Siebzehn
DAMALS
Unzertrennlich.
Das beschreibt, was wir sind.
Mittlerweile ist es zweieinhalb Monate her, dass ich ihm an dem Abend im Restaurant angeblich diesen »Blick« zugeworfen habe.
Obwohl wir, wenn wir nicht gerade arbeiten, jede wache Minute zusammen verbringen, vermisse ich ihn, sobald er mal nicht da ist. Ich habe mich in meinem ganzen Leben noch nie so sehr auf einen anderen Menschen eingelassen. Ich hätte nicht gedacht, dass das überhaupt möglich ist. Aber es fühlt sich nicht an, als wären wir auf ungesunde Art aufeinander fixiert, weil Graham mir meinen Raum lässt, wenn ich ihn brauche. Ich habe nur nicht das Gefühl, diesen Raum zu brauchen. Graham ist nicht besitzergreifend oder überfürsorglich. Und ich bin nicht eifersüchtig und klammere auch nicht. Es ist einfach so, dass mir die Zeit, die wir miteinander verbringen, wie eine berauschende Auszeit vom normalen Leben erscheint, und dieses Gefühl will ich auskosten, wann immer es geht.
In den letzten zehn Wochen haben wir nur eine einzige Nacht getrennt voneinander verbracht. Ava und Reid hatten einen schlimmen Streit, weshalb sie bei mir übernachtet hat. Wir haben uns mit Süßigkeiten und Fastfood vollgestopft, über Männer gelästert und hatten – so deprimierend der Anlass auch war – einen Riesenspaß, aber fünf Minuten nachdem sie zur Tür raus war, habe ich mir mein Handy gegriffen und Graham angerufen. Zwanzig Minuten später klingelte es an meiner Tür. Einundzwanzig Minuten später fielen wir übereinander her.
Seit zehn Wochen besteht unser Leben praktisch aus nichts anderem als aus Sex, Lachen, Sex, Essen, Sex, Lachen und noch mehr Sex.
Graham macht schon Witze darüber, dass wir wahrscheinlich bald genug davon haben, aber der Punkt scheint zumindest heute längst noch nicht erreicht zu sein.
»Jesus, Quinn«, stöhnt er an meinem Hals, als er sich erschöpft auf mich sinken lässt. »Das ist Wahnsinn.« Er ist völlig außer Atem, genau wie ich.
Eigentlich war das so nicht geplant. Es ist Halloween und Ava und Reid machen eine Party, auf die wir eingeladen sind, aber Graham fand mich in meinem ultrakurzen T-Shirt-Kleid so unwiderstehlich, dass er die Hände nicht von mir lassen konnte. Wir haben es noch in den Hausflur geschafft, aber vor dem Aufzug übermannte es uns und Graham musste mich ins Apartment zurücktragen, weil wir sonst wegen exhibitionistischer Aktivitäten verhaftet worden wären.
Graham hat auf der Partnerkostümierung bestanden, die ich im August vorgeschlagen hatte, deshalb gehen wir als sexy Versionen von uns selbst. Unser Kostüm besteht hauptsächlich daraus, dass wir beide viel Haut zeigen. Ich bin zusätzlich noch krass geschminkt. Grahams Aufgabe wird vor allem darin bestehen, den ganzen Abend an mir rumzufummeln.
Aber jetzt liegen unsere sexy Klamotten auf dem Boden und mein Minikleid hat einen Riss, der vorher nicht da war. Warum braucht der bescheuerte Aufzug auch immer so lang?
Graham beugt sich über mich und haucht mir Küsse auf den Hals, bis ich eine Gänsehaut habe. »Wann darf ich eigentlich endlich mal deine Mutter kennenlernen?«
Meine Partystimmung ist schlagartig dahin. »Nie? Jedenfalls nicht, wenn ich es irgendwie verhindern kann.«
Graham stützt sich auf die Ellbogen und schaut mich an. »Ach komm, so schlimm kann sie nicht sein.«
Ich lache sarkastisch. »Du sprichst von der Frau, die Wörter wie Vermählung auf meine Hochzeitseinladungen geschrieben hat.«
»Hast du mich anhand meiner Eltern beurteilt?«
Ich habe seine Eltern sofort geliebt. »Nein, aber ich habe sie an dem Tag kennengelernt, an dem wir zusammengekommen sind. Da kannte ich dich noch nicht gut genug, um dich zu beurteilen.«
»Oh doch, du kanntest mich, Quinn. Du wusstest nichts über mich, aber du kanntest mich.«
»Ach, glaubst du, ja?«
Er lacht. »Ja. Als wir uns bei Ethan im Hausflur gesehen haben, haben wir uns sofort erkannt. Es gibt Menschen, die begegnen sich und erkennen sich instinktiv – da spielen äußerliche Faktoren keine Rolle, weil sie daran vorbei direkt in das Innere des anderen sehen.« Er beugt sich zu mir runter und drückt einen Kuss auf die Stelle, wo mein Herz schlägt. »Ich wusste am ersten Abend, an dem ich dir begegnet bin, alles über dich. Nichts könnte etwas an der Meinung ändern, die ich mir sofort über dich gebildet habe. Auch nicht das, was ich über die Frau denke, die dich großgezogen hat.«
Ich möchte ihn küssen. Oder heiraten. Oder gleich noch mal mit ihm schlafen.
Ich entscheide mich dafür, ihn zu küssen, löse mich aber relativ schnell wieder von ihm, weil ich Angst habe, dass wir heute sonst nie mehr aus diesem Bett rauskommen und ich ihm womöglich sage, dass ich ihn liebe. Der Satz liegt mir schon die ganze Zeit auf der Zunge, und es ist schwerer, ihn immer wieder runterzuschlucken, als ihn einfach auszusprechen. Aber ich will nicht die Erste sein, die ihn sagt. Jedenfalls noch nicht.
Deswegen stehe ich auf und pflücke unsere Klamotten vom Boden. »Na gut. Nächste Woche stelle ich dir meine Mutter vor.« Ich werfe ihm seine Sachen zu. »Aber heute lernst du erst mal meine Schwester kennen. Zieh dich an. Wir sind schon viel zu spät.«
Als ich fertig bin, sitzt Graham immer noch auf dem Bett.
»Und dein Slip?«, fragt er.
Mein Kleid ist wirklich extrem kurz. Normalerweise würde ich mich so nie aus dem Haus trauen. Ich betrachte den Slip, der auf dem Boden liegt, und stelle mir vor, wie verrückt es Graham machen würde, wenn er wüsste, dass ich unter dem Minikleid nichts anhabe. Ich zucke mit den Schultern und grinse. »Der passt nicht zu meinem Kostüm.«
Graham schüttelt den Kopf. »Du bringst mich um, Quinn.« Er steht auf und zieht sich an, während ich ins Bad husche und mein Make-up auffrische.
Wir schaffen es zur Tür raus. Wir schaffen es durch den Hausflur. Aber dann müssen wir auf den Aufzug warten und der kommt und kommt nicht …
»Ihr seid zu spät!«, sagt Ava streng, als sie uns die Tür öffnet. Sie trägt einen elegant-spießigen Hosenanzug und hat sich die Haare mit Haarspray auftoupiert. Sobald wir im Haus sind, schlägt sie die Tür hinter uns zu, sieht sich um und kreischt: »Reid!« Er steht direkt neben ihr. »Oh.« Sie zeigt auf Graham. »Da ist er.«
Reid schüttelt Graham die Hand. »Hey, Graham. Freut mich, dich kennenzulernen.«
Ava betrachtet Graham und mich von Kopf bis Fuß. »Schamlos!«, schnaubt sie. »In diesem Aufzug hier aufzukreuzen!« Dann rauscht sie ohne ein weiteres Wort davon.
»Huch?« Ich sehe Reid an. »Was hat sie denn?«
Reid lacht. »Ich habe ihr gleich gesagt, dass keiner die Verkleidung erkennt.«
»Was stellt sie denn dar? Eine alte Zicke?«
Reid lächelt etwas verlegen, dann beugt er sich zu uns und flüstert: »Eure Mutter.«
Graham lacht. »Das heißt, dass sie normalerweise nicht so … unangenehm ist?«
Ich verdrehe die Augen und greife nach seiner Hand. »Komm. Ich muss dir meine Schwester noch mal vorstellen.«
Als wir Ava schließlich finden, verhält sie sich Graham gegenüber zum Glück für einen kurzen Moment normal und nett, bleibt aber den Rest des Abends strikt in ihrer Rolle. Das Lustige ist, dass keiner der anderen Gäste eine Ahnung hat, wer sie sein soll. Nur wir vier kennen das Geheimnis, was es noch lustiger macht, wenn sie wieder mal jemandem sagt, er würde erschöpft aussehen, oder sich darüber beklagt, wie anstrengend Kinder seien.
Irgendwann kommt sie zu Graham und fragt: »Wie viel verdienst du? Hast du Vermögen?« Seine Antwort fällt offenbar unbefriedigend aus, denn sie sagt: »Falls ihr vorhaben solltet zu heiraten, bestehe ich auf einem Ehevertrag.«
Sie spielt unsere Mutter so überzeugend, dass ich erleichtert bin, als sich die Party irgendwann auflöst, weil ich mir ziemlich sicher bin, dass ich es nicht viel länger ausgehalten hätte.
Jetzt stehe ich in der Küche und trockne ab, während sie abspült. »Hattet ihr nicht mal eine Spülmaschine?«
Ava deutet wortlos auf einen Kühlschrank mit Glastür.
»Ist das … ein Weinkühlschrank? An der Stelle, wo eure Spülmaschine stand?«
»Ganz genau«, sagt sie.
»Aber … warum?«
»Das ist der Nachteil, wenn man einen Franzosen heiratet. Reid ist ein ausreichender Vorrat an richtig temperiertem Wein wichtiger als eine Spülmaschine. Und der Platz hat nur für eins von beidem gereicht.«
»Aber das ist ja schrecklich, Ava!«
Sie zuckt mit den Schultern. »Ich war einverstanden, nachdem er versprochen hat, dass er dafür immer abspült.«
»Und warum spülen wir dann ab?«
Ava seufzt. »Weil du einen neuen Freund hast, in den sich mein Mann offensichtlich schockverliebt hat.«
Sie hat recht. Graham und Reid haben sich sofort prächtig verstanden und hängen jetzt schon den ganzen Abend zusammen, als wären sie allerbeste Kumpels. Ich lasse den letzten Teller ins Spülwasser gleiten. »Reid hat mir vorhin gesagt, dass er Graham tausendmal netter findet als Ethan.«
»Dann sind wir schon zu zweit«, sagt Ava.
»Zu dritt.« Als wir in der Küche fertig sind, gehe ich ins Wohnzimmer, wo Graham gerade dabei ist, Reid mit großen Gesten irgendeine Geschichte zu erzählen. Ich glaube, ich habe ihn noch nie so aufgedreht gesehen. Reid liegt vor Lachen fast am Boden. Graham sieht mich, und das Lächeln, das sich auf seinem Gesicht ausbreitet, lässt einen warmen Schauer durch meinen Körper rieseln. Dann richtet er seine Aufmerksamkeit wieder auf Reid, und als ich mich umdrehe, steht Ava hinter mir und grinst.
»Er ist in dich verliebt.«
»Schsch.« Ich gehe in die Küche zurück und sie folgt mir. »Dieser Blick.« Sie greift nach einem Pappteller und fächelt sich Luft zu. »Der Mann ist hoffnungslos verliebt in dich. Er will dich heiraten und Kinder mit dir machen.«
Jetzt kann ich mein breites Lächeln nicht mehr unterdrücken. »Gott. Ich hoffe es so.«
Ava drückt den Rücken durch und streicht ihren Hosenanzug glatt. »Nun ja, Quinn. Er sieht ganz passabel aus, das gebe ich zu, aber als deine Mutter muss ich sagen, dass du sicher eine bessere Partie machen könntest. Wo bleibt eigentlich mein Martini?«
Ich verdrehe die Augen. »Bitte hör auf.«