Achtzehn
JETZT
Ich weiß nicht, ob Graham die Nacht im Gästezimmer oder auf der Couch verbracht hat, bin mir aber ziemlich sicher, dass er nicht viel geschlafen hat. Ich versuche mir vorzustellen, wie er aussieht mit seinen traurigen Augen. Wie er sich durch die Haare fährt. Immer wieder überkommt mich Mitleid, aber dann versuche ich mir diese Andrea vorzustellen und wie sie durch die traurigen Augen meines Manns aussah, als er sie geküsst hat.
Weiß sie, dass Graham verheiratet ist? Weiß sie, dass er eine Frau zu Hause hat, die schon seit Jahren vergeblich versucht, schwanger zu werden? Eine Frau, die sich nach seinem Geständnis die ganze Nacht und den ganzen nächsten Tag im Schlafzimmer eingeschlossen und im Bett verkrochen hat. Eine Frau, die sich schließlich aufgerappelt hat und aufgestanden ist, um ihre Koffer zu packen. Eine Frau, die … nicht mehr kann.
Ich will hier weg sein, bevor er nach Hause kommt.
Ich habe meine Mutter nicht angerufen, um ihr zu sagen, dass ich erst mal eine Weile bei ihr bleibe. Wahrscheinlich rufe ich sie gar nicht an, sondern fahre einfach hin. Mir graut so sehr davor, es ihr zu sagen, dass ich es so lange wie möglich aufschiebe.
»Ich habe dich gewarnt«, wird sie sagen. »Du hättest Ethan heiraten sollen«, wird sie sagen. »Betrügen tun sie dich sowieso alle irgendwann. Bei Ethan wärst du wenigstens eine reiche betrogene Ehefrau gewesen.«
Ich schließe die Schlafzimmertür auf und gehe ins Wohnzimmer. Grahams Wagen steht nicht in der Einfahrt. Ich streife durchs Haus und frage mich, ob es etwas gibt, das ich mitnehmen möchte. Meine Gedanken wandern zu dem Tag zurück, an dem ich alles von Ethan aus meiner Wohnung geräumt habe. Ich wollte nichts mehr mit ihm zu tun haben.
Um mich herum stehen Erinnerungen, die Graham und ich im Laufe der Jahre angesammelt haben. Ich wüsste nicht mal, womit ich anfangen sollte, wenn ich etwas mitnehmen wollte. Deswegen fange ich gar nicht erst an. Ich gehe zurück ins Schlafzimmer und packe nur ein paar Sachen zum Anziehen ein.
Als ich den Koffer vom Bett hieve, fällt mein Blick auf die Holzschatulle im untersten Regalbrett. Ich hole sie mir und setze mich damit aufs Bett. Sie ist abgeschlossen, aber mir fällt ein, dass Graham den Schlüssel für das kleine Vorhängeschloss auf die Unterseite geklebt hat, damit wir ihn nicht verlieren. Ich drehe die Schatulle um und fahre mit dem Fingernagel unter den Klebestreifen, um ihn zu lösen. Es ist so weit …
»Quinn.«
Der Klang seiner Stimme lässt mich zusammenzucken. Aber ich sehe ihn nicht an. Ich kann ihn jetzt nicht ansehen. Also halte ich den Blick gesenkt und schabe am Klebestreifen, bis der Schlüssel abgeht.
»Quinn!«
Graham klingt jetzt panisch. Ich sitze wie erstarrt da und warte darauf, dass er sagt, was er sagen muss – was auch immer das sein wird. Er kommt ins Zimmer, setzt sich neben mich aufs Bett und umfasst meine Hand, die den Schlüssel hält. »Ich habe dir das Schlimmste angetan, was ich dir nur antun konnte. Aber bitte gib mir eine Chance, wenigstens zu versuchen, es irgendwie wiedergutzumachen, bevor du die Schatulle öffnest.«
Der Schlüssel schneidet in mein Fleisch.
Er kann ihn behalten.
Ich drehe seine Hand um, lege den Schlüssel hinein und schließe sie zur Faust. Währenddessen sehe ich ihm fest in die Augen. »Ich mache die Schatulle nicht auf«, sage ich. »Aber nur, weil mir mittlerweile scheißegal ist, was drin ist.«
Als ich von zu Hause weggegangen, in den Wagen gestiegen und losgefahren bin, war in mir alles wie betäubt. Ich weiß nicht, ob ich Trauer empfunden habe. Jetzt parke ich in der Einfahrt und starre durch die Frontscheibe. Auf die riesige Villa im viktorianischen Stil, die meiner Mutter mehr bedeutet als alles andere. Einschließlich ihrer Töchter.
Wobei sie das natürlich nie laut gesagt hat. Dass sie nie wirklich den Wunsch hatte, Mutter zu sein, würde sie niemals offen zugeben. Das könnte ja ihren Ruf ruinieren. Es ist so verdammt ungerecht, dass jemand wie sie problemlos – ungewollt – schwanger werden und ein Kind zur Welt bringen konnte. Sogar zwei Kinder. Über die sie sich nicht gefreut hat. Meine Schwester und ich mussten uns jahrelang anhören, dass wir an ihren hässlichen Schwangerschaftsstreifen schuld seien und an den Babypfunden, die sie nie mehr losgeworden ist. Wenn wir zu anstrengend waren, rief sie die Nanny an, deren Nummer sie auf Kurzwahltaste eins eingespeichert hatte. »Die Mädchen wachsen mir über den Kopf, Roberta«, klagte sie. »Ich halte das keine Minute länger aus. Bitte kommen Sie, so schnell Sie können. Ich brauche dringend ein bisschen Erholung im Spa.«
Ich lehne mich zurück und schaue zu dem Fenster hoch, hinter dem einmal mein Zimmer lag. Mittlerweile ist der Raum ein Lager für leere Schuhkartons. Ich weiß noch, wie ich mit Graham an diesem Fenster gestanden und in den Garten hinausgeschaut habe. Das war an dem Tag, an dem ich ihm meine Mutter vorgestellt habe.
Ich werde niemals vergessen, was er damals gesagt hat, weil es so ehrlich war und so schön. In dem Moment habe ich mich endgültig in ihn verliebt.
Ist es nicht bezeichnend, dass die schönste Erinnerung, die ich an dieses Haus habe, nichts mit meiner Mutter zu tun hat, sondern mit Graham … dem Mann, der mich betrogen hat? Die Vorstellung, wieder hier wohnen zu müssen, ist mir auf einmal unerträglich. Noch unerträglicher als die Vorstellung, wieder nach Hause zurückzufahren. Nein, ich will und kann meiner Mutter jetzt nicht gegenübertreten und mir ihre selbstgerechten Sprüche anhören. Ich muss meine Probleme erst mal selbst lösen.
Entschlossen lege ich den Rückwärtsgang ein, aber es ist zu spät. Die Haustür geht auf und sie tritt hinaus, um zu sehen, wer in der Einfahrt steht. Ich lasse seufzend den Kopf gegen die Nackenstütze fallen. Fluchtversuch missglückt.
»Quinn!«, ruft sie.
Ich steige aus und gehe auf sie zu. Sie hält die Tür auf, aber wenn ich dieses Haus betrete, werde ich mich gefangen fühlen, deswegen setze ich mich auf die oberste Treppenstufe und sehe in den Garten.
»Möchtest du nicht reinkommen?«
Ich schüttle nur den Kopf, schlinge die Arme um meine Knie und fange an zu weinen.
Sie setzt sich neben mich. »Was ist denn los?«
In Momenten wie diesen wünschte ich mir eine Mutter, die wirkliches Mitgefühl hätte, wenn ich weine. Meine tut nur das, was man in solchen Situationen eben tut, und streicht mir verkrampft über den Rücken.
Ich sage nichts von Graham. Die ersten Minuten schluchze ich zu sehr, um überhaupt etwas sagen zu können, und als ich mich so weit beruhigt habe, dass ich wieder Luft bekomme, platze ich mit etwas heraus, das sich viel schlimmer anhört, als es gemeint ist.
»Warum hat Gott jemandem wie dir Kinder gegeben und mir gibt er keine?« Die Hand meiner Mutter erstarrt in der Bewegung. Ich hebe sofort den Blick. »Entschuldige. Das sollte nicht herzlos klingen.«
Es scheint sie aber auch nicht verletzt zu haben. Sie zuckt nur mit den Schultern. »Vielleicht kann Gott ja nichts dafür«, sagt sie. »Vielleicht liegt es einfach daran, dass die Fortpflanzungsorgane bei der einen Frau funktionieren und bei der anderen nicht.«
Das wäre jedenfalls einleuchtender.
»Woher weißt du, dass ich nie Kinder haben wollte?«, fragt sie.
Ich lache freudlos. »Weil du es gesagt hast? Mehr als einmal.«
Kann es sein, dass ihr Blick wirklich schuldbewusst wirkt, als sie ihn abwendet und in den Garten schaut?
»Ich habe davon geträumt zu reisen«, sagt sie. »Dein Vater und ich hatten vor, nach unserer Heirat erst mal für fünf Jahre ins Ausland zu gehen und dort zu leben, bevor wir uns irgendwo niederlassen. Wir wollten andere Kulturen kennenlernen und unseren Horizont erweitern, um nicht zu sterben, ohne die Welt gesehen zu haben. Aber dann haben wir eines Nachts nicht aufgepasst und daraus wurde dann deine Schwester Ava.« Sie sieht mich an. »Es stimmt. Ich habe nie davon geträumt, Kinder zu haben, Quinn. Aber ich habe alles getan, was ich konnte, um euch eine gute Mutter zu sein. Ich bin sehr froh, dich und Ava zu haben, auch wenn es mir schwerfällt, es euch zu zeigen.« Sie greift nach meiner Hand und drückt sie. »Mein Lebenstraum hat sich nicht erfüllt, aber ich habe wirklich nach besten Kräften versucht, das, was ich stattdessen bekommen habe, so gut wie möglich zu machen.«
Ich nicke und wische mir eine Träne aus dem Auge. Ich kann nicht glauben, dass sie es tatsächlich zugibt. Und dass ich hier sitze und es irgendwie okay finde zu hören, dass meine Schwester und ich nicht das waren, was sie sich vom Leben gewünscht hat. Ihre Ehrlichkeit rechne ich ihr hoch an. Ich hätte niemals erwartet, sie einmal sagen zu hören, dass sie froh ist, mich und Ava zu haben. Ich drehe mich zu ihr und umarme sie. »Danke.«
Sie erwidert meine Umarmung etwas steif und nicht so, wie ich meine Tochter umarmen würde, wenn ich eine hätte. Aber sie sitzt neben mir und wir reden und sie umarmt mich. Das ist mehr, als ich je erwartet hatte.
»Bist du sicher, dass du nicht doch reinkommen willst? Ich könnte uns Tee machen.«
Ich schüttle den Kopf. »Es ist schon spät. Ich sollte nach Hause fahren.«
Meine Mutter nickt. Ich spüre ihr Zögern, aber es ist auch offensichtlich, dass sie nicht weiß, was sie noch sagen oder tun könnte, ohne dass die Situation total verkrampft wird. Irgendwann steht sie seufzend auf, verabschiedet sich von mir und geht rein. Ich bleibe sitzen, weil ich noch nicht nach Hause will.
Hier will ich aber auch nicht bleiben.
Am schönsten wäre es, wenn ich nirgendwohin müsste.