Sechsundzwanzig


JETZT

Morgen bin ich schon drei Wochen bei Ava. Grahams Stimme habe ich das letzte Mal gehört, als er mich zum Flughafen gebracht hat. Letzte Woche hat er angerufen, aber ich bin nicht ans Handy gegangen. Ich habe ihm geschrieben, dass ich noch Zeit brauche, um nachzudenken. Er hat geantwortet: Ruf mich an, wenn du so weit bist. Seitdem hat er sich nicht mehr gemeldet, und ich bin immer noch nicht so weit, ihn anzurufen.

Trotz meiner Traurigkeit fühle ich mich bei Ava und Reid sehr wohl. Ich weiß nicht, ob es daran liegt, dass alles so neu und exotisch für mich ist, oder daran, dass meine Probleme so weit weg sind. Gesehen habe ich noch nicht besonders viel von Italien, weil ich mich nur langsam erhole. Die OP-Narbe tut manchmal noch weh und ich bin so schwach wie noch nie in meinem Leben. Aber es ist total schön und entspannend bei Ava und Reid, weshalb es mir nichts ausmacht, die meiste Zeit zu Hause zu verbringen und mich zu schonen. Ich bin froh, endlich mal wieder richtig Zeit mit meiner Schwester zu haben, sodass es mir trotz aller schrecklichen Umstände fast gut geht.

Gleichzeitig vermisse ich Graham. Den Graham, mit dem ich verheiratet war, als ich noch eine glücklichere Version meiner selbst gewesen bin. Am Anfang unserer Beziehung haben wir besser zueinandergepasst als jetzt. Wie Puzzlestücke, die im Laufe der Jahre ihre Form verändert haben – ich mehr als Graham. Aber auch wenn ich inzwischen glaube, dass ich am Scheitern unserer Beziehung letztlich eine größere Schuld trage als er, ändert das nichts daran, dass ziemlich klar ist, wie es mit uns weitergehen wird.

Der Tapetenwechsel war genau das, was ich mir gewünscht und gebraucht habe. Ich habe mit Ava offen über alles gesprochen. Meine Schwester hat die tolle Eigenschaft, anderen zuzuhören, statt Ratschläge zu geben. Die brauche ich auch nicht. Ratschläge ändern nichts an meinen Gefühlen. Ratschläge ändern nichts daran, dass jetzt endgültig feststeht, dass ich niemals eigene Kinder bekommen werde. Ratschläge ändern nichts daran, dass Graham gesagt hat, es mache ihn verdammt fertig, dass es bei uns einfach nicht klappt. Ratschläge sind nur gut für das Ego desjenigen, der sie gibt. Statt mir Ratschläge zu geben, lenkt Ava mich ab. Nicht nur von Graham, sondern auch von unserer Mutter. Von meinem Job. Von der Unfruchtbarkeit. Von Connecticut. Von meinem bisherigen Leben.

»Und die da?« Ava hält eine Farbkarte aus dem Baumarkt in die Höhe.

Ich schüttle den Kopf. »Zu … kanariengelb.«

Sie schaut auf die Rückseite der Karte und lacht. »Gut erkannt. Genauso heißt sie auch. Canary.«

Reid geht zum Herd, hebt den Deckel vom Topf und schnuppert an der Pastasoße. Ich sitze mit Ava, die gerade die Wandfarbe für das Kinderzimmer aussucht, an der Theke. »Wenn wir wüssten, was es wird, wäre es einfacher, eine passende Farbe auszusuchen«, sagt Reid. Er setzt den Deckel wieder auf, angelt eine Nudel aus dem zweiten Topf, probiert sie, nickt zufrieden und schaltet dann den Herd aus.

»Nichts da!« Ava rutscht von ihrem Hocker. »Wir waren uns einig, dass wir uns überraschen lassen. Es sind nur noch zehn Wochen. Das hältst du aus.« Sie nimmt drei Teller aus dem Schrank und deckt den Tisch. Ich hole Besteck und Servietten, während Reid die Pasta abgießt und zusammen mit der Soße zum Tisch bringt.

Keiner der beiden hat mir bisher das Gefühl gegeben, ich würde ihre Gastfreundschaft womöglich überstrapazieren, trotzdem sollte ich wohl langsam wieder an meine Abreise denken. Drei Wochen sind eine lange Zeit. »Ich schaue morgen mal, ob ich für Ende der Woche einen Rückflug bekomme«, sage ich und lade mir Spaghetti auf den Teller.

»Aber denk bitte nicht, du wärst uns lästig«, sagt Reid sofort. »Ich finde es schön, dass du hier bist. Außerdem kann ich dann beruhigter wegfahren.«

Reid ist zwei bis drei Tage pro Woche geschäftlich unterwegs und lässt die hochschwangere Ava nicht gern allein. »Ich wüsste nicht, wieso meine Anwesenheit beruhigend sein sollte. Ava ist viel mutiger als ich.«

»Das stimmt«, sagt sie. »An Halloween sind wir mal Freddy Krueger auf der Straße begegnet, und als er seine Messerfinger nach uns ausgestreckt hat, hat Quinn mich aus lauter Angst in seine Richtung geschubst und ist davongerannt.«

»Stimmt nicht«, sage ich. »Ich habe dich in die Richtung von Jason Voorhees geschubst.«

»Jedenfalls wäre ich fast ermordet worden«, sagt Ava.

»Kommst du dann in zwei Monaten noch mal her, wenn das Baby da ist?«

»Natürlich.«

»Dann bring doch nächstes Mal Graham mit«, sagt Reid. »Der fehlt mir hier.«

An dem Blick, den Ava mir zuwirft, erkenne ich, dass sie Reid nichts von unseren Problemen erzählt hat, wofür ich ihr sehr dankbar bin.

Während ich Spaghetti auf die Gabel drehe, denke ich darüber nach, wie einsam ich mich gefühlt habe, als Ava und Reid aus Connecticut weggezogen sind. Mir wird zum ersten Mal klar, dass das für Graham auch nicht einfach gewesen sein kann. Reid und er haben sich super verstanden, er hat also einen richtig guten Kumpel verloren. Vielleicht sogar seinen engsten Freund seit Tanner. Trotzdem hat er nie auch nur ein Wort darüber verloren, weil meine Traurigkeit unser Haus vom Boden bis zur Decke gefüllt hat, sodass für seine Traurigkeit kein Platz mehr gewesen ist. Was Graham mir wohl noch alles nicht erzählt hat, weil er mich nicht mit seinen Sorgen belasten wollte?

Nach dem Essen spüle ich ab. Reid und Ava sitzen am Tisch und besprechen weiter Einrichtungsideen fürs Kinderzimmer, als es an der Tür klingelt.

»Wer kann das sein?«, fragt Ava. »Um diese Zeit? Komisch.«

Reid nickt. »Absolut.«

»Bekommt ihr nie Besuch?«

Reid schiebt seinen Stuhl zurück und steht auf. »Jedenfalls keinen unerwarteten. Wir haben zwar ein paar Bekannte, aber die kennen wir nicht so gut, dass sie spontan vorbeikommen würden.« Er geht zur Tür und Ava und ich schauen ihm gespannt hinterher.

Es ist jemand, mit dem ich als Allerletztes gerechnet hätte.

Die Hände im Spülwasser, stehe ich wie erstarrt da, als Reid mit Graham in die Küche zurückkommt. Reid trägt seinen Koffer und Grahams Blick schweift durch den Raum.

Als er mich entdeckt, ist es, als würde sich sein gesamter Körper entspannen. Reid strahlt und blickt erwartungsvoll zwischen uns hin und her. Aber wir stürmen nicht aufeinander zu und fallen uns in die Arme. Wir sehen uns nur schweigend an. Ein bisschen zu lang. Lang genug für Reid, um die Anspannung zu spüren.

Er räuspert sich und greift wieder nach Grahams Koffer. »Ich äh … ich stell den mal ins Gästezimmer.«

»Ich helfe dir«, sagt Ava und steht schnell auf. Als die beiden im Flur verschwunden sind, löse ich mich schließlich so weit aus meiner Schockstarre, dass ich die Hände aus dem Spülwasser nehmen und an einem Küchenhandtuch abtrocknen kann. Graham geht einen Schritt auf mich zu.

Mein Herz hämmert gegen meine Rippen. Mir ist nicht bewusst gewesen, wie sehr ich ihn vermisst habe, aber ich glaube nicht, dass das der Grund ist, warum mein Herz so heftig schlägt. Es schlägt, weil seine Anwesenheit Konfrontation bedeutet. Und Konfrontation bedeutet Entscheidung. Ich weiß nicht, ob ich dafür schon bereit bin. Das ist der einzige Grund, warum ich mich einen halben Erdball von ihm entfernt im Haus meiner Schwester verschanzt habe.

»Hey«, sagt er. Es ist so ein schlichtes Wort, aber es fühlt sich bedeutungsschwerer an als alles, was er je zu mir gesagt hat. So ist das wohl, wenn man fast drei Wochen lang nicht mit seinem Mann gesprochen hat.

»Hey«, antworte ich zurückhaltend. Und die Umarmung, die ich ihm schließlich gebe, fällt noch zurückhaltender aus. Sie ist so flüchtig, dass ich sie am liebsten wiederholen und ganz anders machen würde, aber stattdessen greife ich ins Spülbecken und ziehe den Stöpsel. »Das ist … eine Überraschung.«

Graham nickt und lehnt sich neben mich an die Spüle. Er sieht sich kurz in der offenen Küche und im angrenzenden Wohnzimmer um, bevor er seinen Blick wieder auf mich richtet. »Wie geht es dir?«

Ich nicke. »Ganz gut. Es tut immer noch manchmal weh, aber ich habe mich hier echt gut erholt.« Überraschenderweise fühle ich mich wirklich gut. »Ich hatte damit gerechnet, dass ich in ein tiefes schwarzes Loch fallen würde, aber wahrscheinlich hatte ich mich schon damit abgefunden, dass meine Gebärmutter nutzlos ist, deswegen macht es auch keinen Unterschied mehr, dass sie jetzt weg ist.«

Graham sieht mich stumm an und scheint nicht zu wissen, wie er darauf reagieren soll. Eigentlich hatte ich keine Reaktion erwartet, aber sein Schweigen macht mich trotzdem wütend. So wütend, dass ich schreien möchte. Ich weiß nicht, was er hier will. Ich weiß nicht, was ich sagen soll. Ich bin wütend, dass er ohne Vorwarnung einfach so hier aufgetaucht ist, und wütend, dass ich mich freue, ihn zu sehen.

Ich drehe mich um, wische mir mit dem Unterarm über die Stirn und presse meinen Rücken an die Arbeitsplatte.

»Was willst du hier, Graham?«

Er kommt einen Schritt näher und sieht mich ernst an. »Ich halte das keinen Tag länger aus, Quinn.« Seine Stimme ist leise, fast flehend. »Du musst eine Entscheidung treffen. Entweder verlässt du mich oder du kommst mit mir nach Hause.« Er streckt die Arme aus und zieht mich an sich. »Komm mit mir nach Hause«, wiederholt er flüsternd.

Ich schließe die Augen und atme seinen Geruch ein. Wie gerne würde ich sagen, dass ich ihm verzeihe. Dass ich ihm nicht vorwerfe, was passiert ist.

Dass er eine andere Frau geküsst hat, ist schlimm für mich, keine Frage. Es ist das Schlimmste, was er mir je angetan hat. Aber ich bin nicht unschuldig daran, dass es so weit gekommen ist.

Meine Sorge ist nicht, ob ich ihm verzeihen kann. Meine Sorge ist, wie es weitergehen soll, nachdem ich ihm verziehen habe. Wir hatten schon Probleme, bevor er eine andere Frau geküsst hat. Und diese Probleme lösen sich nicht in Luft auf, wenn ich ihm verzeihe. An dem Abend, an dem ich das Baby verloren habe, haben Graham und ich uns nur wegen dieser Küsse gestritten. Aber wenn wir heute Abend die Schleusen öffnen, dann … geht es um alles. Dann müssen wir über das Problem reden, das der Grund für alle anderen Probleme ist und das zu dem Problem geführt hat, wegen dem ich hierhergeflohen bin. Das ist das Gespräch, vor dem ich mich schon so lange drücke.

Das Gespräch, vor dem ich mich jetzt nicht mehr drücken kann, weil er um die halbe Welt geflogen ist, um mich damit zu konfrontieren.

Ich löse mich von ihm und sehe ihn an, aber bevor er etwas sagen kann, kommen Reid und Ava zurück. »Wir gehen noch mal um den Block, ein Eis essen«, sagt Ava und zieht ihre Jacke an.

Reid öffnet die Haustür. »Ich schätze, wir sind in einer Stunde zurück.«

Die Tür fällt zu und Graham und ich stehen allein in ihrem Haus – Tausende Meilen von unserem Zuhause entfernt, wo wir uns so lange so bequem aus dem Weg gehen konnten.

»Du bist sicher müde vom Flug«, sage ich. »Willst du dich vielleicht erst mal hinlegen? Oder was essen?«

»Mir geht es gut«, sagt er schnell.

Ich nicke, weil mir bewusst wird, dass es sich nicht mehr länger vermeiden lässt. Das Gespräch steht jetzt unmittelbar bevor. Er möchte vorher noch nicht einmal etwas essen oder trinken. Und mir bleibt nur, so zu tun, als würde ich darüber nachdenken, ob ich mit ihm reden oder einfach wegrennen will, um es noch weiter aufzuschieben. Die Anspannung zwischen uns war noch nie so groß, während wir schweigend abwarten, wer den ersten Schritt tut.

Schließlich geht Graham zum Esstisch. Ich folge ihm und setze mich ihm gegenüber. Er legt die Arme verschränkt vor sich auf die Tischplatte und schaut mich an.

Er sieht so gut aus. Wenn ich mich in den letzten Jahren von ihm abgewendet habe, dann nie, weil ich mich körperlich nicht von ihm angezogen gefühlt hätte. Das war nie das Problem. Selbst jetzt nach der anstrengenden Reise finde ich ihn noch anziehender als an dem Tag, an dem ich ihn kennengelernt habe. In der Beziehung haben Männer Glück. Mit dreißig oder vierzig sehen sie sogar noch männlicher und attraktiver aus als auf dem Höhepunkt ihrer Jugend.

Außerdem hat Graham immer sehr auf sich geachtet. Er steht jeden Morgen zur selben Zeit auf und geht laufen. Ich finde das toll, nicht nur, dass er in Form bleiben will, sondern auch, dass er anderen gegenüber nie ein Wort darüber verliert. Graham ist nicht der Typ, der irgendwem etwas beweisen muss oder sein tägliches Lauftraining zum Weitpinkelwettbewerb mit seinen Freunden macht. Er läuft für sich selbst und für niemand anderen und dafür liebe ich ihn.

Wie er mir jetzt gegenübersitzt, muss ich daran denken, wie er mir am Morgen nach unserer Hochzeit gegenübersaß. Sehr müde. Wir hatten beide kaum geschlafen, und er sah aus, als wäre er über Nacht fünf Jahre gealtert, die Haare verstrubbelt, die Augen leicht geschwollen vom Schlafmangel. Aber wenigstens sah er damals glücklich und müde aus.

Jetzt sieht er nur traurig und müde aus.

Graham presst Handflächen und Fingerspitzen aneinander und legt sie an die Lippen. Er wirkt nervös, scheint aber definitiv bereit, es hinter sich zu bringen. »Also. Was denkst du?«

Ich hasse dieses Gefühl in mir. Als wären all meine Befürchtungen und Ängste zu einer Flipperkugel zusammengedrückt, die jetzt in mir herumklackert, von meinem Herzen abprallt, meinen Lungenflügeln, meinem Magen, meiner Kehle. Die meine Hände so zittern lässt, dass ich sie ineinander verschränke, um sie ruhigzustellen.

»Ich denke nach«, beantworte ich seine Frage. »Ich denke darüber nach, wo du Fehler gemacht hast und wo ich welche gemacht habe.« Ich atme schnell aus. »Ich denke darüber nach, wie richtig sich das mit uns lange angefühlt hat und wie sehr ich mir wünschte, es würde sich immer noch so anfühlen.«

»Wir können wieder dahin zurück, Quinn. Ich weiß, dass wir das können.«

Er klingt so hoffnungsvoll. Und so naiv.

»Wie?«

Aber er hat keine Antwort. Vielleicht liegt es ja daran, dass er im Gegensatz zu mir nicht das Gefühl hat, kaputt zu sein. Alles, was in unserer Ehe kaputtgegangen ist, hat mit mir zu tun, und das kann Graham nicht richten. Wenn er unser Sexleben irgendwie wieder zum Laufen bringen könnte, würde ihm das wahrscheinlich reichen, um ein paar weitere Jahre durchzuhalten.

»Denkst du, wir sollten öfter miteinander schlafen?« Graham sieht fast beleidigt aus, als ich das frage. »Das würde dich doch glücklicher machen, oder?«

Er beschreibt mit dem Zeigefinger eine unsichtbare Linie auf dem Tisch und hält den Blick gesenkt. »Es wäre gelogen zu behaupten, ich wäre mit unserem Sexleben in den letzten Jahren glücklich gewesen. Aber das war weiß Gott nicht das Einzige, von dem ich mir wünschen würde, es wäre anders. Ich wünsche mir vor allem – mehr als alles andere –, dass du meine Frau sein willst.«

»Nein, du möchtest, dass ich die Frau bin, die ich früher war. Ich glaube nicht, dass du mich so willst, wie ich jetzt bin.«

Graham sieht mich einen Moment lang an. »Vielleicht hast du recht. Ist es so verwerflich, dass ich die Zeiten vermisse, in denen ich noch davon überzeugt war, dass du mich liebst? In denen du dich noch gefreut hast, mich zu sehen? In denen du mit mir geschlafen hast, weil du Lust auf mich hattest, und nicht, weil du schwanger werden wolltest?« Er beugt sich vor, den Blick fest auf mich geheftet. »Wir können keine Kinder bekommen, Quinn. Und weißt du was? Für mich ist das okay. Ich habe dich nicht wegen der potenziellen Kinder geheiratet, die wir eines Tages vielleicht bekommen hätten. Ich habe mich in dich verliebt und dich geheiratet, weil ich den Rest meines Lebens mit dir verbringen will. Das war das Einzige, worum es mir ging. Aber allmählich ahne ich, dass das bei dir nicht so war und du mich vielleicht aus anderen Gründen geheiratet hast.«

»Das ist nicht fair«, sage ich leise. Graham kann mir nicht ernsthaft unterstellen, ich hätte ihn nicht geheiratet, wenn ich gewusst hätte, dass wir keine Kinder haben können. Genauso wenig kann er jetzt behaupten, er hätte mich auch dann geheiratet, wenn er es vorher gewusst hätte. Kein Mensch kann mit Sicherheit voraussagen, wie er sich in einer Situation verhalten würde, in der er noch nie gewesen ist.

Graham steht auf, geht zum Kühlschrank und nimmt eine Flasche Wasser heraus. Während er trinkt, bleibe ich stumm sitzen. Ich warte darauf, dass er zurückkommt und weiterredet, weil ich noch nicht bereit bin, irgendwie zu reagieren. Erst muss ich genau wissen, was in ihm vorgeht, bevor ich entscheide, was ich dazu sagen kann. Was ich tun kann. Nachdem er sich wieder gesetzt hat, greift er über die Tischplatte und legt seine Hand auf meine.

»Ich würde dir niemals auch nur die kleinste Mitverantwortung an dem geben, was ich getan habe«, sagt er sehr ernst. »Ich habe diese Frau geküsst und das hätte ich nicht tun dürfen. Ganz klar. Dass es passiert ist, ist allerdings nur eines der Probleme, die wir haben, und ich bin nicht an allen Problemen schuld. Aber ich kann nichts tun und dir vor allem nicht helfen, solange du mir nicht sagst, was in dir vorgeht.« Er zieht meine Hand näher zu sich und umfasst sie mit seinen. »Ich weiß, dass du in den letzten Wochen meinetwegen durch die Hölle gegangen bist, und du musst mir glauben, dass mir das wahnsinnig leidtut. Mehr, als du ahnst. Trotzdem frage ich dich: Meinst du, du kannst mir verzeihen, dass ich dir das schlimmste überhaupt Vorstellbare angetan habe? Wenn ja, glaube ich daran, dass wir alles andere auch irgendwie überstehen können. Ich weiß, dass wir es können.«

In seinem Blick liegt so viel Hoffnung. Und die nehme ich ihm sogar ab, wenn er allen Ernstes glaubt, die Tatsache, dass er eine andere Frau geküsst hat, wäre das Schlimmste, was mir je passiert ist.

Wenn ich nicht so aufgebracht wäre, würde ich jetzt lachen. Ich ziehe meine Hand weg.

Ich stehe auf.

Ich versuche, Luft zu holen, aber ich habe nicht gewusst, dass Wut sich in der Lunge festsetzt.

Als ich schließlich in der Lage bin zu antworten, spreche ich sehr ruhig und bedächtig, denn wenn es etwas gibt, das Graham verstehen sollte, dann das, was ich ihm jetzt sagen werde. Ich beuge mich zu ihm vor, stütze mich auf die Tischplatte und sehe ihm fest in die Augen.

»Dass du glaubst, was du mit dieser Frau gemacht hast, wäre das Schlimmste, was mir je passiert ist, beweist, dass du keine Ahnung hast, was ich durchgemacht habe. Du hast keine Ahnung, wie es ist, keine Kinder bekommen zu können. Und das liegt daran, dass du Kinder bekommen kannst, Graham. Ich nicht. Das darfst du nicht verwechseln. Du kannst mit einer anderen Frau schlafen und mit ihr ein Kind bekommen. Ich kann nicht mit einem anderen Mann schlafen und ein Kind bekommen.« Ich drücke mich vom Tisch ab und drehe ihm den Rücken zu. Eigentlich hatte ich vor, mich kurz zu sammeln, bevor ich weiterrede, aber anscheinend brauche ich das nicht, ich drehe mich nämlich sofort wieder zu ihm um. »Und ich habe immer so gern mit dir geschlafen, Graham. Es hatte nichts damit zu tun, dass ich dich nicht mehr begehrt habe. Es ging um das, was danach kam. Dass du diese Frau geküsst hast, ist mir egal. Das ist nichts gegen den Schmerz, den ich Monat für Monat für Monat erlebt habe, wenn wir miteinander geschlafen haben und das Einzige, was dabei rausgekommen ist, ein Orgasmus war. Ein Orgasmus! Toll! Aber wie hätte ich dir das sagen können? Wie hätte ich dir sagen sollen, dass ich deine Umarmungen und deine Küsse und Berührungen immer weniger ertragen habe, weil sie zwangsläufig das Vorspiel zum schlimmsten Tag meines Lebens waren, den ich, verdammt noch mal, alle achtundzwanzig Tage erleben musste!« Ich dränge mich an ihm vorbei. »Scheiß auf dich und diese Frau, Graham. Eure Affäre ist mir scheißegal!«

Ohne mich noch einmal umzudrehen, gehe ich zum Spülbecken. Ich will ihn jetzt nicht anschauen. Ich habe noch nie so ehrlich ausgesprochen, was ich fühle, und habe Angst vor dem, was das in ihm auslöst. Gleichzeitig habe ich auch Angst, dass es mir vielleicht egal ist, was es in ihm auslöst.

Ich weiß nicht, warum ich ihn mit etwas konfrontiere, das jetzt sowieso keine Rolle mehr spielt. Ich kann nie mehr schwanger werden, das ist ein für alle Mal vorbei. Was bringt es da noch, sich Dinge an den Kopf zu werfen, die Schnee von gestern sind?

Ich gieße mir ein Glas Wasser ein, trinke und versuche, mich zu beruhigen.

Ein paar stille Sekunden vergehen, bevor Graham aufsteht. Er kommt zu mir, lehnt sich mir gegenüber an die Theke und überkreuzt die Füße. Als ich den Mut aufbringe, ihm in die Augen zu sehen, überrascht mich sein Blick. Obwohl das, was ich gerade gesagt habe, ziemlich krass war, sieht er nicht aus, als würde er mich hassen.

Wir starren uns an, voll von Gefühlen, die wir nie so lange in uns hätten aufstauen dürfen. Graham wirkt nicht feindselig, aber er kommt mir völlig ausgepowert vor – als wären meine Wörter von eben Stecknadeln gewesen, mit denen ich Löcher in ihn gestochen hätte, durch die alle Energie aus ihm entwichen ist.

An seiner erschöpften Miene erkenne ich, dass er jetzt endgültig aufgegeben hat. Ich kann es ihm nicht verdenken. Warum sollte man weiter um jemanden kämpfen, der seinerseits nicht mehr um einen kämpft?

Graham schließt die Augen und massiert sich mit Daumen und Zeigefinger den Nasenrücken. Er atmet ein paarmal tief durch, verschränkt dann die Arme vor der Brust und schüttelt den Kopf, als würde er endlich etwas begreifen, was er nie begreifen wollte.

»Ganz egal, wie viel Mühe ich mir gebe … ganz egal, wie sehr ich dich liebe … das, was du dir immer von mir gewünscht hast, kann ich nicht sein, Quinn. Ich kann niemals der Vater deiner Kinder sein.«

Aus meinem Augenwinkel fällt eine Träne. Und noch eine, aber ich bleibe steif stehen, als er einen Schritt auf mich zumacht.

»Wenn unsere Ehe nur das wäre … wenn das alles wäre, was sie je sein würde … wenn da nur du und ich wären – würde dir das genügen, Quinn? Genüge ich dir?«

Ich bin geschockt.

Sprachlos.

Sehe ihn ungläubig an. Bin unfähig zu antworten. Nicht, weil ich es nicht könnte. Ich kenne die Antwort auf seine Frage. Ich habe sie immer gekannt. Aber ich sage nichts, weil ich nicht weiß, ob ich sie beantworten sollte.

Die folgende Stille führt zum größten Missverständnis, das es in unserer Ehe je gegeben hat. Grahams Kiefermuskeln verhärten sich. Seine Augen verhärten sich. Alles – sogar sein Herz – verhärtet sich. Er wendet den Blick von mir ab, weil mein Schweigen für ihn etwas anderes bedeutet als für mich.

Er dreht sich um und geht aus der Küche. Wahrscheinlich will er seinen Koffer holen. Ich zwinge mich, ihm nicht hinterherzurennen und ihn anzuflehen, er solle bleiben. Am liebsten würde ich vor ihm auf die Knie fallen und ihm sagen, dass ich, hätte man mich an unserem Hochzeitstag gezwungen, mich für ein Leben mit Kindern oder mit ihm zu entscheiden, mich ohne jedes Zögern für ihn entschieden hätte. Ich kann nicht glauben, dass unsere Ehe an diesen Punkt gekommen ist. An den Punkt, an dem mein Schweigen Graham zu der Überzeugung kommen lässt, dass er mir nicht genügt. Nein! Das ist nicht das Problem.

Das Problem ist, dass er so viel mehr haben könnte … wenn ich nicht wäre. Ich atme zitternd aus, drehe mich um und stütze mich auf die Arbeitsplatte. Zu wissen, was ich ihm antue, schmerzt so, dass ich am ganzen Körper zittere.

Als Graham wiederkommt, hat er nicht seinen Koffer geholt. Er hat etwas anderes geholt.

Die Holzschatulle.

Er hat die Schatulle mitgebracht?

Jetzt stellt er sie neben mich auf die Theke. »Wenn du mich nicht davon abhältst, mache ich sie jetzt auf.«

Ich beuge mich vor, lege die Arme auf die Theke und berge mein Gesicht darin. Ich halte ihn nicht davon ab. Ich kann nur weinen. So weinen, wie ich es aus meinen Träumen kenne. Ein Weinen, das so wehtut, dass ich noch nicht mal ein Geräusch von mir geben kann.

»Quinn …« Grahams Stimme hat beinahe etwas Flehendes. Ich kneife die Augen fest zu. »Quinn.« Jetzt flüstert er meinen Namen. Als ich weiter schweige, höre ich, wie er die Schatulle zu mir schiebt. Höre, wie er den Schlüssel ins Vorhängeschloss steckt. Höre, wie er es aufschließt und abnimmt. Aber statt es auf die Theke zu legen, schleudert er es gegen die Wand.

Er ist auf einmal voller Wut.

»Schau mich an.«

Ich schüttle den Kopf. Ich will ihn jetzt nicht anschauen. Ich will mich nicht daran erinnern, wie es war, als wir vor Jahren zusammen vor der Schatulle saßen und den Deckel zugeklappt haben.

Er fährt mit einer Hand durch meine Haare, beugt sich zu mir und bringt seine Lippen dicht an mein Ohr. »Der Deckel wird nicht von selbst aufgehen, und falls du denkst, dass ich ihn öffne, irrst du dich.«

Dann ist seine Hand weg. Seine Lippen sind weg. Er schiebt die Schatulle zu mir hin, bis sie meinen Arm berührt.

Es gab bisher nur wenige Situationen, in denen ich vor ihm so sehr geweint habe wie jetzt. Die drei Male, als es mit der In-Vitro-Fertilisation nicht geklappt hat. Der Abend, an dem er mir gestanden hat, dass er die andere Frau geküsst hat. Und zuletzt, als ich erfahren habe, dass sie mir die Gebärmutter entfernt haben. Jedes Mal hat Graham mich in die Arme genommen. Sogar als er der Grund für meine Tränen war.

Diesmal ist der Schmerz schlimmer als je zuvor. Er ist so übermächtig, dass ich nicht weiß, ob ich stark genug bin, ihn ganz allein durchzustehen.

Und als würde Graham das spüren, schließt er die Arme um mich. Zieht mich liebevoll, fürsorglich und selbstlos, wie er ist, an sich, obwohl wir doch im Krieg sind und an gegenüberliegenden Fronten stehen. Ich presse mein Gesicht an seine Brust und es zerreißt mich.

Zerreißt mich in tausend Teile.

In meinem Kopf spielen immer wieder nur die gleichen Sätze in Dauerschleife, seit ich sie gehört habe.

»Du bist der geborene Vater, Graham.«

»Ich weiß. Es macht mich auch verdammt fertig, dass es bei uns noch nicht geklappt hat.«

Ich drücke einen Kuss auf Grahams Brust und flüstere an seinem Herzen ein stummes Versprechen. Eines Tages wird es bei dir klappen, Graham. Eines Tages wirst du es verstehen.

Dann löse ich mich von ihm.

Und öffne die Schatulle.

Es ist so weit.

Wir beenden den Tanz.