29

KONOWA SCHÄUMTE VOR Wut, als sie die Oase erreichten. Die Sonne war beinahe hinter dem Horizont versunken, und aus nördlicher Richtung blies ihnen ein starker Wind entgegen. Konowa war schwindlig von den Lügen und Intrigen des Suljak. Er versuchte, ein Argument zu finden, das den Mann dazu brachte, es sich noch einmal zu überlegen, und sann anschließend über eine Möglichkeit nach, wie er den Prinzen davon überzeugen konnte, die Vereinbarung zu ignorieren. Er spielte sogar mit dem Gedanken, den alten Mann mit brutaler Gewalt zu unterwerfen, wusste jedoch die ganze Zeit, dass es keine Rolle mehr spielte.

Ihr Forst war riesig. So weit das Auge blickte, erstreckten sich die Sarka Har, und das ganze Gebiet im Norden war ein einziges Meer aus wogendem, schwarzem Tod. Jahrhundertelang war es den Elfen der Langen Wacht gelungen, diesen Schrecken auf einen einzigen Berggipfel zu begrenzen. Selbst in Elfkyna hatten sich die Bäume höchstens auf eine Zahl von ein paar Tausend beschränkt, aber jetzt überzog der Forst Hunderte von Meilen. Konowa sah zum Himmel hoch und wünschte sich, dass er an einen Gott glauben würde, zu dem er beten könnte. Er versuchte es. »Falls da oben irgendjemand zuhört: Es wird verdammt noch mal Zeit, dass du von deiner verfluchten Wolke runterkommst und etwas Nützliches tust.«

Ein paar tausend Meter entfernt standen die Anführer der Armee der Hasshugeb-Stämme und warteten. Sie boten auf ihren Kamelen einen beeindruckenden Anblick und wirkten ruhig, trotz des Walls aus schwarzem Tod, der sich ihnen näherte. Der Prinz und der Suljak ritten um die Oase herum zu der Armee. Konowa blieb bei den Stählernen Elfen. Er sah sich um, entdeckte Fahnensergeant Aguom und winkte ihn zu sich. Der Sergeant kam eilig heran und salutierte. Konowa beugte sich seitlich von dem Kamel herab, während er versuchte, sein Gleichgewicht zu halten.

»Führen Sie die Männer in die Oase. Aber ich will, dass sie sich am anderen Ende sammeln und darauf vorbereitet sind, sofort wieder abzurücken. Wir werden heute Nacht nicht hierbleiben.«

Sergeant Aguom warf einen Blick über die Schulter auf den nahenden Forst und sah dann Konowa an. »Ich hoffe nur, dass es diesmal ein größerer Stern ist.«

Konowa nickte, ließ den Mann wegtreten und lenkte sein Kamel durch die Oase. Die Spuren eines Kampfes waren am Boden zu sehen. Das ergab keinerlei Sinn, und Konowa war keineswegs überzeugt, dass das ein gutes Zeichen war. Er erreichte die gegenüberliegende Seite der Oase und schaute zu, wie das Regiment hindurchmarschierte. Zufrieden trieb er sein Kamel weiter.

Der Forst der Schattenherrscherin hatte mittlerweile den rechten Rand der Knochenschlucht erreicht, während die Wüstenkämpfer an der linken Seite standen. Bis jetzt hatte es noch keine Kämpfe gegeben, aber die Lücke zwischen ihnen würde sich innerhalb einer Stunde schließen. Wenn Konowa seine Stählernen Elfen in die Schlucht führen wollte, dann musste er es jetzt tun.

Der Prinz und der Suljak sprachen mit einigen Kriegern der Hasshugeb. Konowa versuchte sein Kamel weiterzutreiben, aber das Tier blieb ruckartig stehen und weigerte sich, auch nur noch einen Schritt zu tun. Konowa fluchte und gab ihm einen Schlag mit der flachen Hand, doch das Tier rührte sich nicht. Die anderen Kamele verhielten sich ebenfalls seltsam, und ihre Reiter versuchten, sie unter Kontrolle zu bringen. Einen Augenblick später flog der Sand um sie herum in die Luft, und schuppige Bestien tauchten auf. Aus ihren Rachen schlug weißes Feuer.

»Meine Drakarri«, erklärte der Suljak, stieg von seinem Kamel ab und ging auf die Kreaturen zu.

Die Drakarri folgten seinen Bewegungen, und ihre Köpfe bewegten sich in perfektem Gleichklang mit seinen Schritten. Weiße Flammen tropften aus ihren Mäulern in den Sand, wo sie die Körner zu rußigem Glas schmolzen.

Der Suljak drehte sich um und sah Konowa an. Die Eichel an seiner Brust knisterte von Frost, als ihre Blicke sich trafen.

»Wie ich Ihnen bereits sagte, Major, Politik ist eine schmutzige Angelegenheit! Am Ende jedoch ist es Macht, die die Oberhand behält. Und dies hier«, er deutete mit einer schwungvollen Handbewegung auf die Drakarri, die sich vor ihm versammelt hatten, »ist meine Macht! Das ist die Macht der Wüste.«

Dann wandte sich der Suljak den Kreaturen zu und begann zu sprechen. Der Wind frischte auf, und Sandkörner wirbelten durch die Luft. Die Sprache, die der Suljak benutzte, kratzte in Konowas Ohren. Obwohl er sie nicht verstand, wusste er, dass es eine uralte Sprache war. Hunderte von Kreaturen krochen derweil aus dem Sand hervor. Und alle, die an die Oberfläche kamen, drehten sich sofort herum und sahen den Suljak an. Seine Stimme wurde lauter, und gleichzeitig begann der Wind zu heulen. Konowa hob eine Hand, um sein Gesicht vor den Sandkörnern zu schützen, die über seine Haut schabten.

Wie ein Wesen drehten sich die Kreaturen um und bewegten sich auf den Forst zu. Sie krabbelten auf ihren kurzen Beinen und schnappten voller Vorfreude mit ihren Kiefern. Frostfeuer umhüllte die ersten Sarka Har, und der Sand um sie herum gefror.

Hier kämpfte Albtraum gegen Albtraum.

Dann blieben die Drakarri stehen.

Die Stimme des Suljak übertönte das Heulen des Windes, und er hob die Arme, als er den Kreaturen einen Befehl gab. Die Drakarri bewegten sich erneut auf ihren Forst zu, drehten dann jedoch ab und krochen zurück, in Richtung der Krieger der Hasshugeb.

Konowas Sinne schienen sich warnend zu vereisen, als eine neue Stimme vom Wind herangetragen wurde. Sie kam von der Knochenschlucht und schien die Luft zu zerreißen. Konowa schüttelte sich und spürte hinter sich Unruhe in den Reihen der Stählernen Elfen. Er wandte sich um. »Ruhig! Bleibt ruhig, Jungs.«

Der Suljak schrie erneut einen Befehl, doch die Kreaturen hörten nicht mehr auf ihn. Sie hatten die Köpfe auf die Seite gelegt, während sie der Stimme aus der Schlucht lauschten. Dann rissen sie ihre Mäuler auf und schlossen sie wieder, während weiße Flammen auf den Sand zuckten.

Im nächsten Moment zerriss die Stimme aus der Schlucht die Luft wie eine Kanonensalve.

Die Drakarri kreischten, und die Hälfte von ihnen wirbelte herum, um ihren Forst anzugreifen. Die andere Hälfte stürzte sich auf die Krieger der Hasshugeb.

»Nein!«, brüllte der Suljak, als weißes Feuer zwischen den Kriegern aufzuckte. Die Musketen der Männer knallten. Konowa beschwor das Frostfeuer und gab dem Kamel erneut einen Schlag. Diesmal bewegte es sich.

Er hielt sich fest, als sie auf den Prinzen zugaloppierten. Als sie ihn fast erreicht hatten, riss Konowa an den Zügeln und schloss die Augen. Wundersamerweise hielt das Kamel tatsächlich an. Vielleicht fand es ja einen kleinen Trost an der Gesellschaft seiner Artgenossen.

Der Suljak ging langsam rückwärts und schüttelte den Kopf. »Nein! Nein, das kann nicht sein! Ich befehlige die Macht! Die Schattenherrscherin kann unmöglich von ihrem Berg aus über diese Distanz so stark sein.« Er benutzte erneut die uralte Sprache, aber die Drakarri reagierten nicht. Sie hörten auf eine viel, viel ältere Stimme.

Konowa sah sich um. Menschen kreischten, und Sarka Har schlugen mit ihren Ästen um sich, während das weiße Feuer den Sand und alles, was sich darauf befand, versengte. »Ist es nicht ganz offensichtlich? Sie haben nicht nur Kaman Rhals Macht beschworen – Sie haben auch ihn selbst zurückgeholt!«

»Nein, nein, das ist nicht möglich. Die Macht durchströmt mich, ich befehlige sie«, sagte der Suljak und sah auf seine Hände. Dann hob er den Blick und deutete auf Konowa. »Sie! Sie haben das angerichtet! Es ist Ihr verderblicher Einfluss, der das alles hier verursacht hat.«

»Der Major ist ein loyaler Offizier, und ich werde nicht dulden, dass er beleidigt wird«, sagte der Prinz und stellte sich zwischen den Suljak und Konowa. »Bringen Sie sofort diese Missgeburten unter Kontrolle.«

Der Suljak warf Konowa einen finsteren Blick zu. »Sie machen gemeinsame Sache mit der Schattenherrscherin. Vor Ihrer Ankunft war meine Kontrolle über die Macht vollkommen. Ich habe Sie und die Macht, über die Sie verfügen, unterschätzt, aber diesen Fehler werde ich nicht noch einmal machen.« Er legte seine beiden Handflächen aneinander und schloss die Augen. Der Wind fegte brüllend um die drei Männer herum, und der Sand unter ihren Füßen begann sich zu bewegen.

Konowa versuchte, das Frostfeuer zu beschwören, aber die Stärke der Magie des Suljak erschwerte es ihm. Er versuchte es noch einmal, brachte aber nur ein kleines Flackern zustande.

Prinz Tykkin warf einen Seitenblick auf Konowa und sah dann den Suljak an. Ohne ein Wort zu sagen, holte der Prinz mit der rechten Faust aus und hämmerte sie dem Suljak ins Gesicht. Der alte Mann flog nach hinten und landete auf dem Rücken. Der Wind erstarb.

»Im Lichte der jetzigen Umstände ist unsere Vereinbarung null und nichtig«, erklärte der Prinz.

Die Stimme aus der Schlucht wurde lauter. Das weiße Feuer auf dem Wüstenboden loderte heller, und die Schreie wurden intensiver.

Konowa sah den Prinzen an und wusste einen Moment lang nicht, was er sagen sollte. Schließlich drehte er sich zum Suljak herum, der sich langsam wieder aufrappelte. Jetzt war er nicht mehr der mächtige Intrigant, sondern ein verängstigter alter Mann. »Es sieht so aus, als wäre Ihr Spiel nicht raffiniert genug gewesen!«, stieß Konowa hervor. Er spie die Worte förmlich aus, unfähig, seinen Abscheu zu verbergen. Dann drehte er sich zum Prinzen herum. »Sobald sich diese Gasse geschlossen hat, haben wir keine Chance mehr durchzukommen, Hoheit. Wir müssen jetzt sofort reagieren, während draußen noch das Chaos herrscht.«

Der Prinz betrachtete die Gasse. »Schaffen wir es, sie alle durchzubringen?«

Konowa nickte. Er würde sie durchbringen, und wenn er alles Lebende und Tote, das ihm in die Quere kam, vernichten musste. Die Zeit der Spielchen war vorbei. »Ja, aber wir müssen sofort aufbrechen.«

Der Suljak starrte sie beide an. In seinen Augen glühte der Wahnsinn. »Wir gehören immer noch zum Imperium. Es ist Eure Pflicht, mein Volk zu retten. Ich … ich befehle Euch, mein Volk zu retten! Lasst Eure Soldaten angreifen, und befreit die Wüste von diesem Unrat! Ihr habt das alles herauf beschworen. Jetzt müsst Ihr es auch ungeschehen machen!« Seine Gelassenheit war verschwunden, und an ihre Stelle war etwas getreten, was Konowa nur allzu deutlich erkannte.

»Die einzige Hoffnung für Ihr Volk ist, dass wir den Stern bekommen, bevor jemand anders das schafft«, sagte Konowa. »Ihre Krieger können nicht in die Schlucht gelangen, und ihr Forst wird noch in Schach gehalten, aber das wird nicht mehr lange dauern.«

Der Suljak beobachtete die Schlacht und rang die Hände. »Das Juwel der Wüste kehrt zurück. Es muss geschützt werden. Es darf nicht in die falschen … Hände fallen!«

»Das wird es auch nicht, wenn Sie Ihre Männer hier wegschaffen«, erklärte Konowa. »Wenn sie auf dem Schlachtfeld bleiben, werden sie sterben.« Er packte den Suljak an seiner Robe und drehte ihn grob herum. »Sehen Sie zu, was dort geschieht! Es interessiert mich nicht, wie schmutzig Politik ist. Das hier ist eine Schlacht. Die Zeit für raffinierte Manipulationen ist vorbei. Dies hier ist ein Massaker!«

Weißes Feuer loderte in kleinen Flecken überall auf dem Sand und markierte die Stellen, an denen die Leichen der gefallenen Krieger der Hasshugeb lagen. Reiterlose Kamele galoppierten panisch an ihnen vorbei; einige von ihnen brannten. Sie hinterließen geisterhafte Bilder von Flammen und Entsetzen in Konowas Geist, als sie in der Nacht verschwanden. Ein paar Sarka Har rückten langsam vor, bis sie mit ihren Zweigen auf die Drakarri einstechen konnten, die ihr Feuer auf sie spuckten. Weiße und schwarze Flammen explodierten, wo immer die beiden Mächte aufeinanderprallten. Der Raum zwischen ihnen verwandelte sich in ein Inferno aus miteinander ringender, ungeheurer Magie. Menschen schrien, die Tiere brüllten und heulten, und alles wurde übertönt von einer Stimme voll uralter Macht, welche die Feuerkreaturen immer weiter aufstachelte.

»Sie sind immer noch der Suljak der Hasshugeb«, erklärte der Prinz. Er war kreidebleich, als er das Werk der Verheerung vor sich beobachtete. »Tun Sie Ihre Pflicht, und retten Sie Ihre Männer. Über das Schicksal des Sterns werde ich später bestimmen.«

Konowa schüttelte den Suljak. »Befehlen Sie Ihren Männern, sich vom Eingang der Schlucht zurückzuziehen! Sonst werden sie sterben, wo sie gerade stehen, und wir werden Schwierigkeiten haben, über all die Leichen hinwegzuklettern.« Konowa wusste, dass er grausam war, aber es kümmerte ihn nicht.

Der Suljak begann zu zittern. »All das hier sollte eigentlich nicht geschehen. Es war so gut geplant. Es war so … wundervoll.«

Die Musketensalven der Hasshugeb-Krieger wirkten jetzt kontrollierter, aber Konowa bezweifelte, dass es lange dauern würde. Die Stimme aus der Schlucht, die die Drakarri befehligte, wurde stetig lauter, und Konowa gab jeden Gedanken auf, diese Stimme kontrollieren zu wollen.

Sie konnten von Glück reden, wenn sie überlebten.

»Befehlen Sie Ihren Kriegern, sich zurückzuziehen!«, schrie Konowa den Suljak an, »Und zwar sofort! Über Ihre kostbaren Pläne können Sie später lamentieren!«

Der Suljak sah ihn an. Seine Augen waren glasig. »Der Stern! Nur der Stern ist wichtig.«

»Tun Sie, was der Major sagt, Suljak! Schaffen Sie Ihre Männer von hier weg, und der Stern wird gerettet!«, schrie der Prinz. Er ballte die Faust zu einem weiteren Schlag. Konowa versuchte nicht einmal, dem Thronfolger in den Arm zu fallen.

»Ich … ich werde meinen Männern befehlen, sich zurückzuziehen«, stammelte der Suljak. »Wir formieren uns in der Wüste neu.«

»Fahr zum Teufel!«, sagte Konowa.

Der Suljak stieg auf sein Kamel, ließ die Zügel klatschen und trottete auf die Schlacht zu. Etliche Stammesführer ritten ihm entgegen. Der Kriegsrat dauerte nicht lange. Die Anführer galoppierten zu ihren Männern zurück und brüllten Befehle.

»Major, hier haben wir unsere Gasse«, sagte der Prinz. »Gehen wir, und holen wir uns diesen Stern!«

 

Der Bengar lag zusammengekauert auf dem Boden des Tunnels. An seiner rechten Schulter war eine klaffende Wunde, wo die Kugel der Muskete Fell und Haut aufgerissen hatte. Visyna steckte ihren Dolch ein und näherte sich ihm. Jir hatte die Ohren angelegt und fletschte knurrend die Zähne. Visyna streckte eine Hand aus, aber der Bengar knurrte tief und drohend.

»Ganz ruhig, Mistress Tekoy«, sagte Hrem, der neben sie getreten war.

Sie hatte ihn nicht kommen hören, aber ihr klingelten auch immer noch die Ohren von dem Schuss. »Er ist vielleicht das Haustier des Majors und unser Maskottchen, aber trotzdem ist Jir auch ein wildes Tier.«

»Geht es ihm gut?«, rief Zwitty aus sicherer Entfernung. Visyna drehte sich herum und sah, dass er hektisch seine Muskete lud.

»Es ist nur ein Kratzer, aber Sie hätten ihn töten können.«

»Ich habe das Skelett gesehen, also habe ich geschossen«, erwiderte Zwitty. Als er fertig geladen hatte, ging er langsam auf sie zu. Teeter und Hrem schauten ihn böse an.

Jirs Knurren wurde lauter, als er Zwitty sah. Visyna drehte sich wieder zu dem Bengar herum und versuchte ihn zu beruhigen. »Es ist schon gut, Jir, es war nur ein Unfall. Es tut Zwitty leid, stimmt’s?«

»Ich habe nur versucht, unser Leben zu retten, mehr nicht«, murrte Zwitty. »Woher sollte ich wissen, dass er mit einem halben Skelett im Maul zurückkommt?«

»Sag Jir, dass es dir leidtut«, meinte Hrem und deutete auf den Soldaten.

»Was? Warum denn? Er ist nur ein dummes Tier.«

Jir fletschte noch stärker die Zähne, und das Fell auf seinem Rücken sträubte sich, als sich seine Muskeln anspannten.

»Möchtest du gerne sein Abendessen werden?«, erkundigte sich Teeter. »Nun entschuldige dich schon.«

»Schon gut, schon gut«, lenkte Zwitty ein. Er hielt seine Muskete quer vor seinen Körper, während er Jir ansah. »Es tut mir leid, dass ich versucht habe, uns alle zu retten, indem ich auf das Skelett geschossen habe und du zufällig im Weg standst.«

Hrem schüttelte den Kopf. »Warst du jemals ein Mensch?«

Zwitty sah aus, als wollte er Hrem anschreien, doch dann drehte er sich einfach nur herum und trat ein paar Schritte zur Seite, wobei er leise vor sich hin murmelte. Jir entspannte sich, und seine Ohren richteten sich langsam auf, während sein Fell sich glättete. Visyna streckte die Hand aus, und diesmal knurrte er nicht. Sie streichelte sanft seinen Kopf und strich dann über das Fell rings um die Wunde. Sie blutete, aber es war nur ein Streifschuss gewesen, und die Wunde würde von allein heilen. Sie hätte gerne mit etwas Magie nachgeholfen, damit es schneller ging, aber das war hier nicht möglich.

»Alles, was in diesem Tunnel war, hat den Schuss gehört«, erklärte Hrem. »Wir sollten weitergehen. Tyul ist vielleicht direkt vor uns.«

»Wenigstens müssen wir uns um ein Skelett weniger Sorgen machen«, meinte Teeter in dem Versuch, die Stimmung aufzulockern.

Visyna hoffte sehr, dass er recht hatte. Sie folgte Hrem, der voranging. Jir blieb neben ihr. Der Bengar leckte ein paarmal an seiner Schulter und schonte seinen rechten Vorderlauf, aber dafür, dass er nur ein paar Zentimeter vom Tod entfernt gewesen war, war er in bemerkenswert gutem Zustand.

Hrem blieb stehen und hob eine Hand. Jir legte den Kopf auf die Seite, als würde er lauschen. Visyna schüttelte den Kopf und bemühte sich zu erkennen, was ihre Aufmerksamkeit erregt hatte.

»Ich kann immer noch nicht richtig hören, aber ich rieche frische Luft, als ob sich eben eine Tür geöffnet hätte«, sagte sie. Und sie roch noch etwas anderes, etwas Vertrautes. Pfeifenton. Schießpulver. Es waren noch mehr Soldaten im Tunnel!

»Hrem, da sind noch …«, begann sie, aber der Rest ihrer Worte blieb ihr im Hals stecken. Vor ihnen säumten Soldaten den Tunnel. Sie standen im Schatten, sodass Visyna ihre Gesichter nicht erkennen konnte, aber ihre Umrisse waren unverwechselbar.

Einer der Soldaten trat vor, bis er im dämmrigen Licht der Flechten zu sehen war. Er hielt eine Muskete in den Händen und hatte sie schussbereit an die Hüfte gelegt. Visyna riss vor Überraschung die Augen auf. »Sie!«

Soldat Takoli Kritton lächelte. Er trug immer noch die Uniform eines Stählernen Elfen. Eine große, schwarze Klinge mit einer unverkennbaren Kerbe darin hing an einem Lederriemen seines Kartuschengürtels. Visyna erkannte Korporal Arkhorns Drukar.

»Ich habe schon vermutet, Sie alle hier zu finden.« Krittons Stimme klang kühl und kalkulierend. »Bedauerlicherweise muss ich Sie auffordern, mit mir zu kommen. Der Weg voraus ist blockiert.«

»Tyul ist da vorne, Kritton«, sagte Hrem und betrachtete die Soldaten hinter dem Elf. Er kniff die Augen zusammen, um sie erkennen zu können. »Ein paar Skelettdämonen haben den Leichnam eines unserer Leute erwischt. Sie versuchen, ihm seine Seele zu stehlen! Wir müssen ihn retten.«

Kritton wurde blass. »Seid dankbar, dass sie nur den einen haben. Die Kreaturen, von denen du sprichst, sind die seit Jahrhunderten toten Reste von Kaman Rhals Armee. Sie haben kurz nach dem Auftauchen des ersten Sterns in Luuguth Jor wieder damit angefangen, die Toten zu sammeln. Aber das geht euch nichts an.«

»Wie können Sie das sagen?«, wollte Visyna wissen.

»Weil das Imperium schon viel zu lange bestimmt hat, was richtig und falsch ist. Aber damit ist jetzt Schluss.« Kritton grinste sie höhnisch an. »Wieso sehen Sie so überrascht aus? Ist das nicht genau das, was Sie immer behaupten? Wie in Elfkyna wächst auch in dieser Wüste eine Macht, und sie ist in dieser Einöde sehr willkommen.«

»Sie sind aber offenbar sehr gut informiert für jemanden, der auf der Flucht ist.« Visyna warf dem Elf einen finsteren Blick zu.

»Ich habe meine Augen offen gehalten und viel gesehen«, erwiderte Kritton. »Wissen ist ein sehr mächtiges Werkzeug, vor allem, wenn man weiß, wie man es einsetzen muss.«

»Was wollen Sie damit sagen?«, erkundigte sich Visyna. »Sie sind in Elfkyna weggelaufen, während diese Männer geblieben sind und gekämpft haben. Und jetzt stehen Sie hier, als wäre nichts geschehen.«

Wut blitzte in Krittons Augen auf, aber seine Stimme klang ruhig, als er antwortete. »Da ist viel geschehen. Kommen Sie mit, dann zeige ich es Ihnen.«

»Du bist nicht mehr in der Position, irgendjemandem Befehle zu geben.« Hrem trat einen Schritt vor. »Du bist ein Deserteur, oder hast du vielleicht den Wald in Elfkyna vergessen, wo du deine eigene erbärmliche Haut gerettet und uns andere dem Tod überlassen hast?«

»Wir werden ohnehin sterben, wenn nicht etwas Bestimmtes bewerkstelligt wird«, erwiderte Kritton, der vor Wut die Lippen zusammenpresste, bis sie weiß waren. »Ich bin weggelaufen, weil ich eine Chance sah, zu entkommen und etwas zu bewirken. Ich habe nicht versucht, mein Leben zu retten, sondern ich habe versucht, uns alle vor dieser Perversion zu bewahren.« Er nahm eine Hand von seiner Muskete und legte sie auf die Uniform über seinem Herzen.

»Du hast genau das Richtige gemacht«, meinte Zwitty und trat ein Stück vor. »Seht ihr, ich habe euch doch gesagt, dass es klug wäre zu desertieren.«

Falls Zwitty erwartet hatte, eine zustimmende Reaktion von Kritton zu erhalten, hatte er sich geirrt. »Ich bin nicht desertiert!«, brüllte Kritton ihn wütend an. »Wir sind hier, um die Dinge in Ordnung zu bringen. Wir werden nicht länger den Befehlen derer folgen, die uns getäuscht und entehrt haben!«

Visyna trat vor, bevor jemand anders sprechen konnte. »Wer ist ›wir‹?«

Kritton warf einen Blick über seine Schulter und flüsterte etwas. Daraufhin traten die Soldaten hinter ihm vor. Ihre Musketen zielten auf Visyna und Hrem. Visyna rang nach Luft. Jedem der Soldaten fehlte die Spitze am linken Ohr, während das rechte noch unversehrt war.

»Wir«, glühender Stolz leuchtete auf Krittons Gesicht, »sind die wahren Stählernen Elfen.«

Keiner sagte ein Wort. Visyna trat eine Träne ins Auge. Das hier waren Konowas Männer, seine Brüder. Sie sah sie der Reihe nach an und versuchte zu verstehen, wer sie jetzt waren. Sie alle trugen noch die Uniform der Calahrischen Imperialen Armee. Das Tuch war zerfetzt und abgetragen, aber ihre Musketen waren sorgfältig gepflegt. Jeder von ihnen maß mindestens einen Meter achtzig, obwohl sie schlanker waren als Konowa und nicht so breitschultrig. Die hageren Gesichter sahen sie an. Keiner blickte höhnisch oder lächelte. Visyna sah ihnen in die Augen und wusste, warum.

Diese Elfen litten Schmerzen, ungeheure Schmerzen. Sie spürte es, ohne dass sie ihre Magie weben musste. Man hatte sie im Stich gelassen und entehrt, und sie trugen nicht die geringste Schuld daran.

»Hört mir zu, ihr alle. Was auch immer Kritton euch erzählt hat, es ist eine Lüge. Konowa hat euch nicht im Stich gelassen. Ihr seid der Grund, warum wir hier sind! Er ist euretwegen zurückgekehrt. Wir alle sind euretwegen hier!« Sie deutete auf die anderen Soldaten hinter ihr. »Gerade in diesem Moment zieht euer Regiment in die Schlacht. Geht zu Konowa, und helft ihm, er braucht euch!«

Krittons Lachen hallte von den Tunnelwänden zurück. »Er braucht uns? Und was war, als wir ihn gebraucht haben? War er da? Nein, Mistress Tekoy, wir lassen uns nicht noch einmal zum Narren halten! Unsere Ehre wird wiederhergestellt, das schon, aber nicht von ihm.«

Visyna ließ ihren Blick über die Elfen gleiten, sie suchte nach einem Anzeichen, dass einige von ihnen oder auch nur einer auf sie hören würde. Jeder einzelne Elf erwiderte ihren Blick, und ihre Augen verrieten, was sie nicht aussprechen würden. Visyna gab auf.

»Ihr wisst, dass das falsch ist! Ich kann es sehen. Das kann ich in euren Augen erkennen. Niemand kann euch eure Ehre nehmen. Hierher verbannt zu werden war schrecklich, das verstehe ich, aber nur ihr haltet euer Schicksal in euren Händen. Nur ihr …«

»Das reicht!«, brüllte Kritton. »Sie brauchen uns nicht noch einmal zu belehren! Wir haben unsere Ehre bereits wiederhergestellt, und Sie werden auch gleich sehen, wie. Und jetzt bewegen Sie sich!«, befahl er und bedeutete ihr mit einem Winken, in Richtung Tunneleingang zu gehen.

Visyna wollte es noch einmal versuchen, aber Hrem streckte die Hand aus und berührte ihren Arm.

»Vergessen Sie es, Mistress Tekoy. Das sind nicht die Elfen, die wir gesucht haben.«

Visyna konnte nur nicken. Als sie in den Seitentunnel trat, tröstete sie nur ein Gedanke: Sie war froh, dass Konowa nicht hier war und mit ansehen musste, was aus seinen Elfen geworden war.