31
VISYNA GRUB IHRE Finger tief in das Fell an Jirs Hals, als sie und die anderen Soldaten von Kritton und den Stählernen Elfen durch den Seitentunnel geführt wurden. Bei jedem Schritt spürte Visyna die uralte Macht, die hier herrschte. Sie gingen schweigend, und schon bald verlor Visyna das Gefühl für die Zeit. Niemand sprach ein Wort. Die Macht lastete schwer in der Luft und erstickte jedes Gespräch. Schließlich wurde es vor ihnen heller, und die Gruppe wurde in einen Raum geführt, der so groß war, dass Visyna die gegenüberliegende Wand nicht sehen konnte.
Was sie sah, ließ sie staunen. Pfeiler aus dem Fels, in den die Höhle geschlagen war, erhoben sich zu einer Decke, die mehrere hundert Meter hoch war. In den Wänden befanden sich Hunderte und Aberhunderte von Nischen. In ihnen sah Visyna endlose Reihen von Büchern, Schriftrollen und Pergamenten, und noch mehr davon lag in den Regalen. Der Boden schien ein Meer aus Artefakten zu sein. Messing, Elfenbein, Marmor, Glas, prachtvolle Brokatstoffe, Wandteppiche, Edelsteine, Goldmünzen, Juwelen und Schätze, die Visynas Begriffsvermögen überstiegen. Und doch war das noch gar nicht das Erstaunlichste. Weit vor ihnen sah sie eine riesige Ansammlung von Bäumen.
Mitten in dem Gebäude wuchs ein Wald.
Und dahinter schien ein See zu sein. Denn das Wasser kräuselte sich, als würde ein Wind darüberstreichen. Visynas Haar geriet ihr in die Augen, und sie spürte, dass tatsächlich ein Wind wehte.
Das war zwar vollkommen unlogisch, und doch waren sie hier.
»Willkommen in der verschollenen Bibliothek von Kaman Rhal«, sagte Kritton.
»Es stimmt also wirklich«, erwiderte Visyna und sah sich um. Die anderen staunten ebenfalls. Und jetzt nahm Visyna auch die Soldaten der ursprünglichen Stählernen Elfen genauer wahr. Sie gingen mit großen Bündeln in den Armen zwischen den Nischen hin und her. Dabei beeilten sie sich, schleppten Bücher und Schriftrollen zu großen Tischen, die in der Mitte der Bibliothek aufgestellt waren, und legten sie dort ab. Eine Gruppe von Zwergen war dabei, sie verschiedenen Stapeln zuzuordnen. Neben den Tischen standen Karren, vor die Kamele gespannt waren. Sie beladen eine Karawane in der Bibliothek, dachte Visyna.
Ein Zwerg beaufsichtigte die Operation. Er sah zu ihnen hin und kam auf sie zu.
»Griz Jahrfel!«, sagte Hrem, der den Zwerg erkannte.
»So sieht man sich wieder«, erwiderte Griz, der sich verbeugte, als er Visyna sah. »Mylady, Gentlemen. Wie ich sehe, haben Sie unser kleines Versteck entdeckt.« In seiner Stimme schwang ehrlicher Stolz mit.
»Aber wie … wie haben Sie das hier gefunden?«, erkundigte sich Visyna.
Griz blinzelte ihr zu. »Legenden und Mythen sind auch nicht mehr das, was sie einmal waren. Jedenfalls hat man mir das erzählt. Die verschollene Bibliothek war nie wirklich verschollen. Die wahre Tragödie war der Sandsturm, der Kaman Rhal und die Stadt Urjalla unter sich begraben hat. Diese Bibliothek ist immer hier gewesen. Nur ist es so, dass jeder, der von ihr wusste, gestorben ist. Das heißt, fast jeder. Einige sogenannte Nachfahren von Kaman Rhal wussten von ihrer Existenz und haben dieses Wissen von Generation zu Generation weitergegeben, bis zu einer Zeit, in der diese Bibliothek wiederentdeckt werden sollte.« Er sah zur Decke hinauf. »Eine Zeit wie diese hier, wo die unmittelbare Rückkehr des Juwels der Wüste bevorsteht. Der Suljak hat entschieden, dass es an der Zeit sei, einen Teil der … kostbaren Gegenstände wegzuschaffen, da er wusste, dass der Prinz und das Imperium mit Sicherheit kommen würden.«
»Der Suljak weiß das? Aber Sie plündern die Bibliothek!« Visyna konnte immer noch nicht glauben, was sie da sah.
Griz nickte. »Aye, so könnte man es nennen. Andererseits ist so ziemlich alles, was sich hier befindet, irgendwann einmal woanders gestohlen worden. Sie kennen vielleicht das alte Sprichwort: ›Man kann niemals etwas wirklich besitzen – man stiehlt es nur, bis der nächste Dieb kommt und es mitnimmt.‹«
Visyna drehte sich zu Kritton herum. »So also brechen Sie den Schwur: indem Sie mit Dieben zusammenarbeiten? Wo ist Ihr Ehrgefühl geblieben?« Wie können das Konowas Elfen sein?, dachte sie. Sie sah sich um und hob die Stimme, damit auch die anderen Elfen sie hören konnten. »Konowa ist immer noch da draußen und kämpft für euch! Er führt Männer wie diese hier«, sie deutete auf Hrem, Zwitty und Teeter, »gegen alle Feinde, einschließlich der Streitkräfte der Schattenherrscherin. Und ihr drückt euch hier herum wie armselige Verbrecher. Wie könnt ihr es wagen …?«
Kritton sprang vor und packte ihre Kehle. Seine Finger waren eiskalt, während das Frostfeuer ihre Haut versengte. »Wage es nicht, jemals unsere Ehre in Frage zu stellen, du Hure!«
Jirs Reißzähnen und drei Musketen standen Dutzende von Musketen der Elfen gegenüber. »Lass sie los!«, brüllte Hrem. Schwarzes Feuer überzog sein Bajonett, aber es loderten keine Flammen auf.
»Die Magie, die hier herrscht, ist zu alt und zu stark, als dass dieses Frostfeuer funktionieren könnte«, erklärte Kritton, ohne Visynas Hals loszulassen. Sie konnte atmen, aber bei jedem Atemzug brannte ein eiskalter Wind schmerzhaft in ihren Lungen. »Das ist unser Druckmittel. Der Prinz will die Bibliothek. Das ist das Einzige, wovon er redet. Er sucht nach Wissen, während die Welt langsam verrückt wird. Also gut. Wenn er Wissen will – wir haben es, und für einen angemessenen Preis werden wir es ihm verkaufen.«
»Du willst einen Handel abschließen?«, fragte Hrem ungläubig.
»Wir wollen, dass unsere Ehre wiederhergestellt wird. Wir wollen den Makel unserer Entehrung ein für alle Mal ausgelöscht haben. Es ist ganz einfach. Diese Elfen wissen, dass wir von Flinkdrache und dem Imperium getäuscht und entehrt wurden. Sie hatten viel Zeit, darüber nachzudenken. Als ich ihnen sagte, dass die Stählernen Elfen ohne sie neu gebildet wurden, haben sie die Dinge gesehen, wie sie wirklich sind.«
»Das bezweifle ich, Verräter!«, dröhnte eine Stimme aus einem anderen Tunnelausgang.
Alle drehten sich herum, als Korporal Yimt Arkhorn in die Bibliothek trat, gefolgt von Chayii und den anderen Soldaten. Visyna versuchte zu sprechen, aber Kritton ließ sie nicht los.
»Lass Visyna los, Kritton. Du steckst auch so schon genug in Schwierigkeiten«, sagte Yimt. Er hielt den Schmetterbogen fest an seiner Hüfte, und beide Läufe zielten direkt auf den Elf.
Kritton lachte. »Oder was? Du willst mich erschießen? Wir wissen beide, dass du auch sie töten würdest, wenn du das versuchst, und außerdem sind hier Hunderte von Elfen, die euch alle eine Sekunde später erschießen würden.«
»Korporal, senke den Schmetterbogen, und lass uns von Zwerg zu Zwerg reden«, mischte sich Griz ein und hob beschwichtigend die Hände. »Das hier ist eine komplizierte Situation, die Zeit braucht, bis man sie ganz überblickt.«
Yimt nickte, als wollte er ihm zustimmen, dann drehte er sich herum und richtete seinen Schmetterbogen auf die Karren, die gerade beladen wurden. Augenblicklich stellten alle ihre Arbeit ein. »Ihr habt da einen Haufen sehr wertvoller und, wenn ich mich nicht irre, auch sehr brennbarer Dinge.«
»Sei kein Narr, Arkhorn!«, brüllte Griz und trat von Yimt zurück. »Kritton, lass sie los. Das ist Wahnsinn. Es gibt hier genug Schätze, dass alle mehr als tausendfach das bekommen können, was sie haben wollen.«
»Nicht ihre Ehre«, antwortete Yimt und sah die Elfen an. »Ihr seid immer noch Soldaten. Dann benehmt euch gefälligst auch so.«
Visyna sah zu, selbst als ihr langsam schwarz vor Augen wurde. Die Elfen blickten Kritton an. Zum ersten Mal bemerkte sie Zweifel in ihren Augen. Sie wussten, dass dies hier falsch war. Was auch immer Kritton ihnen gesagt hatte, konnte nicht stärker sein als das, was sie in ihrem Herzen fühlten.
»Du hast verloren, Arkhorn«, sagte Kritton. »Ihr andern lasst eure Waffen fallen, sofort!«
Er drückte Visynas Kehle noch fester zu, und sie verkrampfte sich, als der Raum sich um sie herum zu drehen begann.
Musketen fielen klappernd auf den Boden. Der Druck an ihrem Hals ließ nach, und schließlich ließ Kritton sie los. Sie sog die warme Luft ein und sank auf die Knie, während Chayii zu ihr lief und sie festhielt.
Kritton packte seine Muskete mit beiden Händen und richtete sie auf Yimt. »Sie wissen, wer sie sind, und sie wissen auch, was ihnen gestohlen wurde. Dies hier«, er deutete mit der Hand auf die Bibliothek, »ist unser Weg, die Dinge wieder geradezurücken.«
»Dies hier«, antwortete Yimt und sah die Elfen an, »ist Plündern. Wie zum Teufel könnt ihr nur glauben, dass dies eure Ehre wiederherstellt? Glaubt ihr vielleicht, ihr könntet sie zurückkaufen?« Er deutete mit seinem Schmetterbogen auf einen der Elfen. »Wie viel kostet es denn heute, sich einen Elf zu kaufen?«
»Du … verstehst … das nicht!«, schrie Kritton. »Unsere Ehre …«
»Schieb dir deine verdammte Ehre sonstwohin!«, brüllte Yimt. »Es gibt im Moment wichtigere Dinge, über die wir uns Sorgen machen sollten, als deine verdammten verletzten Gefühle!«
Kritton zitterte vor Wut. Die Elfen sahen zwischen ihm und Yimt hin und her, reagierten aber immer noch nicht.
Yimt stand noch einen Moment lang da und sah jeden Elf an, der seinen Blick erwiderte. Schließlich blickte er zu Visyna hinüber und lächelte. »Sag Rallie, dass die geheime Ingredienz in all meinen Eintöpfen Liebe ist.« Dann drückte er auf den Auslöser seines Schmetterbogens. Zwei Sprengpfeile flogen durch den Raum, trafen einen Karren und explodierten. Die brennenden Trümmer flogen zehn Meter hoch in die Luft. Die beiden Kamele vor den Karren erschraken und gingen durch, wobei sie den Flammenkarren mitrissen. Sie zogen eine Spur von Feuer hinter sich her, während Elfen und Zwerge Deckung suchten.
»Nein!«, schrie Kritton.
Visyna spürte, wie Chayii sich verspannte, und sie reagierten beide gleichzeitig. Chayiis Dolch flog bereits durch die Luft, als Visyna ihre Hände ausstreckte und begann, ihre Magie zu weben, doch beide kamen zu spät.
Kritton feuerte.
Chayiis Dolch erwischte Kritton an der Schulter und riss ihm die Muskete aus den Händen. Visyna versuchte, eine Luftbarriere vor der Mündung zu errichten, aber die Energie, die sie zu weben versuchte, verbrannte ihre Finger zu stark. Sie schrie und musste aufgeben.
Krittons Schuss traf Yimt mitten in die Brust. Er riss vor Überraschung den Mund auf, der Schmetterbogen glitt ihm aus den Händen und fiel klappernd zu Boden. Er hob die rechte Hand zur Brust und drückte sie auf die Wunde.
»Arschloch!«, stieß er hervor, fiel vorwärts zu Boden und blieb regungslos liegen.
»Yimt!«, schrie Scolly und rannte zu dem Zwerg. Doch die Elfen versperrten ihm den Weg.
Griz trat vor und zerrte an seinem Bart. »Hölle und Verdammnis! Also gut, machen wir, dass wir hier wegkommen. Dieser Ort wird ein Scheiterhaufen. Du«, er deutete auf Kritton, »lass deine Elfen diese Leute hier wegbringen. Wir treffen uns in drei Tagen am vereinbarten Ort.« Mit einem letzten Blick auf Yimts Leichnam drehte er sich um und rannte davon. Die Flammen krochen bereits die Wände hinauf, während dichter, schwarzer Rauch aus den Nischen quoll.
Kritton bedeutete den Elfen, ihre Gefangenen abzuführen.
Visyna hatte Tränen in den Augen, aber nicht vom Rauch. Sie warf einen letzten Blick zu der Stelle, an der Yimt lag, und wurde dann unsanft auf die andere Seite der Bibliothek geschoben. Das Letzte, was sie sah, war der Rauch, der den Leichnam des Zwergs einhüllte, und eine Schattengestalt, die dort stand, wo der Zwerg gefallen war.