Zwei
JETZT
Unsere Ehe ist nicht plötzlich zerbrochen. Das Ende kam nicht abrupt.
Es ist ganz allmählich passiert.
Man könnte sagen, dass sie langsam zerbröckelt ist.
Ich weiß nicht mal, wer von uns daran den größeren Anteil hat. Dabei haben wir so stark angefangen. Stärker als die meisten Paare. Davon bin ich überzeugt. Aber im Laufe der letzten Jahre ist uns die Kraft ausgegangen. Am meisten verstört mich daran, wie gut es uns gelingt, so zu tun, als hätte sich nichts verändert. Wir reden einfach nicht darüber. Anscheinend sind wir uns sehr ähnlich in unserer Neigung, vor dem zurückzuscheuen, was am dringendsten ausgesprochen werden müsste.
Zu unserer Verteidigung möchte ich sagen, dass es schwierig ist, sich einzugestehen, dass eine Ehe am Ende ist, wenn die Liebe noch da ist. Die Leute denken immer, eine Beziehung wäre erst dann vorbei, wenn die Liebe verloren gegangen ist; wenn aus Glücklichsein Hass geworden ist und anstelle von Verliebtheit nur noch Verachtung zu spüren ist. Aber Graham und ich hassen uns nicht. Wir sind nur nicht mehr die, die wir einmal waren.
Manchmal merken Paare gar nicht, wie sehr sie sich mit den Jahren verändern, weil die Veränderung bei beiden in die gleiche Richtung verläuft. Aber oft entwickeln sich Menschen auch auseinander.
Graham und ich haben uns mittlerweile schon so weit voneinander entfernt, dass ich mich nicht mal mehr daran erinnere, wie seine Augen aussehen, wenn er in mir ist. Dafür kennt er sicher jedes einzelne Haar auf meinem Hinterkopf – so oft, wie ich ihm abends im Bett den Rücken zukehre.
Man hat nicht unbedingt Einfluss auf das, wozu man durch äußere Umstände gemacht wird.
Nachdenklich drehe ich meinen Ehering zwischen Daumen und Zeigefinger. Graham hat mir erzählt, der Juwelier, bei dem er ihn gekauft hat, hätte ihm gesagt, der Ehering sei das Symbol ewiger Liebe. Zwei Anfänge zu einem Kreis verbunden, der eine einzige Mitte bildet. Ein Ende ist nicht vorgesehen.
Aber der Juwelier hat nie behauptet, dass der Ring ewiges Glück symbolisiert. Nur ewige Liebe. Das Problem ist, dass Liebe und Glück nicht notwendigerweise zusammenhängen. Das eine kann auch ohne das andere existieren.
Meine Hand liegt auf der Holzschatulle, als Graham wie aus dem Nichts sagt: »Was hast du damit vor?«
Obwohl er mich erschreckt hat, weil ich noch nicht mit ihm gerechnet habe, bleibe ich äußerlich gelassen und hebe sehr langsam den Kopf. Er hat schon die Krawatte abgenommen und die obersten drei Knöpfe seines Hemds geöffnet. Mit fragend hochgezogenen Augenbrauen lehnt er am Türrahmen und erfüllt den Raum mit seiner körperlichen Präsenz.
Ich fülle ihn nur mit meiner inneren Abwesenheit.
So lange und gut ich Graham auch kenne, hat er für mich doch nach wie vor etwas Rätselhaftes. Ein Glimmen in seinen dunklen Augen, das Gedanken in der Tiefe erahnen lässt, die er nicht ausspricht. Diese Tiefe war es, die mich vom Tag unserer ersten Begegnung an zu ihm hingezogen hat. Ich habe sie als unendlich beruhigend empfunden.
Schon verrückt, dass genau diese Tiefe mir jetzt Unbehagen bereitet.
Ich versuche noch nicht einmal, die Schatulle zu verstecken. Es ist sowieso zu spät. Er hat sie schon gesehen. Ich senke den Blick und streiche über den Deckel. Ich habe sie auf dem Dachboden gefunden. Unberührt. Fast vergessen. Als ich heute mein Brautkleid gesucht habe, bin ich darauf gestoßen. Eigentlich wollte ich bloß ausprobieren, ob mir das Kleid noch passt. Es passte zwar, aber ich sah anders darin aus als vor sieben Jahren.
Einsamer.
Graham kommt ins Schlafzimmer. Ich sehe die unterdrückte Sorge in seiner Miene, als er von der Schatulle zu mir schaut und darauf wartet, dass ich seine Frage beantworte. Warum ich mit der Schatulle hier im Schlafzimmer sitze. Warum ich sie überhaupt mit runtergenommen habe.
Ich weiß es ja selbst nicht so genau. Aber dass ich jetzt hier sitze und sie im Schoß halte, ist auf jeden Fall eine bewusste Entscheidung gewesen, deswegen kann ich nicht mit einem unverfänglichen »Ich? Wieso? Nur so« antworten.
Als Graham näher kommt, nehme ich einen leichten Biergeruch wahr. Eigentlich trinkt er kaum Alkohol, aber donnerstags geht er mit Kollegen abends immer noch etwas essen, und dann gönnt er sich ein paar Bier. Eigentlich mag ich diesen Donnerstagsgeruch, nur wenn er jeden Tag trinken würde, fände ich ihn auf Dauer vielleicht eklig. Aber Graham lässt sich in dieser Beziehung nie gehen. Deswegen habe ich es im Gegenteil immer irgendwie sexy gefunden, wenn er an Donnerstagen leicht angeheitert nach Hause kam. Manchmal habe ich dann extra etwas Verführerisches angezogen, ihn im Bett erwartet und mich auf den herb-süßen Geschmack seines Kusses gefreut.
Es ist bezeichnend, dass ich heute vergessen habe, mich darauf zu freuen.
»Quinn …?«
Ich höre, wie sich seine schlimmsten Befürchtungen stumm um die Buchstaben meines Namens legen, und sehe zu ihm auf. Er wirkt verunsichert, voller Sorge. Wann hat er angefangen, mich so anzusehen? Früher war da immer Begeisterung in seinem Blick, Faszination. Jetzt lese ich in seinen Augen nur Mitgefühl.
Ich bin es leid, so angesehen zu werden und nicht zu wissen, was ich auf seine Fragen antworten soll. Ich habe verlernt, mit ihm zu kommunizieren. Manchmal öffne ich den Mund, und es fühlt sich an, als würde der Wind mir die Wörter direkt wieder in die Kehle zurückwehen.
Ich vermisse die Zeiten, als ich noch das Bedürfnis hatte, ihm alles zu erzählen, was in mir vorging, weil ich Angst hatte, sonst platzen zu müssen. Ich vermisse die Zeiten, als es uns vorkam, als würden wir um etwas betrogen werden, nur weil wir zwischendurch auch mal schlafen mussten. Morgens habe ich ihn oft dabei ertappt, wie er mich angeschaut hat, wenn ich die Augen aufmachte. Er hat dann immer gelächelt und geflüstert: »Was habe ich verpasst, während du geschlafen hast?« Und ich habe mich ihm zugedreht und ihm in allen Einzelheiten erzählt, was ich geträumt hatte. Manchmal hat er so darüber gelacht, dass er Tränen in den Augen hatte. Die guten Träume hat er analysiert und von den Albträumen behauptet, sie hätten keinerlei Bedeutung. Irgendwie hat er es immer geschafft, mir das Gefühl zu geben, meine Träume wären besser als die von anderen.
Jetzt fragt er nicht mehr, was er verpasst hat, während ich geschlafen habe. Ich weiß nicht, ob das daran liegt, dass es ihn nicht mehr interessiert oder dass ich nichts mehr träume, das es wert wäre, erzählt zu werden.
Ich habe gar nicht gemerkt, dass ich immer noch an meinem Ehering drehe, bis Graham die Hand ausstreckt und sie auf meine legt. Vorsichtig zieht er sie von der Schatulle, als würde es sich dabei um eine Bombe handeln, die jeden Moment hochgehen könnte. Vielleicht fühlt es sich für ihn ja wirklich so an.
Er beugt sich vor und will mir einen Kuss geben.
Ich schließe die Augen, und seine Lippen rutschen über meine Stirn, weil ich im selben Moment vom Bett aufstehe, als hätte ich das sowieso vorgehabt. Er richtet sich auf und macht schnell einen Schritt zurück.
Ich nenne das für mich insgeheim den »Trennungstanz«. Partner A nähert sich Partner B in der Kussposition, Partner B tut so, als würde er es nicht mitbekommen, worauf Partner A sich zurückzieht, als wäre nichts passiert. So umtanzen wir uns jetzt schon eine ganze Weile.
Ich räuspere mich und gehe mit der Schatulle zum Bücherregal. »Ich hab sie vorhin auf dem Dachboden wiedergefunden«, sage ich, als ich mich bücke und sie zwischen ein paar Bücher auf das unterste Brett schiebe.
Das Regal hat Graham mir zu unserem ersten Hochzeitstag geschenkt. Er hat es selbst gebaut. Ich war voller Bewunderung, dass er so etwas kann. Als er es damals in unser Schlafzimmer getragen hat, hat er sich einen Splitter in die Hand gerammt. Ich habe die Lippen auf seinen Handballen gepresst und den Splitter herausgesaugt. Danach habe ich Graham sanft gegen das Regal geschoben, habe mich vor ihn hingekniet und mich noch einmal auf meine Weise für das Geschenk bedankt.
Das war zu einer Zeit, als zärtliche Berührungen noch Hoffnung in sich trugen. Mittlerweile erinnern mich seine Berührungen vor allem an das, was ich für ihn nie sein kann.
Als ich höre, wie er auf mich zukommt, richte ich mich schnell wieder auf und stütze mich mit einer Hand am Regal ab.
»Warum hast du die Schatulle mit runtergebracht?«, fragt er, als er hinter mir steht.
Ich sehe ihn nicht an, weil ich nicht weiß, wie ich darauf antworten soll.
Er ist mir jetzt so nahe. Sein Atem streicht durch meine Haare und weht über meinen Nacken, als er seufzt. Er legt seine Hand auf meine und senkt zu einem stummen Kuss die Lippen auf meine Schulter.
Die Intensität meines Verlangens nach ihm versetzt mir einen schmerzlichen Stich. Ich würde mich so gern zu ihm umdrehen und meine Zunge zwischen seine Lippen gleiten lassen, seinen Mund ausfüllen. Ich vermisse, wie er schmeckt, wie er riecht, die lustvollen Laute, die er ausstößt. Ich vermisse es, sein Gewicht auf mir zu spüren, vermisse es, dass er mir so nah sein will, als würde er in mich hinabtauchen, um sich an mein Herz schmiegen zu können, während wir uns lieben. Seltsam, wie sehr einem ein Mensch fehlen kann, der doch gar nicht weg ist. Seltsam, dass ich es vermisse, einen Menschen zu lieben, mit dem ich doch immer noch schlafe.
Aber bei aller Trauer um das, was wir verloren haben, muss ich mir ehrlicherweise eingestehen, dass es wahrscheinlich schon ich bin, die zu einem großen Teil – wenn nicht sogar hauptsächlich – für das verantwortlich ist, worin sich unsere Ehe verwandelt hat. Die Erkenntnis beschämt mich so sehr, dass ich kurz die Augen schließe. Ich bin eine Meisterin in der Kunst des Ausweichens geworden und bewege mich so geschickt haarscharf an Graham vorbei, dass ich mich manchmal frage, ob er es überhaupt bemerkt. Ich tue so, als wäre ich schon eingeschlafen, wenn er ins Bett kommt. Ich gebe vor, ihn nicht zu hören, wenn er im Dunkeln meinen Namen raunt. Ich schütze Geschäftigkeit vor, wenn er auf mich zugeht. Ich berufe mich auf Schmerzen, wenn ich keine habe. Ich schließe wie aus Versehen die Tür, wenn ich dusche. Ich gebe vor, glücklich zu sein, obwohl ich doch nur noch existiere.
Es fällt mir zunehmend schwerer, ihm vorzuspielen, ich würde seine Berührungen genießen. Ich genieße sie nicht … ich brauche sie nur. Das ist ein Unterschied. Manchmal frage ich mich, ob er mir womöglich genauso etwas vormacht wie ich ihm. Will er mich so sehr, wie er es vorgibt? Wünscht er sich wirklich, ich würde mich ihm nicht entziehen? Oder ist er womöglich dankbar, wenn ich es tue?
Jetzt legt er einen Arm um mich und ich spüre seine warme Hand an meinem Bauch. Einem Bauch, der nach sieben Jahren Ehe immer noch mühelos in mein Hochzeitskleid passt. Einem Bauch, der von den Spuren einer Schwangerschaft unberührt geblieben ist.
Zumindest das habe ich. Einen Bauch, um den mich die meisten Mütter beneiden würden.
»Hast du …« Seine Stimme ist leise und liebevoll und voller Angst vor der Frage, die er mir stellen wird. »Hast du schon mal daran gedacht, sie aufzumachen?«
Graham stellt nur dann Fragen, wenn er unbedingt Antworten braucht. Das ist eine Eigenschaft, die ich an ihm immer geliebt habe. Er füllt Leerräume nicht mit unnötigem Gerede. Entweder hat er etwas zu sagen oder nicht. Entweder will er die Antwort auf eine Frage wissen oder nicht. Er würde mich niemals fragen, ob ich daran gedacht habe, die Schatulle zu öffnen, wenn ihm meine Antwort nicht so wichtig wäre, dass er sie hören müsste.
Aber jetzt in diesem Moment ist genau das die Eigenschaft, die ich an ihm am wenigsten mag. Ich will diese Frage nicht hören, weil ich selbst nicht weiß, wie ich sie beantworten soll.
Statt zu riskieren, dass der Wind mir meine Wörter wieder in die Kehle zurückweht, zucke ich nur mit den Schultern. Nach all den Jahren, in denen wir die Ausweichbewegungen perfektioniert haben, hält er plötzlich in unserem Trennungstanz inne, um eine ernst gemeinte Frage zu stellen. Eine Frage, von der ich schon seit einer Weile erwartet habe, dass sie irgendwann kommen wird. Und was mache ich?
Ich zucke mit den Schultern.
Der Moment, der meinem Schulterzucken folgt, ist wahrscheinlich der Grund, warum er so lang gebraucht hat, mir diese Frage zu stellen. Es ist der Moment, in dem ich spüre, wie sein Herz kurz stehen bleibt. Der Moment, in dem er seine Lippen in meine Haare presst und einen Seufzer tut, der für immer verloren ist. Der Moment, in dem er begreift, dass er mich zwar mit seinen Armen umschlingen, mich aber nicht halten kann. Das kann er schon seit einer ganzen Weile nicht mehr. Es ist schwer, jemanden zu halten, der längst entglitten ist.
Ich erwidere seine Umarmung nicht. Er lässt mich los. Ich atme aus. Er geht aus dem Schlafzimmer.
Wir tanzen weiter.