Siebenundzwanzig
DAMALS
Es ist jetzt fünf Stunden her, dass wir uns an einem einsamen Strand in Gegenwart von zwei Menschen, die wir erst ein paar Minuten kannten, das Jawort gegeben haben. Und ich verspüre keine Reue.
Nicht den kleinsten Hauch.
Ich bereue es nicht, mit Graham übers Wochenende ins Strandhaus gefahren zu sein. Ich bereue es nicht, ihn fünf Monate vor unserem geplanten Hochzeitstermin geheiratet zu haben. Ich bereue es nicht, meiner Mutter erst hinterher per Nachricht für ihre Hilfe bei den Vorbereitungen gedankt zu haben, die jetzt allerdings nicht mehr nötig seien, weil wir bereits geheiratet hätten. Ich bereue es nicht, dass wir, statt im Douglas Whimberly Plaza feudal zu dinieren, Hot Dogs über dem Feuer gegrillt und Kekse zum Nachtisch gegessen haben.
Ich kann mir auch nicht vorstellen, dass ich jemals irgendetwas von dem, was wir heute getan haben, bereuen werde. Etwas so Perfektes kann niemals zu etwas werden, das man bereut.
Graham schiebt die Balkontür auf. Vor drei Monaten war es zu kalt, um draußen zu sitzen, aber heute Abend ist es perfekt. Vom Wasser her kommt eine milde Brise, die mir das Haar aus dem Gesicht weht. Graham setzt sich neben mich und zieht mich an sich. Ich kuschle mich an ihn.
Er beugt sich ein Stück vor und legt sein Handy neben meins auf die Brüstung. Gerade war er drinnen, um mit seiner Mutter zu telefonieren und ihr beizubringen, dass es keine Hochzeitsfeier geben wird.
»War sie sehr enttäuscht?«, frage ich.
»Sie behauptet, sie würde sich für uns freuen, aber ich habe ihr natürlich schon angemerkt, dass sie gern dabei gewesen wäre.«
»Hast du jetzt ein schlechtes Gewissen?«
Er lacht. »Überhaupt nicht. Sie hat mit meinen Schwestern schon zwei Hochzeiten erlebt und plant gerade die dritte. Ich könnte mir eher vorstellen, dass sie insgeheim vielleicht sogar ein bisschen froh ist, sich diesmal nicht kümmern zu müssen. Meine Schwestern machen mir da schon mehr Sorgen.«
An die hatte ich noch gar nicht gedacht. Ava habe ich gestern auf der Fahrt hierher eine Nachricht geschickt, aber sie war anscheinend die Einzige, die es vorher erfahren hat. Dabei hatten wir sie und Grahams drei Schwestern erst letzte Woche gefragt, ob sie unsere Brautjungfern sein wollen. »Wie haben sie reagiert?«
»Ich habe es ihnen noch gar nicht erzählt«, gesteht er. »Aber ich wette zehn Dollar darauf, dass sie es schon wissen. Meine Mutter hat sie garantiert sofort angerufen und die vier halten gerade eine Telefonkonferenz ab.«
»Sie freuen sich bestimmt für dich. Gut, dass sie an Ostern meine Mutter kennengelernt haben. Jetzt haben sie sicher vollstes Verständnis dafür, dass wir es so gemacht haben.«
Mein Telefon vibriert. Graham beugt sich vor, greift danach, hält es mir hin und wirft dabei einen Blick darauf. Als ich sehe, dass es eine Nachricht von meiner Mutter ist, versuche ich ihm das Handy wegzunehmen, aber er hält es fest und liest die ganze Nachricht, bevor er es mir gibt.
»Was meint sie damit?«
Ich lese und mir wird kurz übel. »Nichts, worüber wir uns aufregen sollten.« Bitte frag nicht nach, Graham.
Leider lässt er nicht locker. »Warum schreibt sie so was?«
Ich schaue auf mein Handy. Auf ihre schreckliche Nachricht.
Du glaubst, er hatte es so eilig, weil er es nicht erwarten konnte, dass du seine Frau wirst? Hör auf zu träumen, Quinn. Das war ein perfekter Schachzug, um sich vor der Unterschrift zu drücken.
»Vor welcher Unterschrift?«, fragt Graham.
Ich lege eine Hand auf sein Herz und suche nach Worten, aber die sind heute aus irgendeinem Grund noch schwerer zu finden als während der letzten drei Monate, in denen ich es vermieden habe, mit ihm über dieses Thema zu reden.
»Sie ist der Meinung, wir hätten einen Ehevertrag aufsetzen sollen.«
»Wozu?«, fragt Graham. Ich höre seiner Stimme an, wie verletzt er ist.
»Sie denkt, dass unser Stiefvater sein Testament ändern könnte, um mir und Ava etwas zu vermachen. Vielleicht hat er das auch schon getan, keine Ahnung. Jedenfalls würde es erklären, warum es ihr so wahnsinnig wichtig war, dass ich mit dir darüber spreche.«
»Und warum hast du nicht mit mir gesprochen?«
»Ich hatte es ja vor. Es ist nur … ich finde nicht, dass es nötig ist, Graham. Ich weiß, dass du mich nicht deswegen heiraten wolltest. Und selbst wenn Moms Mann mir irgendwann Geld hinterlassen sollte, fände ich es total okay, wenn wir beide etwas davon hätten.«
»Ach, Quinn.« Er legt den Daumen unter mein Kinn und hebt mein Gesicht leicht an, sodass ich ihn ansehen muss. »Dein Bankkonto interessiert mich wirklich nicht, und es tut mir leid, dass deine Mutter dir mit solchen fiesen Unterstellungen das Leben schwermacht. Aber trotzdem hat sie auch recht. Wir hätten einen Ehevertrag aufsetzen sollen, bevor du mich heiratest. Ich verstehe nicht, warum du nie mit mir darüber gesprochen hast. Ich hätte sofort unterschrieben. Ich arbeite in der Buchhaltung, Quinn. Sobald Geld im Spiel ist, sollte man sich vertraglich absichern. Das ist nur vernünftig.«
Ich weiß nicht, was ich erwartet hatte, jedenfalls sicher nicht, dass er meiner Mutter recht gibt. »Oh. Na ja … okay, dann hätte ich wohl mit dir darüber reden sollen. Ich hatte ein bisschen Angst davor, weil ich dachte, dass das bestimmt kein angenehmes Gespräch wird.«
»Ich bin dein Mann. Ich möchte dir das Leben leichter machen, nicht schwerer.« Er küsst mich, aber unser Kuss wird vom erneuten Vibrieren meines Handys unterbrochen.
Die nächste Nachricht meiner Mutter. Bevor ich sie lesen kann, nimmt Graham mir das Telefon ab und tippt etwas ein.
Graham hat vorgeschlagen, nachträglich einen Ehevertrag zu unterzeichnen. Sag deinem Anwalt, er soll einen aufsetzen. Problem gelöst.
Er legt das Handy auf die Brüstung und dann – genau wie an unserem allerersten Abend beim Mexikaner – versetzt er ihm einen Schubs. Noch bevor es unten in den Sträuchern landet, kommt auf seinem eigenen Handy eine Nachricht an. Und gleich danach noch eine. Und noch eine.
»Deine Schwestern!«
Grinsend versetzt er auch seinem Handy einen Schubs. Wir sehen uns an und lachen.
»Jetzt werden wir nicht mehr gestört«, sagt er. Dann steht er auf und greift nach meiner Hand. »Komm mit rein. Ich hab was für dich.«
Ich springe begeistert auf. »Wirklich? Etwa ein Hochzeitsgeschenk?«
Graham zieht mich hinter sich her ins Schlafzimmer. »Setz dich schon mal.« Er zeigt aufs Bett. »Ich bin gleich wieder da.«
Ich lasse mich im Schneidersitz in der Mitte des Betts nieder und warte gespannt. Immerhin ist es das erste offizielle Geschenk, das ich von ihm als meinem Ehemann bekomme – das ist schon was Besonderes. Wann hatte er überhaupt Zeit, mir etwas zu besorgen? Wir wussten ja bis gestern gar nicht, dass wir heute herkommen und heiraten würden.
Graham kommt mit einer Holzschatulle in den Händen ins Zimmer zurück. Ich weiß nicht, ob sie selbst das Geschenk ist oder irgendetwas, das sich darin befindet, jedenfalls ist die Schatulle allein schon wunderschön. Sie ist aus dunklem Mahagoni mit einem sehr hübschen – handgeschnitzten? – Muster im Deckel.
»Hast du die selbst gemacht?«
»Vor ein paar Jahren, ja«, sagt er. »Ich hatte zu Hause in der Garage eine kleine Werkstatt. Ich arbeite gerne mit Holz.«
»Das wusste ich gar nicht.«
Graham lächelt. »So kann es gehen, wenn man seinen Mann noch nicht mal ein Jahr kennt, bevor man ihn heiratet.« Er setzt sich mir gegenüber aufs Bett und hört nicht auf zu lächeln, was mich noch neugieriger macht. Aber statt mir die Schatulle zu geben, klappt er den Deckel auf und nimmt einen Umschlag heraus, der … mir sehr bekannt vorkommt.
»Kennst du den noch?«
Er hält mir den Umschlag hin. Als wir das letzte Mal im Strandhaus waren, hat Graham mich um einen Liebesbrief gebeten. Sobald wir wieder zu Hause waren, habe ich mich einen ganzen Abend lang hingesetzt, um ihn zu schreiben. Sogar mit Parfüm besprüht habe ich ihn und auch das gewünschte Nacktfoto von mir dazugelegt.
Ich hatte mich schon gewundert, warum Graham nie etwas dazu gesagt hat. Aber dann waren wir so mit Hochzeitsvorbereitungen beschäftigt, dass ich gar nicht mehr daran gedacht habe. Ich drehe den Umschlag, auf dem Grahams Name steht, um. Er ist noch ungeöffnet. »Wie? Du hast ihn gar nicht gelesen?«
Statt zu antworten, nimmt er einen zweiten Briefumschlag aus der Schatulle, auf dem mein Name steht, und hält ihn mir hin. »Du hast mir auch einen Liebesbrief geschrieben?« Ich greife danach.
»Den allerersten meines Lebens«, sagt er. »Ich glaube, dafür ist er sogar ganz gut geworden.«
Ich grinse und will den Zeigefinger unter die Lasche schieben, um ihn zu öffnen, aber Graham nimmt ihn mir vorher aus der Hand.
»Nicht! Du darfst ihn noch nicht lesen.« Er drückt sich den Umschlag an die Brust und sieht aus, als wäre er bereit, ihn mit seinem Leben zu verteidigen.
»Warum nicht?«
»Weil …«, er legt beide Briefe wieder in die Schatulle, »jetzt noch nicht der richtige Zeitpunkt dafür ist.«
»Du hast mir einen Brief geschrieben, den ich nicht lesen darf?«
Graham scheint es Spaß zu machen, mich zappeln zu lassen. »Du musst Geduld haben. Wir schließen die Schatulle ab und machen sie erst an unserem fünfundzwanzigsten Hochzeitstag wieder auf.« Er greift nach einem kleinen Vorhängeschloss, das er durch den dafür vorgesehenen Bügel schiebt.
»Graham!« Ich lache. »Das ist das schlimmste Geschenk aller Zeiten! Du hast mir fünfundzwanzig Jahre Folter geschenkt!«
Er grinst nur.
Auch wenn ich das Geschenk extrem frustrierend finde, ist es gleichzeitig das Tollste, was sich jemals jemand für mich ausgedacht hat. Ich beuge mich vor und schlinge die Arme um Grahams Nacken. »Ich bin zwar ein bisschen sauer, dass ich meinen Brief jetzt noch nicht lesen darf«, flüstere ich, »aber das ist ein echt geniales Hochzeitsgeschenk. Und du bist der genialste Mann, den ich kenne, Mr Wells.«
Er küsst mich auf die Nasenspitze. »Ich freue mich, dass es dir gefällt, Mrs Wells.«
Ich küsse ihn auf den Mund, dann richte ich mich auf und streiche über den geschnitzten Deckel der kleinen Schatulle. »Wobei es schon ein bisschen schade ist, dass du mein Nacktfoto erst in fünfundzwanzig Jahren zu sehen bekommst. Ich will nicht angeben, aber ich habe da eine kleine artistische Glanzleistung vollbracht.«
Graham zieht eine Augenbraue hoch. »So, so. Eine artistische Glanzleistung?«
Ich nicke grinsend. Und dann betrachte ich die Schatulle und frage mich, was in seinem Brief wohl steht. Ich kann nicht glauben, dass ich ihn wirklich erst in fünfundzwanzig Jahren lesen darf. »Und die Wartezeit lässt sich nicht irgendwie verkürzen?«
»Vor dem fünfundzwanzigsten Hochzeitstag dürfen wir den Kasten nur im absoluten Notfall öffnen.«
»Was für eine Art von Notfall? So was wie … Tod?«
Er schüttelt den Kopf. »Nein. Das meinte ich nicht. Ein Beziehungsnotfall. So was wie … Scheidung.«
»Scheidung?« Mir läuft es kalt den Rücken runter. »Ernsthaft?«
»Die Idee ist, dass wir die Schatulle öffnen, um die Langlebigkeit unserer Liebe zu feiern, Quinn. Aber falls einer von uns beschließt, sich vom anderen scheiden lassen zu wollen – falls wir in unserer Ehe einen Punkt erreichen, an dem wir der Meinung sind, dass es anders nicht mehr geht –, dann müssen wir uns versprechen, uns erst scheiden zu lassen, nachdem wir die Schatulle geöffnet und die Briefe gelesen haben. Vielleicht kann uns ja die Erinnerung an die Liebe, die wir füreinander hatten, als wir den Deckel zugemacht haben, helfen, unsere Entscheidung noch mal zu überdenken.«
»Dann ist die Schatulle also nicht nur eine Art Erinnerungs-Zeitkapsel, sondern auch ein Ehe-Survival-Kit?«
Graham nickt. »So könnte man es nennen. Aber wir brauchen uns, glaube ich, keine Sorgen zu machen. Ich bin sehr zuversichtlich, dass wir diese Schatulle erst in fünfundzwanzig Jahren öffnen werden.«
»Ich bin mehr als zuversichtlich«, sage ich. »Ich würde sogar darauf wetten. Aber falls ich die Wette verliere und wir uns doch scheiden lassen, werde ich nicht genug Geld haben, um meine Wettschulden zu begleichen, weil du keinen Ehevertrag unterschrieben hast.«
Graham zwinkert mir zu. »Tja, blöd gelaufen. Hättest du mal lieber keinen Erbschleicher geheiratet.«
»Habe ich noch Zeit, mich umzuentscheiden?«
Graham drückt das Vorhängeschloss mit einem Klick zu. »Zu spät.« Er steht auf, stellt die Schatulle auf die Kommode und legt den Schlüssel daneben. »Den befestige ich morgen mit Klebstreifen auf der Unterseite, damit wir ihn nie verlieren.«
Er kommt wieder zum Bett, packt mich um die Taille, wirft mich über seine Schulter und trägt mich zurück auf den Balkon, wo er sich zusammen mit mir auf die Hollywoodschaukel sinken lässt.
Ich sitze rittlings auf ihm und umfasse sein Gesicht mit beiden Händen. »Das ist ein wirklich süßes Geschenk«, flüstere ich. »Danke.«
»Sehr gerne.«
»Ich hab nichts für dich, weil ich keine Zeit hatte, was zu besorgen. Ich wusste ja bis kurz vorher nicht, dass wir heute heiraten.«
Graham streicht mir die Haare über die Schultern und presst seine Lippen auf meine Kehle. »Ich wüsste kein Geschenk auf der Welt, für das ich dich von meinem Schoß lassen würde.«
»Und wenn ich dir einen riesigen Flatscreen gekauft hätte? Ich wette, dafür würdest du mich runterschubsen.«
Er lacht an meinem Hals. »Nein.« Seine Hand gleitet an meinem Bauch nach oben und schließt sich um meine Brust.
»Und ein neues Auto?«
Er streicht mit den Lippen langsam meine Kehle hinauf. Als sein Mund meinen erreicht, raunt er: »Ganz bestimmt nicht.« Er will mich küssen, aber ich lehne mich zurück.
»Und wenn … ich dir ein Geschenk für Mathematiker gekauft hätte? Einen von diesen megateuren Supertaschenrechnern, die um die zweitausend Dollar kosten? Ich wette, für so einen würdest du mich sofort vom Schoß schubsen.«
Grahams Hände streichen meinen Rücken hinab. »Nicht mal dafür.« Seine Zunge gleitet zwischen meine Lippen, und er küsst mich mit so viel Nachdruck, dass mir der Kopf schwirrt. Und die nächste halbe Stunde ist das alles, was wir machen. Wie zwei total verliebte Teenager sitzen wir knutschend in der Hollywoodschaukel.
Irgendwann steht Graham auf, ohne unseren Kuss zu unterbrechen, trägt mich ins Schlafzimmer und legt mich sanft aufs Bett. Er macht das Licht aus und schiebt die Balkontür weit auf, sodass wir die Wellen hören, die gegen die Felsen branden.
Als er zum Bett zurückkommt, zieht er mich aus, zuerst ganz vorsichtig, dann immer wilder, bis er mir zuletzt mein Top förmlich vom Leib reißt. Er küsst mich auf den Mund und widmet sich dann eingehend jedem einzelnen Quadratzentimeter meines Körpers. Als er schließlich wieder zu meinem Mund zurückkehrt, schmecke ich mich selbst an seinen Lippen.
Ich rutsche an ihm herunter und revanchiere mich, bis ich nach ihm schmecke.
Als er mich danach auf den Rücken dreht und tief in mich eintaucht, fühlt es sich anders an als sonst, vollkommen neu, weil es das erste Mal ist, dass wir uns als Ehemann und Ehefrau lieben.
Er ist immer noch in mir, als sich die Sonne langsam aus dem Meer erhebt.