Einundzwanzig
DAMALS
Aus nachvollziehbaren Gründen bitte ich meine Mutter nie um irgendwelche Gefallen. Genau deshalb habe ich nicht sie, sondern meinen Stiefvater angerufen, um ihn zu fragen, ob ich das Wochenende mit Graham im Strandhaus auf Cape Cod verbringen darf. Er selbst fährt kaum noch hin und behält es nur, um es zu vermieten. Den Sommer über ist es praktisch immer ausgebucht, aber in den kälteren Monaten wie jetzt im Februar steht es meistens leer. Es hat mich einiges gekostet, meinen Stolz zu überwinden und ihn zu bitten, es uns zu überlassen, aber es ist mir wesentlich leichter gefallen, als meine Mutter zu fragen. Seit ich offiziell mit Graham zusammen bin, hat sie mir zu verstehen gegeben, ich hätte eine wesentlich bessere Partie machen können. Diese »bessere Partie« würde natürlich ein eigenes Strandhaus besitzen, sodass ich nicht andere Leute anbetteln müsste.
Als wir ankamen, ist Graham erst mal eine gefühlte Stunde lang im Haus herumgelaufen und hat sich kaum mehr eingekriegt.
Quinn, schau dir diese Aussicht an!
Quinn, schau dir diese riesige Badewanne an!
Quinn, hast du den Kamin gesehen?
Quinn, hier gibt es sogar Kajaks!
Mittlerweile hat er es geschafft, seine Begeisterung auf Normalmaß runterzuschrauben und nicht immer wieder in Jubelrufe auszubrechen. Wir haben gerade zu Abend gegessen und ich habe geduscht, während er auf der Terrasse in der eisernen Schale Feuer gemacht hat. Der Februar ist dieses Jahr sehr mild, trotzdem klettern die Temperaturen tagsüber kaum über zehn Grad und sinken nachts oft unter null. Ich bringe uns eine Decke raus und kuschle mich neben Graham auf das Outdoor-Sofa.
Er zieht mich noch näher an sich heran und schlingt einen Arm um mich, sodass ich den Kopf an seine Brust lehnen kann. Es ist kalt hier draußen, aber durch die Wärme seines Körpers und des prasselnden Feuers lässt es sich gut aushalten. Ich finde es sogar richtig gemütlich.
Wie er so dasitzt und der Brandung lauscht, strahlt Graham eine innere Ruhe aus, die ich so an ihm bisher noch nicht erlebt habe. Er betrachtet das Meer mit der Ehrfurcht, die es verdient hat, als wären in seinem Wasser die Antworten auf alle Fragen des Lebens verborgen.
»Was für ein perfekter Tag«, sagt er leise.
Ich lächle. Wie schön, dass ein perfekter Tag für ihn ein Tag mit mir ist. Mittlerweile sind wir ein halbes Jahr zusammen. Wenn ich ihn ansehe, überkommt mich oft ein so überwältigendes Glücksgefühl, dass ich Ethan und Sasha am liebsten einen Dankesbrief schreiben würde. Graham ist das Beste, was mir je passiert ist.
Überrascht stelle ich fest, dass gerade die Tatsache, dass ich mit jemandem so glücklich sein und ihn so lieben kann, eine unterschwellige Angst in mir erzeugt, die ich vorher so nicht gekannt habe. Die Angst, ihn zu verlieren. Die Angst, ihm könnte etwas passieren. Ich stelle mir vor, dass es so ist, wenn man Kinder hat. Dass das wahrscheinlich die allergrößte, schönste und tiefste Liebe ist, die man jemals erleben kann, und zugleich auch die, die einen am verletzlichsten macht.
»Möchtest du mal Kinder?«, platzt es aus mir heraus. Typisch, dass ich in einem so harmonischen, entspannten Moment eine Frage stelle, die für unsere gemeinsame Zukunft entscheidend sein könnte.
»Unbedingt. Und du?«
»Ja. Viele.«
Graham lacht. »Wie viele sind für dich viele?«
»Ich weiß nicht. Mehr als eins, weniger als fünf?« Ich hebe den Kopf von seiner Schulter und sehe ihn an. »Ich glaube, ich wäre eine gute Mutter. Und – ohne angeben zu wollen – ich bin mir ziemlich sicher, dass meine Kinder die tollsten Kinder aller Zeiten wären.«
»Daran zweifle ich keine Sekunde.«
Ich schmiege den Kopf wieder an seine Schulter. Er umfasst meine Hand, die an seinem Herz liegt.
»Wolltest du immer schon Mutter werden?«
Ich nicke. »Ja. Ich freue mich total darauf, eine große Familie zu haben. Ich hab mir immer einen Beruf gewünscht, in dem ich von zu Hause aus arbeiten kann, damit ich viel Zeit mit meinen Kindern verbringen kann. Peinlich, oder? Das hab ich noch nie so offen zugegeben.«
»Das ist nicht peinlich.«
»Doch, klar. Das klingt, als wäre ich ein Hausmütterchen und keine Karrierefrau oder Feministin.«
Graham schiebt mich sanft von sich und steht auf, um Holz zu holen. Er legt zwei frische Scheite ins Feuer und setzt sich wieder. »Du solltest werden, was dich glücklich macht. Ob das jetzt Generalin, Anwältin, Managerin oder Mutter ist, spielt doch keine Rolle. Aber auf keinen Fall solltest du dich für das, was du sein willst, schämen.«
Ich liebe ihn. Ich liebe ihn so sehr.
»Ich will ja auch nicht nur Mutter sein. Irgendwann möchte ich auch ein Buch schreiben.«
»Die Fantasie dafür hast du jedenfalls. Deine verrückten Träume sind der Beweis.«
Ich lache. »Vielleicht sollte ich anfangen, sie aufzuschreiben.«
Graham lächelt unergründlich. Ich will ihn gerade fragen, was er denkt, da sagt er es mir schon.
»Frag mich noch mal, ob ich Kinder will.«
»Warum? Fällt deine Antwort jetzt anders aus?«
»Mach‘s einfach. Frag mich noch mal.«
»Möchtest du Kinder?«
Er strahlt mich an. »Nur mit dir. Ich will nur Kinder, wenn ich sie mit dir haben kann. Mit dir will ich richtig viele Kinder haben. Ich will sehen, wie dein Bauch wächst, und ich will sehen, wie du unsere Babys das erste Mal im Arm hältst und wie du weinst, weil du so wahnsinnig glücklich bist. Und abends will ich an der Tür vom Kinderzimmer stehen und sehen, wie du unsere Kinder in den Schlaf wiegst und ihnen was vorsingst. Nichts würde mich glücklicher machen, als dich irgendwann zur Mutter machen zu dürfen.«
Ich küsse ihn auf die Schulter. »Du sagst immer so schöne Sachen. Ich würde mich auch gern so gut ausdrücken können wie du.«
»Du bist hier die Texterin. Du bist diejenige, die gut mit Sprache umgehen kann.«
»Ich finde ja auch, dass ich schreiben kann. Wahrscheinlich könnte ich aufschreiben, was ich für dich fühle, aber ich könnte es nie so spontan in Worte fassen wie du.«
»Dann mach das«, sagt er. »Schreib mir einen Liebesbrief. Ich hab noch nie einen bekommen.«
»Das glaube ich dir nicht.«
»Doch. Wirklich. Dabei habe ich mir immer einen gewünscht.«
Ich lache. »Echt? Solche kitschigen Wünsche hast du? Okay, dann schreibe ich dir einen.«
»Aber bitte einen, der länger ist als nur eine Seite. Und es soll ehrlich drinstehen, was du gedacht hast, als du mich das erste Mal gesehen hast. Und was du gefühlt hast, als du dich in mich verliebt hast. Und könntest du bitte auch ein bisschen Parfüm draufsprühen? Das haben die Mädchen aus meiner Klasse immer gemacht.«
»Sonst noch irgendwelche Wünsche?«
»Du könntest noch ein Nacktfoto von dir dazutun. Dagegen hätte ich auch nichts.«
Das lässt sich vielleicht einrichten.
Graham zieht mich auf seinen Schoß und legt die Decke um uns, sodass wir ganz darin eingewickelt sind. Er hat eine dünne Pyjamahose an, durch die ich sehr genau spüre, was er gerade für Gedanken hat. »Hast du schon mal bei zehn Grad draußen Sex gehabt?«
Ich grinse an seinen Lippen. »Nein. Aber ich würde es sehr gern mal ausprobieren und – stell dir vor – genau aus dem Grund hab ich vorhin nach dem Duschen den Slip weggelassen.«
Graham schiebt seine Hände unter meinen Po und stöhnt, als er mein langes T-Shirt nach oben schiebt. Ich stelle mich auf die Zehen und hebe meine Hüften etwas an, damit er sich aus der Hose befreien kann, dann lasse ich mich langsam wieder auf ihn sinken und nehme ihn in mich auf. Wir lieben uns, in die Decke gehüllt, das unendliche Rauschen des Atlantiks im Hintergrund. Der perfekte Moment, am perfekten Ort, mit dem perfekten Menschen. Und ich weiß schon jetzt ganz genau, dass ich ihm in meinem Liebesbrief genau diesen Moment beschreiben werde.