jetzt sind wir seit sechs Monaten zusammen, und es wird langsam Zeit, dass wir uns auch in dieser Hinsicht kennenlernen. »Wir haben noch nie über Religion gesprochen«, sage ich. »Auch nicht über Politik. Sind das immer noch Tabuthemen?«
Graham hält sich den dampfenden Becher an die Lippen und saugt einen Marshmallow aus dem Kakao. »Was willst du wissen?«
»Bist du Republikaner oder Demokrat?«
Ohne zu überlegen, sagt er: »Weder noch. Ich kann mit Extremisten – egal auf welcher Seite – nichts anfangen, deswegen entscheide ich von Fall zu Fall.«
»So einer bist du also.«
Er neigt den Kopf. »Was für einer?«
»Einer, der in Gesprächen immer dieselbe Meinung vertritt wie der andere, nur um keinen Konflikt heraufzubeschwören.«
Graham hebt eine Braue. »Vertu dich da mal nicht. Ich habe sehr klare Meinungen, Quinn.«
Ich ziehe die Beine an und drehe mich zu ihm. »Dann lass mal hören.«
»Was willst du wissen?«
»Alles«, provoziere ich ihn. »Wie du zu den Waffengesetzen stehst. Zur Einwanderungsfrage. Zu Abtreibung. Zu allem.«
Er grinst, und ich liebe das Funkeln, das in seinen Augen zu sehen ist, als er tief Luft holt, um zu einer Antwort anzusetzen. Süß, dass ihm unser Spiel solchen Spaß macht.
»Okay, also los …« Er stellt seinen Becher auf dem kleinen Beistelltisch ab. »Ich bin nicht der Meinung, dass wir grundsätzlich allen Bürgern verbieten sollten, eine Waffe zu besitzen. Aber ich bin der Meinung, dass es ihnen verdammt schwer gemacht werden sollte, eine zu bekommen. Ich bin der Meinung, dass Frauen selbst entscheiden sollen, was sie mit ihrem Körper machen, allerdings nur innerhalb der ersten drei Monate oder wenn ein medizinischer oder juristischer Notfall vorliegt. Ich bin absolut der Meinung, dass der Staat die Pflicht hat, für finanziell benachteiligte Bürger zu sorgen, finde aber auch, dass es gleichzeitig ausreichend Angebote dafür geben muss, dass diese Menschen langfristig wieder auf die eigenen Beine kommen. Ich halte es für falsch, die Grenzen dichtzumachen, sondern bin der Ansicht, dass wir es Immigranten ermöglichen müssen, auf legalem Weg in unser Land zu kommen und hier zu leben, solange sie gemeldet sind und Steuern zahlen. In meinen Augen ist eine lebensrettende medizinische Versorgung ein Menschenrecht, kein Luxus, der nur den Reichen vorbehalten sein sollte. Jeder, der möchte, sollte die Möglichkeit haben zu studieren. Die Kosten dafür sollten zunächst vom Staat übernommen und nach Studienabschluss über einen Zeitraum von zwanzig Jahren zurückgezahlt werden. Ich finde, dass Profisportler zu viel verdienen und Lehrer zu wenig. Die NASA ist meiner Meinung nach unterfinanziert. Cannabis sollte legalisiert werden. Menschen sollen lieben dürfen, wen sie wollen, und WLAN sollte überall für alle frei verfügbar sein.« Er greift nach seinem Kakao und trinkt einen Schluck. »Und? Liebst du mich noch?«
»Sogar noch mehr als vor zwei Minuten.« Ich presse einen Kuss auf seine Schulter und er schlingt einen Arm um mich und zieht mich an sich.
»Uff. Ich hatte schon Angst, dass gleich alles vorbei ist.«
»Wiege dich nicht zu sehr in Sicherheit«, warne ich ihn. »Wir haben noch nicht über Religion gesprochen. Glaubst du an Gott?«
Graham löst den Blick von meinem und schaut aufs Meer. Er streichelt mit dem Daumen meine Schulter und denkt einen Moment nach. »Früher nicht.«
»Aber jetzt schon?«
»Ja. Jetzt schon.«
»Was ist passiert, dass du deine Meinung geändert hast?«
»Ein paar Dinge.« Er nickt in Richtung Atlantik. »Dieser Anblick zum Beispiel. Wie kann etwas so Großes und Ehrfurchteinflößendes existieren, wenn es nicht von etwas noch Größerem und Ehrfurchteinflößenderem erschaffen wurde?«
Wir blicken zusammen aufs Wasser. Als Graham wissen will, woran ich glaube, zucke ich mit den Schultern.
»Meine Mutter hat uns nicht besonders religiös erzogen, aber ich habe immer daran geglaubt, dass es irgendetwas geben muss, das größer ist als wir. Ich weiß nur nicht, was es ist. Was ja vermutlich niemand mit Sicherheit weiß.«
»Stimmt. Deswegen heißt es Glauben.«
»Und wie kann ein nüchterner Mathematiker seinen Glauben mit der Wissenschaft vereinbaren?«, frage ich.
Er grinst, als würde er sich freuen, über dieses Thema reden zu können. Ich finde es toll, dass Grahams innerer Nerd immer noch da ist und von Zeit zu Zeit zum Vorschein kommt.
»Weißt du, wie alt die Erde ist, Quinn?«
»Nein. Aber ich wette, du wirst es mir gleich sagen.«
»Viereinhalb Milliarden Jahre!« Seiner Stimme ist anzuhören, wie sehr ihn das Thema fasziniert. »Weißt du, wie lange es her ist, dass der Homo sapiens auf der Erde erschienen ist?«
»Keine Ahnung.«
»Uns Menschen gibt es erst seit zweihunderttausend Jahren«, sagt er. »Zweihunderttausend gegen viereinhalb Milliarden Jahre. Das muss man sich mal vorstellen.« Er nimmt meine Hand und legt sie sich auf den Oberschenkel. »Hier. Wenn man jedes einzelne Exemplar jeder einzelnen Spezies, die seit Entstehung der Erde existiert hat, auf deiner Hand darstellen würde, wäre die Menschheit mit bloßem Auge nicht mal zu erkennen, so kurz gibt es uns erst.« Er streicht über meine Hand und deutet auf eine winzige Sommersprosse. »Sämtliche Menschen, die je gelebt haben, mit all ihren Problemen und Sorgen, wären zusammengenommen noch nicht mal so groß wie diese Sommersprosse.« Er tippt darauf. »Du wärst nicht zu sehen, ich auch nicht … nicht mal Beyoncé!«
Ich lache.
»Gemessen an der Zeit, die es die Erde schon gibt, sind wir komplett bedeutungslos. Wir sind noch gar nicht lang genug hier, um uns irgendetwas auf uns einzubilden. Und trotzdem tun wir so, als würde alles nur um uns kreisen. Wir regen uns über die banalsten Dinge auf und stressen uns wegen irgendwelcher Problemchen, die dem Universum egal sind, dabei sollten wir der Evolution lieber dankbar sein, dass sie unserer Spezies die Chance gegeben hat, überhaupt so was wie Probleme zu haben. Irgendwann wird die Menschheit nämlich nicht mehr existieren. Die Geschichte wiederholt sich, wir sterben aus, und dann werden ganz andere Lebewesen auf der Erde zu Hause sein. Du und ich – wir sind Vertreter einer Spezies, die rückblickend viel weniger beeindruckend sein und vor allem weniger nachhaltig gelebt haben wird als die Dinosaurier. Wir haben nur unser Verfallsdatum noch nicht erreicht.«
Er verschränkt seine Finger mit meinen. »Angesichts unserer Bedeutungslosigkeit fand ich es immer schwer, an Gott zu glauben. Ich fand immer, die Frage müsste eher lauten: ›Könnte ein Gott an mich glauben?‹ Auf dieser Erde ist in den viereinhalb Milliarden Jahren ihres Bestehens so viel passiert, dass Gott wahrscheinlich einen Scheiß auf mich und meine Probleme geben würde. Aber in den letzten Monaten habe ich meine Meinung dazu geändert. Ich finde keine andere Erklärung dafür, dass du und ich auf demselben Planeten geboren wurden, derselben Spezies angehören, im selben Jahrhundert leben, im selben Land, demselben Bundesstaat, derselben Stadt und dann auch noch aus demselben Grund in demselben Hausflur vor derselben Tür aufeinandertreffen. Wenn Gott nicht an mich glauben würde, hieße das, dass unsere Begegnung bloß ein Zufall wäre. Mir das vorzustellen, fällt mir allerdings noch viel schwerer, als daran zu glauben, dass eine höhere Macht das alles genau so arrangiert hat.«
Wow.
Mir stockt der Atem.
Graham hat schon so viele schöne Dinge zu mir gesagt, aber das ist nicht nur schön – das ist pure Poesie. Das ist mehr als ein Ausdruck seiner Intelligenz – dass er klug ist, steht für mich außer Frage –, das ist ein Geschenk. Graham gibt mir dadurch einen Sinn. Mir, die ich mich noch nie zuvor für irgendjemanden besonders bedeutungsvoll oder gar lebenswichtig gefühlt habe.
»Ich liebe dich sehr, Graham Wells.« Mehr kann ich nicht sagen, weil nichts, was ich mir ausdenken könnte, mit dem mithalten kann. Deswegen versuche ich es gar nicht.
»Liebst du mich genug, um mich zu heiraten?«
Ich setze mich auf und starre ihn an.
Ist das ein ernst gemeinter Antrag?
Das kann er nicht geplant haben. Dazu kam die Frage zu spontan. Graham sieht mich weiter lächelnd an, aber wahrscheinlich lacht er gleich, und dann ist klar, dass ihm das bloß so rausgerutscht ist. Er hat ja auch keinen Ring.
»Graham …«
Er schiebt seine Hand unter die Decke, und als er sie wieder herauszieht, hält er einen Ring zwischen den Fingern. Keine edle Verpackung, kein Samtkästchen, kein großes Spektakel. Es ist nichts weiter als ein Ring. Ein Ring, den er offenbar seit Längerem in der Tasche mit sich herumgetragen hat, während er auf den richtigen Moment gewartet hat. Also war dieser Antrag sehr wohl geplant.
Ich lege beide Hände an den Mund. Sie zittern, weil ich mit so etwas überhaupt nicht gerechnet hatte und weil ich sprachlos bin und weil ich Angst habe, nicht antworten zu können, aber irgendwie schaffe ich es, »Oh mein Gott« zu flüstern.
Graham zieht meine linke Hand von meinem Mund und hält den Ring an meinen Finger, ohne ihn mir überzustreifen. Stattdessen neigt er den Kopf, damit ich ihn anschaue. Sein Blick ist offen und voller Hoffnung. »Ich möchte, dass du meine Frau wirst, Quinn. Lass uns gemeinsam Hurrikans der Stärke fünf durchstehen.«
Noch bevor er den Satz beendet hat, nicke ich. Ich nicke, weil ich weiß, dass ich weinen müsste, wenn ich versuchen würde, »Ja« zu sagen. Ich kann nicht glauben, dass er es tatsächlich geschafft hat, dieses wunderschöne, perfekte Wochenende noch perfekter zu machen.
Er atmet mit einem erleichterten Lachen aus, und als er mir den Ring über den Finger streift, beißt er sich auf die Lippe, als würde er sich nicht anmerken lassen wollen, dass ihn Rührung überkommt.
»Ich habe lange überlegt, was für einen Ring ich dir schenken sollte«, sagt er. »Aber als der Juwelier mir gesagt hat, dass ein Ehering für eine Verbindung steht, die kein Ende hat, wollte ich den Kreis nicht mit einem Stein durchbrechen. Ich hoffe, er gefällt dir.«
Es ist ein schmaler, schlichter goldener Ring. Er spiegelt nicht wider, wie viel Geld Graham hat oder nicht hat. Er spiegelt seinen Glauben daran wider, wie lang unsere Ehe halten wird. Eine Ewigkeit.
»Er ist perfekt, Graham.«