Fünfzehn


DAMALS

Ich habe es geschafft, den Kuchen in fünf Bissen hinterzuschlingen.

Als Grahams Eltern sich verwundert erkundigten, weshalb wir es plötzlich so eilig hätten, hat er behauptet, wir hätten Karten für eine Feuerwerksshow und müssten dringend los, um das »Große Finale« nicht zu verpassen. Ich war sehr erleichtert, dass sie die Anspielung nicht verstanden haben.

Auf der Fahrt zu mir reden wir wenig. Graham erzählt mir, wie gern er in der Dunkelheit mit runtergelassenem Wagenfenster unterwegs ist. Er stellt die Anlage lauter, greift nach meiner Hand und hält sie, bis wir bei mir vor der Tür stehen.

Ich schließe auf und bin schon im Wohnzimmer, bis ich merke, dass er mir nicht gefolgt ist. Als ich mich umdrehe, lehnt er am Türrahmen, als hätte er nicht vor, mit reinzukommen. Auf einmal sieht er sehr ernst aus.

»Alles okay?«, frage ich.

Graham nickt zwar, aber das überzeugt mich nicht. Sein Blick huscht durch den Raum und ich bin plötzlich verunsichert. Den ganzen Tag hat er mir eine lustige Seite von sich gezeigt, an die ich mich schon gewöhnt hatte. Jetzt spüre ich wieder die Intensität und Ernsthaftigkeit, die er auch ausstrahlen kann.

Er stößt sich von der Tür ab und fährt sich durch die Haare. »Vielleicht ist das alles ja … zu viel auf einmal. Vielleicht geht es zu schnell.«

Mir steigt sofort Hitze in die Wangen, aber es ist keine gute Hitze. Es ist die Art von Hitze, die man spürt, wenn man so wütend ist, dass es in der Brust brennt.

»Machst du Witze?« Ich sehe ihn fassungslos an. »Du warst derjenige, der mich gezwungen hat, deine Eltern kennenzulernen, bevor ich auch nur deinen Nachnamen gekannt habe!« Ich presse mir eine Hand an die Stirn, komplett fassungslos darüber, dass er jetzt auf einmal einen Rückzieher machen will. Nachdem wir Sex hatten. Ich lache über meine eigene Dummheit. »Das ist jetzt echt nicht wahr!« Wütend gehe ich auf ihn zu und will ihn in den Flur schieben und die Tür zuschlagen, aber er fasst mich um die Taille.

»Nicht!« Er schüttelt heftig den Kopf. »Nein.« Er nimmt mein Gesicht in beide Hände, küsst mich und geht dann wieder in den Hausflur zurück, bevor ich verstehe, was überhaupt passiert. »Es ist nur … Gott! Ich weiß nicht, wie ich es ausdrücken soll.« Er legt den Kopf in den Nacken und stöhnt laut auf, dann beginnt er im Flur auf und ab zu laufen. Er wirkt genauso zerrissen wie an dem Abend, an dem ich ihn zum ersten Mal gesehen habe. Damals ist er vor Ethans Apartment so auf und ab getigert.

Jetzt bleibt er stehen, dreht sich zu mir und stützt sich mit beiden Händen am Türrahmen ab. »Wir haben einen Tag zusammen verbracht, Quinn. Einen Tag. Er war absolut perfekt und wir hatten extrem viel Spaß und du bist wunderschön. Ich will dich umarmen und in dein Bett tragen und die ganze Nacht in dir sein und morgen auch und übermorgen und das ist …« Er fährt sich durch die zerzausten Haare und massiert seinen Nacken. »Aber ich hab einfach wahnsinnige Angst, dass ich, wenn ich jetzt nicht die Bremse reinhaue, vollkommen am Boden zerstört bin, falls sich herausstellt, dass du nicht dasselbe fühlst.«

Ich brauche ungefähr zehn Sekunden, bis ich begreife, was er da gerade gesagt hat. Bevor ich ihm antworten kann, dass er absolut recht hat, dass es viel zu früh ist und dass alles zu schnell geht, habe ich schon etwas anderes gesagt. »Ich weiß genau, was du meinst. Mir macht das auch totale Angst.«

Seine Augen leuchten. »Ja?«

»Hast du so was schon mal gefühlt. So schnell?«

»Nie. Noch nicht mal annähernd.«

»Ich auch nicht.«

Graham streicht mir durch die Haare, legt eine Hand um meine Taille und zieht mich an sich. An meinen Lippen flüstert er: »Willst du, dass ich gehe?«

Ich antworte mit einem Kuss.

Wir ziehen beide nicht eine Sekunde lang in Zweifel, was als Nächstes passieren wird. Da ist nicht der Hauch eines Zögerns. Graham stößt die Tür mit dem Fuß zu, und wir verschwenden keinen einzigen Gedanken daran, dass irgendetwas vielleicht zu schnell gehen könnte, als wir uns auf dem Weg zum Schlafzimmer die Kleider vom Leib reißen.

Und die einzige Frage, die er mir irgendwann stellt, lautet: »Willst du jetzt vielleicht mal oben sein?«

Eigentlich würde ein einziges »Ja« zur Antwort genügen, aber er hört mein »Ja!« noch mindestens fünfmal, bis wir uns irgendwann erschöpft voneinander lösen.

Jetzt liegt er auf dem Rücken und ich neben ihm, die Beine um seine geschlungen und so fest an ihn geschmiegt, als wären rechts und links von uns nicht noch jeweils mindestens sechzig Zentimeter Platz auf der Matratze. Ich zeichne mit dem Zeigefinger Kreise auf seine Brust. Wir schweigen, aber nicht, weil wir uns nichts zu sagen hätten. Wahrscheinlich denken wir beide darüber nach, wie radikal sich unser Leben innerhalb von nur zwei Tagen verändert hat. Das muss man innerlich erst mal sortieren.

Graham streicht meinen Arm entlang und drückt mir einen Kuss in die Haare. »Hat Ethan eigentlich um dich gekämpft?«

»Ja, ein paar Wochen lang.« Ich muss nicht extra erwähnen, dass er damit keinen Erfolg hatte. »Und Sasha?«

Er nickt. »Sie hat nicht locker gelassen. Einen Monat lang hat sie ungefähr dreimal am Tag angerufen. Meine Mailbox war voll von ihren Nachrichten.«

»Du hättest dir eine andere Nummer zulegen sollen.«

»Das ging nicht. Die Nummer war doch das Einzige, was du von mir hattest, um Kontakt aufzunehmen.«

Ich lächle. »Wahrscheinlich hätte ich dich nie angerufen«, gebe ich zu. »Ich hab den Zettel mit deiner Nummer an der Wand kleben lassen, weil es irgendwie ein gutes Gefühl war, sie zu haben. Aber ich war mir sicher, dass es falsch wäre, mich bei dir zu melden. Die Umstände, unter denen wir uns kennengelernt haben, waren einfach zu krank, als dass zwischen uns etwas Gutes entstehen könnte.«

»Glaubst du das immer noch?«

Ich krabble auf ihn, und seine gerunzelte Stirn glättet sich, als er lächelt. »Jetzt gerade ist es mir komplett egal, wie wir uns kennengelernt haben. Die Hauptsache ist, dass wir uns kennengelernt haben.«

Graham küsst mich auf die Mundwinkel und verschränkt unsere Finger ineinander. »Ich dachte, du wärst wieder mit Ethan zusammen und würdest dich deswegen nicht melden.«

»Ich hätte ihn nie mehr zurückgenommen«, sage ich. »Auf gar keinen Fall. Erst recht nicht, nachdem er auch noch versucht hat, Sasha die Schuld an allem zuzuschieben. Er hat es so dargestellt, als hätte sie sich ihm an den Hals geworfen und er hätte gar keine Chance gehabt, sich zu wehren. Er hat sie sogar als Schlampe bezeichnet. Danach habe ich kein Wort mehr mit ihm geredet.«

Graham schüttelt den Kopf. »Sasha ist keine Schlampe. Eigentlich ist sie wirklich in Ordnung, nur eben auch ganz schön egoistisch.« Er rollt mich auf den Rücken. »Ich bin mir sicher, die beiden haben das nur gemacht, weil sie gedacht haben, dass es niemals rauskommt.«

Ich begreife nicht, wie er so gelassen darüber reden kann. Ich war in den Wochen danach unfassbar wütend und habe die Sache total persönlich genommen, so als hätten die beiden das Ganze nur gemacht, um uns zu demütigen. Graham betrachtet es so, als hätten sie sich aufeinander eingelassen, obwohl wir ihnen eigentlich wichtiger waren.

»Habt ihr noch Kontakt?«

»Was? Nein!«, sagt er mit einem Lachen. »Nur weil ich sie nicht für einen Dämon aus der Hölle halte, heißt das nicht, dass ich jemals noch irgendwas mit ihr zu tun haben möchte.«

Ich lächle, weil ich genau weiß, was er meint.

Graham gibt mir einen Kuss auf die Nasenspitze und lehnt sich ein Stückchen zurück, um mich anzusehen. »Warst du im Nachhinein erleichtert, dass es so gekommen ist? Oder vermisst du ihn?«

Ich habe nicht den Eindruck, dass er das aus Eifersucht fragt. Ich glaube, er interessiert sich tatsächlich einfach dafür, wie es in meinem Leben danach weitergegangen ist. »Eine Weile habe ich natürlich schon getrauert«, antworte ich ehrlich. »Aber je mehr Zeit vergangen ist und je mehr ich über alles nachgedacht habe, desto klarer ist mir geworden, dass wir eigentlich kaum Gemeinsamkeiten hatten.« Ich drehe mich zur Seite und stütze den Kopf in die Hand. »Oberflächlich betrachtet vielleicht schon, aber hier«, ich lege meine andere Hand auf mein Herz, »hat was gefehlt. Ich war verliebt in ihn, aber ich glaube nicht, dass es die Art von Liebe war, die man braucht, um eine Ehe durchzustehen.«

Graham lacht. »Du sagst das so, als wäre eine Ehe so was wie ein Hurrikan der Stärke fünf.«

»Nicht die ganze Zeit über, das nicht. Aber ich bin davon überzeugt, dass es in jeder Ehe Zeiten gibt, die sich sehr gut mit einem Hurrikan vergleichen lassen. Und ja, ich glaube nicht, dass Ethan und ich diese Zeiten überlebt hätten.«

Graham schaut nachdenklich zur Decke. »Ich weiß, was du meinst. Bei uns hat es auch nicht gepasst. Ich bin mir sicher, dass ich Sasha auf lange Sicht enttäuscht hätte.«

»Du sie enttäuscht? Wie kommst du denn darauf?«

Graham sieht mich an. »Na ja, sie hätte es so gesehen.« Er streicht mir etwas von der Wange.

»Aber das wäre dann ihr Fehler gewesen, nicht deiner.«

Graham lächelt. »Weißt du noch, was in deinem Glückskeks stand?«

Ich zucke mit den Schultern. »Das ist schon so lange her. Irgendwas über Makel und ein Wort war falsch.«

Graham lacht. »›Wenn du das Licht immer nur auf deine Makel richtest, liegen all deine Perfektheiten im Schatten.‹«

Ich fand es schon total schön, als er gesagt hat, er hätte die Zettel aufgehoben, aber noch schöner finde ich es, dass er meinen Spruch noch auswendig weiß.

»Wir haben alle Makel und Fehler, Hunderte davon. Und genau wie in dem Spruch richten wir manchmal zu viel Licht darauf. Aber es gibt auch Leute, die das Licht auf die Makel anderer richten, um so von ihren eigenen Unvollkommenheiten abzulenken. Das kann so weit gehen, dass sie nur noch die Fehler der anderen sehen, bis alles andere aus dem Blickwinkel gerät und wir für sie nichts anderes mehr sind als ein einziger fetter Fehler.«

Graham sieht mich an. Obwohl das, was er gerade gesagt hat, irgendwie ziemlich deprimierend ist, wirkt er nicht deprimiert.

»Sasha ist so ein Mensch. Wenn ich mit ihr zusammengeblieben wäre, hätte sie nur meine Fehler gesehen und wäre irgendwann von mir enttäuscht gewesen. Sie war gar nicht in der Lage, sich auf das Positive in anderen Menschen zu konzentrieren.«

Gut, dass ihm das erspart geblieben ist. Es hätte mir leid für ihn getan, wenn er in einer unglücklichen Beziehung gelandet wäre. Mir wird klar, dass ich genau diesem Schicksal selbst auch nur ganz knapp entronnen bin. Ich betrachte meine Hände und merke, dass ich mir unbewusst über den nackten Ringfinger reibe.

»Ethan war auch so. Aber das ist mir erst bewusst geworden, als wir nicht mehr zusammen waren. Ich habe gemerkt, dass ich ohne ihn glücklicher bin, als ich es mit ihm war.« Ich sehe Graham an. »Dabei habe ich so lange geglaubt, er wäre gut für mich. Ich komme mir im Nachhinein total naiv vor. Menschenkenntnis gehört anscheinend nicht zu meinen Stärken.«

»Sei nicht so streng mit dir«, sagt Graham. »Jetzt weißt du ja, worauf es ankommt. Dass jemand der Richtige für dich ist, erkennst du daran, dass er dich nicht verunsichert, indem er dich auf deine Fehler aufmerksam macht, sondern dich stark macht, weil er vor allem deine guten Eigenschaften sieht.«

Ich schlucke. Hoffentlich bekommt Graham nicht mit, wie heftig mein Herz gerade schlägt. Und dann höre ich mich einen Satz sagen, der echt erbärmlich ist. »Das hast du wirklich … schön gesagt.«

Graham sieht mich einen Moment lang eindringlich an, dann schließt er die Augen und presst seinen Mund auf meinen. Unser Kuss ist nicht lang, aber so intensiv, dass es mir den Atem verschlägt, als wir unsere Lippen voneinander lösen. Ich senke den Blick und atme tief ein, bevor ich Graham wieder ansehe und grinse, um dem Moment etwas von seiner Angespanntheit zu nehmen. »Ich fasse es nicht, dass du den Glückskeks-Zettel aufgehoben hast.«

»Ich fasse es nicht, dass du den Zettel mit meiner Handynummer aufgehoben hast.«

Ich lache. »Okay, eins zu eins.«

Graham streicht mit dem Daumen über meine Lippen. »Was, glaubst du, ist dein größter Schwachpunkt? Was würdest du gern ändern?«

Ich küsse die Spitze seines Daumens. »Zählen Familienangehörige auch als Schwachpunkte?«

»Nein.«

Ich denke nach. »Es gibt viele Dinge, die ich gern ändern würde, aber was ich wirklich gern könnte, wäre, in andere Menschen reinzuschauen, zu wissen, was sie wirklich denken.«

»Ich glaube nicht, dass es so viele Leute gibt, die wissen, was andere wirklich denken. Sie bilden sich meistens nur ein, es zu wissen.«

»Kann sein.«

Graham zieht mein linkes Bein zu sich heran und plötzlich ist da wieder dieses Glitzern in seinem Blick. Er beugt sich zu mir, streicht mit seinen Lippen über meine und neckt mich mit der Zungenspitze. »Du kannst gleich anfangen zu üben«, flüstert er. »Was denke ich gerade?« Er lehnt sich zurück und betrachtet meinen Mund.

»Du denkst darüber nach, dass du gern nach Idaho ziehen und eine Kartoffelfarm kaufen würdest.«

Er lacht. »Verrückt! Genau das habe ich gerade gedacht, Quinn.« Er rollt sich auf den Rücken und zieht mich mit sich, sodass ich auf ihm sitze.

»Was ist mit dir? Was würdest du gern ändern?«

Das Lächeln verschwindet aus seinem Gesicht und da ist wieder diese Traurigkeit in seinen Augen. Wenn Graham traurig schaut, sieht er trauriger aus als jeder andere, den ich kenne. Dafür strahlt er aber auch mehr vor Glück als alle anderen, wenn er glücklich ist.

Er verschränkt seine Finger mit meinen und drückt sie. »Ich habe vor vielen Jahren mal einen Fehler gemacht, der nicht wiedergutzumachen ist.« Seine Stimme ist leise, und daran merke ich, dass er am liebsten nicht darüber reden würde. Dass er es trotzdem tut, berührt mich. »Ich war damals neunzehn und abends mit meinem besten Freund Tanner unterwegs. Sein Bruder Alex war auch dabei. Er war sechzehn. Wir waren auf einer Party, und weil ich von uns dreien am wenigsten getrunken hatte, habe ich uns nach Hause gefahren. Es waren nur vier Kilometer …«

Graham drückt meine Hand noch fester und atmet aus. Dass er mich nicht ansieht, lässt mich ahnen, dass die Geschichte nicht gut ausgegangen ist, und das tut mir unendlich leid. Ist das der Grund für die tiefe Traurigkeit, die ich schon bei unserer ersten Begegnung gespürt habe?

»Wir waren noch einen knappen Kilometer von zu Hause entfernt, da ist seitlich ein Truck in uns reingebrettert. Tanner war sofort tot. Alec wurde aus dem Wagen geschleudert und hat mit mehreren Knochenbrüchen überlebt. Ich war nicht schuld, der Truckfahrer hatte ein Stoppzeichen übersehen. Aber weil ich Alkohol im Blut hatte, musste ich eine Nacht in der Zelle verbringen und habe eine Anzeige wegen Fahrens unter Alkoholeinfluss bekommen. Letztendlich haben sie mich wegen Gefährdung eines Minderjährigen verurteilt, aber die Strafe ist zur Bewährung ausgesetzt worden, weil ich keine Vorstrafen hatte.« Graham seufzt schwer. »Ist das nicht komplett krank? Es ging vor Gericht nicht darum, dass ich am Steuer des Wagens saß, in dem mein bester Freund ums Leben gekommen ist, sondern nur um die Verletzungen seines Bruders.«

Ich sehe ihn stumm an und fühle mich unendlich hilflos. Es tut mir so leid, dass er so etwas mit sich herumtragen muss. »Das klingt, als hättest du Schuldgefühle, weil du nicht bestraft wurdest.«

Jetzt sieht Graham mich wieder an. »Ich fühle mich jeden Tag schuldig, weil ich am Leben sein darf und Tanner nicht.«

Ich kann förmlich spüren, wie viel Überwindung es ihn gekostet hat, mir diese schreckliche Geschichte zu erzählen. Umso mehr beeindruckt es mich, dass er es getan hat. Ich ziehe seine Hand an meine Lippen und küsse sie.

»Ich gebe mir Mühe, es rational zu betrachten«, sagt Graham. »Das macht es etwas leichter. Es hätte genauso gut sein können, dass Tanner am Steuer gesessen hätte und ich auf der Beifahrerseite. Wir hatten an dem Abend beide getrunken und trotzdem beschlossen, das Auto nicht stehen zu lassen. Dass wir beide einen Fehler gemacht haben, ändert aber nichts am Ergebnis. Ich lebe und er ist tot. Und natürlich habe ich mich tausendmal gefragt, ob ich dem Truck nicht vielleicht hätte ausweichen können, wenn ich nicht betrunken gewesen wäre. Hätte ich mir damals nicht eingebildet, fahrtüchtig zu sein, wäre Tanner heute womöglich noch am Leben. Das sind so die Gedanken, die mich umtreiben.«

Ich mache noch nicht einmal den Versuch, etwas Tröstendes zu sagen. Es gibt Dinge, die einfach nur traurig sind, ganz egal, aus welchem Blickwinkel man sie betrachtet. Ich streiche über Grahams Wange, über seine traurigen Augenwinkel und über die Narbe unter seinem Schlüsselbein, die er mir gestern gezeigt hat. »Ist die von dem Unfall?«

Er nickt stumm.

Ich beuge mich vor, lege meine Lippen auf die Narbe und hauche Küsse darauf, bevor ich mich wieder aufrichte und ihm in die Augen sehe. »Es tut mir so leid, dass dir das passiert ist.«

Er ringt sich ein Lächeln ab, das so schnell wieder weg ist, wie es erschienen ist.

»Danke.«

Ich küsse ihn auf die Wange. »Es tut mir leid, dass du deinen besten Freund verloren hast.«

Graham atmet hörbar aus, dann umarmt er mich fest. »Danke.«

Ich küsse ihn auf den Mund. »Es tut mir so leid«, flüstere ich.

Graham rollt mich auf den Rücken und legt sich sanft auf mich. Eine Hand in meinen Nacken gelegt, den Daumen an meiner Wange, hält er den Blick auf mich geheftet, während er erneut mit mir verschmilzt. Sein Mund schwebt über meinem, und sobald sich meine Lippen stöhnend öffnen, taucht seine Zunge tief in mich ein. Er küsst mich genau so, wie er mich liebt. Ruhig. Rhythmisch. Entschlossen.