Zweiundzwanzig
JETZT
Er hat eine andere Frau geküsst.
Ich will gerade auf »Senden« klicken, als mir einfällt, dass in Italien jetzt früher Morgen ist. Und weil ich nicht möchte, dass Ava beim Aufwachen als Allererstes so eine Nachricht von mir lesen muss, lösche ich sie wieder.
Graham ist vor einer halben Stunde im Haus verschwunden, ich bin im Wagen geblieben. Der Schmerz sitzt so tief, dass ich mich nicht rühren kann. Ich weiß nicht, ob es seine Schuld ist oder meine, ob womöglich keiner von uns daran schuld ist oder wir beide zusammen. Ich weiß nur, dass er mich verletzt hat, weil ich ihn verletzt hatte. Das rechtfertigt zwar in keinster Weise, was er getan hat, aber etwas nicht entschuldigen zu können, heißt nicht, dass man es nicht trotzdem verstehen kann.
Und jetzt sind wir beide so verletzt, dass ich nicht weiß, wie es weitergehen soll. Es spielt keine Rolle, wie groß die Liebe zu einem anderen Menschen ist – wenn die Bereitschaft zu verzeihen nicht genauso groß ist, wird sie bedeutungslos.
Ich frage mich, ob wir jetzt auch an diesem Punkt wären, wenn ich in der Lage gewesen wäre, ein Kind zu bekommen. Ob unsere Ehe zu dem geworden wäre, was sie heute ist, wenn ich in den letzten Jahren nicht so todunglücklich gewesen wäre. Wenn Graham nicht die ganze Zeit Rücksicht auf meine Gefühle hätte nehmen müssen.
Aber wie soll man das wissen? Vielleicht wäre es so oder so dazu gekommen. Vielleicht hätte ein Kind unsere Ehe auch nicht retten können. Statt ein unglücklicher Mann und eine unglückliche Frau zu werden, wären wir dann eben eine unglückliche Familie geworden. Eins der vielen Paare, das nur wegen der Kinder zusammenbleibt.
Ich wüsste gern, wie viele Beziehungen noch bestehen würden, wenn diejenigen Paare keine Kinder hätten. Wie viele Leute bleiben wirklich glücklich bis an ihr Lebensende zusammen, wenn sie keine Kinder haben, die alles zusammenhalten?
Vielleicht sollten wir uns ja tatsächlich einen Hund anschaffen und schauen, ob uns das retten kann. Jetzt verstehe ich, warum Graham das gesagt hat. Natürlich weiß er, was der eigentliche Grund für unser Problem ist. Er leidet genauso darunter wie ich.
Als es kalt wird, gehe ich irgendwann doch ins Haus und kauere mich auf die Couch. So wie Graham vorhin rumgebrüllt und auf der Motorhaube rumgehämmert hat, sind garantiert alle Nachbarn aufgewacht. Jetzt ist alles wieder still, aber die Stille zwischen Graham und mir ist ohrenbetäubend. Ich kann mich auf keinen Fall einfach so neben ihn ins Bett legen. Abgesehen davon könnte ich sowieso nicht schlafen.
Was sollen wir nur machen? Eine Paartherapie haben wir schon hinter uns. Wir hatten gehofft, mit professioneller Hilfe etwas Druck rausnehmen zu können, weil es dann vielleicht auch eher mit einem Baby klappen würde. Tatsächlich haben wir uns während dieser Zeit wieder angenähert, aber der Grund war hauptsächlich der, dass wir den Therapeuten beide so bescheuert fanden. Er wollte uns ständig bloß zeigen, was mit uns nicht stimmt. Aber das ist nicht das Problem, wir kennen unsere Schwächen. Graham genauso wie ich. Mein Problem ist, dass ich keine Kinder bekommen kann und dass mich das unglücklich macht. Grahams Problem ist, dass er daran nichts ändern kann, was wiederum ihn unglücklich macht. Keine Gesprächstherapie der Welt kann dafür sorgen, dass ich schwanger werde. Deswegen haben wir es ziemlich schnell wieder aufgegeben. Die Sitzungen haben zu viel Geld gekostet, das wir nicht hatten.
Vielleicht ist das einzige Heilmittel in unserem Fall ja tatsächlich eine Scheidung. Verrückt, dass ich allen Ernstes daran denke, mich von dem Menschen zu trennen, den ich liebe. Aber ich kann den Gedanken einfach nicht abschütteln, dass Graham kostbare Zeit mit mir vergeudet und ich uns letztlich beide unglücklich mache. Bestimmt wäre er erst mal traurig, wenn ich weg wäre, aber irgendwann würde er eine andere Frau kennenlernen. Ein Mann wie er bleibt nicht allein. Er würde sich verlieben und könnte sich endlich seinen Traum erfüllen, Vater zu werden. Dann wäre er wieder in den Kreislauf des Lebens eingereiht, aus dem ich ihn gerissen habe. Wenn ich mir Graham mit einem eigenem Kind vorstelle, macht mich das glücklich … selbst wenn die Mutter in dem Bild nicht ich wäre.
Ich habe die ganze Zeit darauf gehofft, dass doch noch ein Wunder passiert. Man hört immer wieder von Frauen, die jahrelang vergeblich alles getan haben, um ein Baby zu bekommen, und in dem Moment, in dem sie schon aufgegeben hatten – zack: schwanger!
Diese Wunder haben mir die Hoffnung gegeben, dass Graham und ich vielleicht auch eins erleben würden. Unser ganz persönliches Wunder, das unsere Beziehung retten würde.
Ich möchte ihn so gern dafür hassen, dass er eine andere Frau geküsst hat, aber das kann ich nicht, weil mir bei aller Wut klar ist, dass ich die Schuld nicht allein auf ihn schieben darf. Ich habe ihm in der letzten Zeit mehr als genug Gründe geliefert, mich zu verlassen. Angefangen damit, dass wir praktisch keinen Sex mehr hatten … Aber tief in mir weiß ich, dass das nicht der Grund war. Graham würde mir zuliebe sein ganzes Leben lang auf Sex verzichten, wenn es sein müsste.
Nein, es ist passiert, weil er uns aufgegeben hat.
Während meines Studiums habe ich einmal für eine Hausarbeit zwei über Achtzigjährige interviewt, die seit sechzig Jahren verheiratet waren. Die beiden hatten deutlich spürbar eine ganz besondere Verbindung miteinander, die mich überrascht hat. Irgendwie war ich davon ausgegangen, dass man seinen Partner nach sechzig Jahren unweigerlich satthaben müsste, aber so, wie die beiden sich anschauten, merkte man, dass sie trotz all der Zeit nie den Respekt voreinander verloren hatten und sich gegenseitig immer noch toll fanden.
Meine abschließende Frage an sie lautete: »Was ist das Geheimnis einer perfekten Ehe?«
»Unsere Ehe ist nie perfekt gewesen. Keine Ehe ist perfekt«, sagte der alte Mann ernst. »Es gab Zeiten, da haben wir uns aufgegeben. Meistens war ich derjenige, der uns aufgegeben hatte. Das Geheimnis, warum unsere Ehe immer noch funktioniert, liegt darin, dass wir uns nie gleichzeitig aufgegeben haben.«
Ich war damals wahnsinnig berührt von der Ehrlichkeit seiner Antwort. Und jetzt habe ich das Gefühl, dass ich das, wovon der alte Mann damals gesprochen hat, gerade selbst erlebe. Dass es passiert ist, weil Graham uns aufgegeben hat. Er ist kein Superheld. Er ist ein Mensch. Niemand würde es so lange ertragen, aus dem Leben seiner Partnerin ausgeschlossen zu werden, wie Graham es ertragen hat. Er ist in unserer Verbindung immer der Starke gewesen. Ich war die Schwache.
Aber jetzt hat sich das Blatt gewendet. Graham ist – im wahrsten Sinn des Wortes – schwach geworden.
Das Problem ist nur, dass ich uns auch aufgegeben habe. Ich fürchte, wir haben tatsächlich beide gleichzeitig den Glauben an uns als Paar verloren, und ab diesem Punkt gibt es keinen Weg zurück. Ich könnte ihm verzeihen und versprechen, mir in Zukunft mehr Mühe zu geben, aber ich weiß nicht, ob das die richtige Entscheidung wäre.
Wozu um etwas kämpfen, das sowieso keine Zukunft hat? Wie lange können sich zwei Menschen an eine Vergangenheit klammern, in der beide glücklich waren, um damit eine Gegenwart zu rechtfertigen, in der beide unglücklich sind?
Ich habe keinen Zweifel daran, dass Graham und ich ursprünglich perfekt füreinander waren. Aber das bedeutet nicht, dass wir bis in alle Ewigkeit perfekt füreinander bleiben. Im Moment sind wir jedenfalls weit davon entfernt.
Ich schaue zur Wanduhr und wünschte, die Zeiger würden sich magisch drehen, sodass schon übermorgen wäre. Ich ahne, dass der morgige Tag sogar noch trauriger wird als der heutige.
Weil Graham und ich morgen eine Entscheidung treffen müssen.
Wir werden darüber reden müssen, ob wir vielleicht an einem Punkt angekommen sind, an dem wir die Schatulle öffnen sollten.
Bei dem Gedanken dreht sich mir förmlich der Magen um. Ein scharfer Stich durchfährt mich und mir wird schlagartig speiübel. Beide Hände ins T-Shirt gekrallt, beuge ich mich vor und atme tief durch. Kann ein gebrochenes Herz so wehtun? Aber trotz des fast unerträglichen Schmerzes weine ich nicht. Ich habe in den letzten vierundzwanzig Stunden genug geweint.
Ich stehe auf und wanke ins Schlafzimmer. Als ich die Tür öffne, bin ich überrascht. Ich hatte geglaubt, Graham würde schlafen, stattdessen sitzt er aufrecht im Bett und hält ein Buch im Schoß. Wir sehen uns nur kurz an, dann lege ich mich auf meine Seite ins Bett und drehe ihm den Rücken zu. Ich glaube, wir sind jetzt beide zu erschöpft, um noch über irgendetwas zu reden. Er liest weiter sein Buch, ich liege mit geschlossenen Augen da und versuche einzuschlafen. Aber allein das Wissen, dass er neben mir liegt, macht es mir unmöglich zu entspannen. Mein Gedankenkarussell kreist in Endlosschleife. Die Minuten vergehen. Er hört sicher an meinem Atem, dass ich wach bin. Irgendwann klappt er das Buch zu und legt es auf den Nachttisch.
»Ich habe heute gekündigt.«
Ich sage nichts. Starre nur an die Wand.
»Ich weiß, dass du denkst, ich wäre heute Morgen zur Arbeit gefahren und hätte dich einfach allein gelassen, nachdem du dich im Schlafzimmer eingeschlossen hast.
Er hat recht. Genau das habe ich gedacht.
»Ich bin aber nur hingefahren, um zu kündigen. Ich kann nicht weiter in einer Kanzlei arbeiten, in der ich den schlimmsten Fehler meines Lebens gemacht habe. Nächste Woche suche ich mir einen neuen Job.«
Ich schließe die Augen und ziehe mir die Decke bis zum Kinn. Er knipst die Nachttischlampe aus und zeigt mir damit, dass er keine Antwort von mir erwartet. Nachdem er sich umgedreht hat, stoße ich einen unhörbaren Seufzer der Erleichterung aus. Ich bin froh, dass er die Entscheidung getroffen hat, nicht weiter mit dieser Andrea zusammenzuarbeiten. Er hat uns also doch noch nicht ganz aufgegeben. Er glaubt daran, dass es immer noch eine Chance gibt, unsere Ehe wieder zu dem zu machen, was sie einmal war.
Aber was, wenn er sich irrt? Er tut mir leid, denn dann wäre alles umsonst gewesen.
Graham schafft es irgendwie, einzuschlafen oder zumindest überzeugend so zu tun.
Ich wälze mich schon seit einer Stunde schlaflos herum. Der Schmerz in meinem Bauch wird immer schlimmer und hinter meinen Lidern prickeln Tränen. Nach einer Weile stehe ich auf und nehme eine Tablette, die aber nicht hilft. Kann eine emotionale Verletzung wirklich so heftige körperliche Schmerzen hervorrufen? Irgendetwas stimmt nicht. Das dürfte nicht so wehtun. Wieder schießt ein Stich durch mich hindurch; der Schmerz ist so extrem, dass ich mich stöhnend zusammenkrümme. Ich balle die Fäuste und ziehe die Knie an den Bauch, als mit einem Mal ein Schwall warmer Flüssigkeit aus mir herausströmt.
»Graham!« Ich greife erschrocken nach ihm, aber da hat er sich schon umgedreht und das Licht angeknipst. Wieder der Schmerz, so intensiv diesmal, dass ich nach Luft schnappe.
»Quinn?«
Seine Hand liegt auf meiner Schulter. Ich ziehe die Decke weg. Was er sieht, lässt ihn sofort aufspringen. Es wird hell im Zimmer. Er hebt mich hoch, sagt mir, dass alles gut wird, trägt mich. Ich sitze neben ihm im Auto. Häuser fliegen an uns vorbei. Auf meiner Stirn steht kalter Schweiß. Alles ist voller Blut.
»Graham.«
Ich habe unaussprechliche Angst. Er greift nach meiner Hand und drückt sie. »Alles okay, Quinn. Wir sind gleich da. Wir sind gleich da.«
Danach versinkt alles in Nebel.
Bruchstückhaft dringen einzelne Details zu mir durch. Gleißend helles Licht über meinem Kopf. Grahams Hand auf meiner. Wörter, die ich nicht hören will. Fehlgeburt. Blutung. Not-OP.
Wörter, die Graham ins Telefon sagt, wahrscheinlich zu seiner Mutter, während er meine Hand hält. Er flüstert, weil er glaubt, ich würde schlafen. Das tue ich auch. Ein Teil von mir schläft, aber der größere Teil bekommt alles mit. Ich weiß, dass er nicht von etwas spricht, das passieren wird, sondern von etwas, das bereits passiert ist. Die Operation steht mir nicht bevor. Ich habe sie hinter mir.
Graham legt das Handy weg, beugt sich über mich, drückt seine Lippen auf meine Stirn und flüstert meinen Namen. »Quinn?«
Ich öffne die Augen und sehe in seine. Sie sind gerötet und zwischen seinen Brauen steht eine tiefe Falte, die mir nie aufgefallen ist. Sie muss neu sein, vielleicht durch das entstanden, was gerade geschieht. Werde ich jetzt jedes Mal daran denken müssen, wenn ich diese Falte sehe?
»Was ist passiert?«
Die Falte vertieft sich. Graham streichelt mir über den Kopf und zögert. Dann bestätigt er, was ich schon geahnt habe. »Du hattest eine … Fehlgeburt.« Sein Blick wandert über mein Gesicht und bereitet sich auf meine Reaktion vor – wie auch immer sie ausfallen wird.
Wie merkwürdig, dass mein Körper es nicht fühlt. Mir ist klar, dass ich starke Schmerzmittel bekommen habe, aber ich müsste doch spüren, dass da Leben in mir war, das jetzt nicht mehr da ist. Oder? Ich lege eine Hand auf meinen Bauch und begreife nicht, dass ich nichts gemerkt habe. Wie lange bin ich schwanger gewesen? Wann hatten wir das letzte Mal Sex? Das ist über zwei Monate her. Eher drei.
»Graham«, flüstere ich. Er nimmt meine Hand und drückt sie. Ich weiß, dass ich jetzt am Boden zerstört sein müsste, dass Erleichterung das falsche Gefühl ist. Aber aus irgendeinem Grund spüre ich die Verzweiflung nicht, die ich in diesen Moment empfinden sollte. Ich spüre Hoffnung. »Ich war schwanger? Es … hat doch noch geklappt?«
Ich weiß nicht, wie ich es schaffe, mich auf das einzig Positive meiner Lage zu konzentrieren, aber nachdem ich jahrelang permanent das Gefühl gehabt habe, versagt zu haben, kann ich gar nicht anders, als das als Zeichen zu sehen. Ich war schwanger! Wir haben unser Wunder bekommen. Ein Teilwunder wenigstens.
Eine Träne löst sich aus Grahams linkem Auge und fällt auf meinen Arm. Ich beobachte, wie sie langsam herunterrinnt. Mein Blick wandert wieder zu Grahams Gesicht, und ich erkenne, dass er nicht in der Lage ist, auch nur das kleinste bisschen Gute in alldem zu sehen.
»Quinn …«
Und dann fällt noch eine Träne. In den vielen Jahren, die ich ihn jetzt schon kenne, habe ich ihn noch nie so unglücklich gesehen. Ich schüttle den Kopf. Ich will das, vor dem er solche Angst hat, es mir zu sagen, nicht hören. Ich will es nicht wissen, egal, was es ist.
Graham drückt wieder meine Hand, und in seinem Blick liegt so tiefe Verzweiflung, dass ich mich von ihm abwenden muss. »Als wir gestern herkamen, da …«
Ich will es nicht hören, aber meine Ohren nehmen gnadenlos alles auf, was er sagt.
»Du hast wahnsinnig stark geblutet.«
Ich höre ein lautes Nein. Immer wieder. Nein. Und ich weiß nicht, ob es aus meinem Mund kommt oder nur in meinem Kopf widerhallt.
»Es gab keine andere Möglichkeit, als deine …«
Ich rolle mich zu einer Kugel, umschlinge meine Knie, presse die Augen zu. Als er sagt, dass meine Gebärmutter entfernt werden musste, weine ich. Schluchze.
Graham legt sich zu mir ins Bett, schlingt seine Arme um mich und hält mich, während der letzte Funken Hoffnung erlischt, der noch zwischen uns war.