20

NACH FÜNF MINUTEN führte Yimt sie zu einer Sackgasse, über die eine Plane gespannt war und in der etliche Laternen an rostigen Eisenhaken hingen, die in den Mauern der umliegenden Gebäude steckten. Die Gasse war voller Weidenkörbe, einige größer als ein Mann, andere dagegen kleiner als ein Kaninchen. Ein Zwerg mit wettergegerbtem Gesicht und grauem, bis zum Gürtel reichenden Bart saß auf einem der Körbe, kaute Crute und spuckte den Saft in einen irdenen Topf am Boden. Als sie sich näherten, runzelte er die Stirn und erhob sich. In seiner rechten Hand tauchte plötzlich ein Drukar auf.

Yimt blieb einen Moment stehen, holte tief Luft und ging dann weiter. »Hallo an diesem schönen Abend«, sagte er und hielt dem anderen Zwerg seinen Beutel mit Crute hin.

»Ich habe hier weder Getränke noch Frauen, und ich trage in meinem Geldbeutel nur ein paar Kupfermünzen mit mir herum«, antwortete der Zwerg, nahm ein Stück des angebotenen Crute und legte es zwischen seinen Gaumen und die Wange. Seine metallfarbenen Zähne blitzten kurz im Licht, als er lächelte, dann jedoch rasch wieder finster sein Gesicht verzog.

»Beide machen mehr Schwierigkeiten, als sie wert sind«, erwiderte Yimt und lächelte strahlend. Er setzte sich auf einen anderen Weidenkorb und bedeutete Alwyn und den restlichen Soldaten, näher zu kommen. Dann sah er sich in der Runde um.

Der Zwerg schnaubte. »Den Geräuschen nach zu urteilen war im Blauen Skorpion heute Abend einiges los. Ihr wisst wohl nicht zufällig etwas darüber, oder?«

Yimt breitete die Hände aus. »Wir sind unschuldig.«

Der andere Zwerg grinste. »Das bezweifle ich auch nicht, aber die Frage ist, wessen seid ihr schuldig?«

»Nichts, wofür sie uns erwischen können, solange wir unseren Verstand benutzen«, meinte Yimt und runzelte kurz die Stirn, als sein Blick Scolly streifte. »Wir müssen uns ein bisschen die Zeit vertreiben und könnten etwas Unterhaltung gebrauchen, so ein oder zwei Stunden lang, damit wir nicht auf diesen schönen Straßen herumlaufen müssen und neugierigen Blicken ausgesetzt sind.«

»Wir könnten uns Tätowierungen machen lassen«, schlug Teeter vor. Er hatte eine Flasche aus seiner Uniformtasche gezogen und wollte sie gerade an den Mund setzen. »Ich lasse mir immer eine Tätowierung machen, wenn ich in einem neuen Hafen an Land gehe. Das ist in der Marine eine Art Tradition.«

»Du bist aber nicht mehr in der verdammten Marine«, erwiderte Zwitty, schnappte Teeter die Flasche weg und nahm einen Schluck. »Außerdem, wo sollen wir hier einen Tätowierer finden?«

»In diesen Breiten werden Tätowierungen als unmoralisch angesehen.« Der Zwergenhändler senkte seine Stimme. »Die Leute hier sind der Meinung, dass man seinen Körper entweiht, wenn man ihn tätowiert. Man könnte eine Hand verlieren, wenn man dabei erwischt wird … falls ihr versteht, was ich meine.«

Yimt streckte eine Hand aus, bis Zwitty zu ihm kam und die Flasche hineinlegte. »Die Zeiten ändern sich«, erklärte Yimt. »Falls du es noch nicht bemerkt hast, das Imperium ist jetzt in der Stadt.«

Der andere Zwerg spuckte aus und lachte. Es war ein raues Lachen und alles andere als beruhigend. »Klar, ihr seid jetzt hier. Aber wo werdet ihr in einer Woche sein? Oder in einem Monat? Die Zeiten ändern sich, das schon. Sterne fallen vom Himmel, die Schattenherrscherin gewinnt an Macht, und das Imperium bemüht sich nach Kräften festzuhalten, was es kann. Ich war schon hier, als das Imperium zum ersten Mal an Land gewatet ist. Kaum ein Jahr später waren sie wieder verschwunden, bis auf eine symbolische Delegation und ein paar Silberjacken, die den Schein wahren sollten. Das war vor Jahrzehnten. Das Einzige, was sich seit eurer Ankunft verändert hat, sind die Preise; die sind gestiegen.«

»Ich habe gehört, dass es mindestens noch einen weiteren Unterschied gibt«, meinte Yimt und deutete mit einem Daumen über seine Schulter in Richtung Wüste. »Soweit wir hören, scheint die Schattenherrscherin nicht die Einzige zu sein, die Unruhe stiftet.«

Der Zwerg zuckte mit den Schultern. »Der Suljak hält die Stämme im Zaum. Und für eine kleine Gegenleistung können die Handelskarawanen die Südlichen Einöden passieren, nach Nazalla einreisen und von dort nach Calahr ziehen. Das ist nichts Neues.«

Yimt trank einen Schluck aus der Flasche und hielt sie dann dem Zwerg hin.

Der schüttelte den Kopf.

Alwyn trat vor. »Korporal, vielleicht sollten wir weiterziehen. Wir müssen zum Lager zurück, schon vergessen?«

»Ally, ich habe dir gesagt, dass wir Zeit haben. Weißt du, Teeters Idee ist gar nicht so schlecht. Wir könnten eine Kleinigkeit erstehen, die uns an diese Nacht hier in der großen Stadt erinnern wird.«

Der Zwerg stand auf. »Vielleicht kann ich euch behilflich sein«, sagte er. Er zog den Ärmel seines linken Arms hoch und enthüllte eine große Tätowierung, die einen Pfahl zeigte, auf dem etliche Orkköpfe aufgespießt waren. Alwyn sah genauer hin. Es waren acht Köpfe.

Yimt stand ebenfalls auf und sah die Soldaten an. »Jungs, wir stehen hier einem großen Mann gegenüber. Es gibt nur ein Regiment in der ganzen Calahrischen Armee, das solche Tätowierungen trägt, und das sind Die Schilde der Königin.«

Alwyn stieß einen beeindruckten Pfiff aus. Die SDK waren in der ganzen Welt berühmt, weil sie einst im Zweiten Grenzkrieg vor über fünfzig Jahren gegen die Orks in der Schlacht von Frilliks Drift gefochten hatten. Sechshundert Zwerge hatten zehntausend Orks über eine Woche lang aufgehalten. Als es vorbei war, schafften vierunddreißig Zwerge den Weg nach Hause.

»Sie sind einer der vierunddreißig«, flüsterte Alwyn.

»Wenn nicht, würdest du mit einem Geist sprechen«, antwortete der Zwerg. Er streckte Yimt die Hand hin. »Sergeant Griz Jahrfel, außer Dienst.«

Yimt nahm die Hand und schüttelte sie kräftig. »Korporal Yimt Arkhorn, Stählerne Elfen. Ich weiß, ich weiß, aber es dauert zu lange, das zu erklären. Und dieser zusammengewürfelte Haufen hier ist mein Zug. Ich wollte ihnen gerade die Sehenswürdigkeiten von Nazalla zeigen, als wir auf ein paar Jungs von der Zwölften gestoßen sind.«

Griz nickte. »Ignorante Dummköpfe mit dicken Schädeln und weichen Kniescheiben.«

»Vor allem, wenn man sie genau trifft«, antwortete Yimt. Die beiden Zwerge lachten.

»Bekommen wir jetzt Tätowierungen, oder was?«, erkundigte sich Teeter. Er hatte eine zweite Flasche aus der Uniform gezogen und trank daraus. »Wenn ja, sollten wir uns beeilen, weil du verdammt gut weißt, dass sie uns schon bald in diese verfluchte Wüste schicken werden, um diesen Kama-Rall-Kerl zu jagen.«

Alwyn gab Teeter ein Handzeichen, still zu sein.

»Moment, ist das euer Ernst?«, erkundigte sich Griz. »Ihr seid wirklich hier, um Kaman Rhals Geist zu jagen?«

»Das war kein Geist, der den alten Harkon verbrannt hat«, meinte Teeter und schwang die Flasche, um seinen Worten Nachdruck zu verleihen. »Dieses weiße Feuer hat seinen Schatten gebraten, wie man Spiegeleier brät.«

»Teeter, warum tust du uns nicht allen einen Gefallen und wirst ohnmächtig?«, brummte Yimt.

Griz pfiff durch die Zähne und trat einen Schritt zurück. »Ich habe damals während meiner aktiven Zeit eine Menge Geschichten gehört … und noch mehr selbst erzählt, also müsste ich es eigentlich wissen. Aber ihr solltet hier lieber nicht über das weiße Feuer und die Schatten reden. Solches Gerede regt die Leute nur auf.«

»Aber es ist wahr«, meinte Alwyn. »Wir haben erst vor wenigen Tagen dagegen gekämpft.«

Der Zwerg blickte von Yimt zu Alwyn und musterte dann den Rest der Gruppe. »Ihr nehmt mich auf den Arm. Kaman Rhal ist so tot, wie man nur tot sein kann. Und seine Macht ist mit seiner Bibliothek untergegangen. Es sind nur die Mythen von Einheimischen, die von Generation zu Generation weitergegeben wurden.«

Yimt schüttelte den Kopf. »Auch Mythen sind nicht mehr das, was sie einmal waren. Heutzutage ist alles Alte wieder neu.«

»Da drüben, ich habe da drüben etwas gehört!«, schrie jemand am Eingang der Gasse.

Griz blickte in die Richtung. »Das könnte einer von diesen weichknieigen Knöchellutschern der Zwölften sein. Schnell, Jungs, folgt mir. Wir können dieses Gespräch in privatem Rahmen fortsetzen.«

Er ging hastig zu einem Weidenkorb von der Größe eines ausgewachsenen Mannes und trat dahinter. Als ihm niemand folgte, tauchte er wieder auf und winkte die Leute heran. »Nun kommt schon!«

Alwyn ging als Erster in den Korb. Er stellte fest, dass der hintere Teil des Weidenkorbs in Wirklichkeit eine Geheimtür war, die zu einem verborgenen Gang führte. Als er genauer hinsah, entdeckte er eine Treppe. Das Licht einer Kerze oder Laterne weiter unten spendete genug Helligkeit, dass er die Stufen erkennen konnte. Er nahm seine Muskete von der Schulter, duckte sich und stieg die Treppe herunter. Sie mussten um mehrere Ecken gehen, bevor sie schließlich in einen kleinen Tunnel gelangten, dessen gewölbte Ziegeldecke etwa mannshoch war.

»Hier entlang«, meinte Griz und hob eine kleine Laterne hoch. Alwyn sah sich um und hörte beruhigt, wie die anderen die Treppe herunterpolterten. Dann folgte er dem Zwerg, der für eine Person mit so kurzen Beinen relativ schnell ging und Alwyn fast zwang, zu hüpfen, um mit ihm Schritt zu halten. Alwyn wollte gerade fragen, wie weit es noch war, als Griz stehen blieb und an die linke Wand des Tunnels klopfte.

Ein gedämpftes Klopfen antwortete, und dann öffnete sich eine versteckte Tür in der Tunnelwand. Griz winkte Alwyn hinein. Der schaute in den Tunnel zurück, wo einen Augenblick später Yimt auftauchte, dicht gefolgt von den anderen.

Alwyn betrat den Raum hinter der Tür und fand sich zum zweiten Mal an diesem Abend in einem Gemach, wie er es noch nie zuvor gesehen hatte. »Das ist … das ist wirklich gemütlich.« Er nahm seinen Tschako ab und richtete sich auf. Sein Haar berührte die Decke. Ein anderer Zwerg stand in dem Raum, aber statt einer Robe trug er schwere Lederstiefel, eine dunkle Hose und einen Mantel aus Leder, das durch Ketten verstärkt war. Sein roter Bart war geschnitten, sodass er nur bis an sein Brustbein reichte. An einem Ledergürtel um seine Taille hing ein Drukar.

Mit diesem Zwerg sollte man sich besser nicht anlegen, dachte Alwyn, räumte aber im nächsten Moment ein, dass er eigentlich noch nie einen Zwerg getroffen hatte, mit dem er sich hätte anlegen wollen. Er nickte dem Zwerg zu, der ihn einfach nur scharf ansah. Alwyn sah sich in dem Raum um. Von Eisenhaken an der Decke hingen Laternen herunter. Der Raum selbst war geformt wie ein Zylinder, und die Steine der abgerundeten Wände waren so perfekt verarbeitet, dass Alwyn genau hinsehen musste, um die Fugen zu erkennen.

»In diesem ganzen Gebäude gibt es keinen einzigen Tropfen Mörtel«, erklärte Griz strahlend und hakte die Daumen in seinen Gürtel. Der jüngere Zwerg schnaubte, vielleicht aber war es auch ein Niesen.

Alwyn strich mit der Hand an der Wand entlang. Sie war so glatt wie polierter Marmor. Statt mit Kissen und Perlenvorhängen hatte der Zwerg sein unterirdisches Heim, wenn es das denn war, sehr schlicht eingerichtet, was irgendwie passte. Es gab ein paar niedrige, breite Hocker und Bänke aus Schiefer. Weidenkörbe waren nirgendwo zu sehen.

»Haben Sie eine große Familie?«, erkundigte sich Alwyn, als er etliche schmutzige Krüge und Teller auf einem langen, niedrigen Tisch am anderen Ende des Raumes bemerkte.

Griz blickte zum Tisch, sah dann den jüngeren Zwerg an und fluchte leise. »Nein, nur die Haushaltshilfe.«

Jetzt betraten auch die anderen den Raum. Hrem musste beinahe in die Hocke gehen, als er herankam. Er sah sich um, setzte sich hin und lehnte sich mit dem Rücken an eine Wand. Der jüngere Zwerg legte seine Hand auf den Griff seines Drukar, reagierte aber ansonsten nicht.

»Trij, mach dich nützlich, und bring diesen Jungs etwas zu trinken«, sagte Griz, als alle im Zimmer waren. Die Tür zum Tunnel glitt sachte zu.

Trij blieb noch einen Moment stehen und musterte jeden einzelnen Soldaten. Als er Yimt erblickte, zog er die Augen zusammen und betrachtete den Schmetterbogen, der jetzt schussbereit unter Yimts Arm hing. Schließlich nahm der Zwerg langsam seine Hand von seinem Drukar, wandte sich um und trat an eine Stelle der Wand. Er streckte die Hand aus und drückte leicht gegen einen der Steine. Es klickte, als der Stein ein paar Zentimeter in die Wand glitt. Einen Augenblick später schwang eine weitere Geheimtür auf, und Trij trat durch die Öffnung.

Alwyn erwartete, das Knirschen von Steinen zu hören, aber als die Steine übereinanderglitten, wirbelten sie nicht einmal Staub auf. Diese Zwerge verstanden wirklich etwas von Maurerarbeit.

»Du bist der Erste.« Griz nahm Alwyn am Arm und führte ihn zu einem der Steinhocker. »Der Rest von euch kann es sich auf den Stühlen gemütlich machen.« Er half Alwyn, sich zu setzen, und zog dann einen der Steinhocker neben ihn. Dann starrte der Zwerg Alwyns Ohren an, bis dieser ein Stück zurückwich.

»Stimmt etwas nicht?«, erkundigte sich Alwyn.

Griz schüttelte den Kopf und lächelte. »Nein, ich finde es nur ein bisschen komisch, dass ihr die Stählernen Elfen sein sollt, wenn die echten da draußen in der Wüste sind.«

»Nein«, widersprach Alwyn. »Eigentlich ist das überhaupt nicht komisch.«

Griz’ Lächeln wurde etwas schwächer, doch dann zwinkerte er Alwyn zu. »Nein, vermutlich ist es das nicht. Also, mein Junge, knöpf deine Jacke auf, und roll den Ärmel hoch. Willst du den rechten oder den linken Arm?«

»Rechts«, sagte Yimt und schaute sich in dem Raum um, als er zu ihnen trat, um zuzusehen. Trij kam durch die Geheimtür zurück, in den Händen ein paar Zinnkrüge mit Bier, über deren Rand der Schaum herunterlief. Er verteilte sie rasch und gab Yimt den letzten.

»Eine gute Waffe«, bemerkte Trij.

Yimt trank einen Schluck und stellte dann den Krug auf einer Bank ab. Bierschaum hing ihm im Bart. »Deine auch«, erwiderte er und warf einen Blick auf Trijs Drukar.

»Er wurde in den Jungfernwerkstätten unter dem Schrakkart-Gipfel geschmiedet.« Trij zog die Waffe aus der Scheide und hielt sie ins Licht.

Yimt betrachtete sie und nickte. »Diese Maiden verstehen ihr Handwerk.«

Trij steckte die Waffe wieder weg. »Du trägst keine?«

Yimts Miene verfinsterte sich. »Ich habe eine getragen und werde es wieder tun.«

Trij nickte, ging dann zu dem Tisch am anderen Ende des Raumes und machte sich daran, die Teller und Krüge zu reinigen.

»Ein netter Kerl, aber ein bisschen zu redselig«, meinte Yimt, nahm seinen Krug und trank noch einen Schluck.

Griz lachte leise. »So viel hat er seit drei Tagen nicht geredet.«

Alwyn blickte von Griz zu Yimt. »Wie könnt ihr so gelassen sein? Das Böse ist …«

»Ruhig, mein Junge, ganz ruhig.« Griz klopfte Alwyn beruhigend auf den Arm. »Es wird dich noch zerreißen, wenn du immer so aufgeregt bist.« Er sah Yimt an. »Man könnte glauben, das hier wäre das erste Mal, dass die Welt auf dem Spiel steht.«

»So sind die Kinder heutzutage.« Yimt trank einen weiteren Schluck Bier und zwinkerte Alwyn zu. »Ich sage ihnen immer, dass sie ab und zu Atem holen und an den Nonnen schnuppern sollen, aber hören sie auf mich?«

»Das Wichtige ist, man darf nicht vergessen«, meinte Griz, griff unter einen Hocker und zog eine kleine, schwarze Ledertasche hervor, »dass sich immer irgendwo Ärger zusammenbraut. Eine Elfenhexe auf einem Berg, ein toter Zauberer in einer Wüste, Sterne, die auf die Erde fallen. So ist die Welt eben.« Er öffnete die Tasche und zog eine Feder mit einer Metallspitze und einen Behälter mit schwarzer Tinte hervor.

Alwyn schluckte. »Aber wenn Kaman Rhals Magie tatsächlich wieder zurückgekehrt ist, müssen wir sie finden. Das ist sehr wichtig.«

Griz nickte. »Aye, das sehe ich auch so. Trij sucht gerade eine Landkarte. Ich bin ziemlich sicher, dass ich noch eine Karte der Umgebung habe, wie sie vor hundert Jahren oder so ausgesehen hat. Sie könnte euch vielleicht weiterhelfen, wenn der Kartograph wusste, was er tat.«

Alwyn sah zu dem Tisch hinüber, wo Trij eben noch das Geschirr abgewaschen hatte, aber der Zwerg war weg. »Wohin ist er gegangen?«

»Er ist sehr leise. Sagt ihm nicht, dass ich euch das verraten habe, aber ich würde wetten, dass er ein bisschen Elfenblut in seinen Adern hat. Ich habe noch nie einen Zwerg getroffen, der sich so leise bewegen kann wie er.« Griz nahm eine kleine Flasche aus der Tasche und entkorkte sie. »Das brennt vielleicht ein bisschen.«

»Moment, was wollen Sie mir auf den Arm tätowieren?«, wollte Alwyn wissen. Am liebsten hätte er geschrien, dass dies hier nicht der richtige Moment dafür war, aber er war ganz offensichtlich in der Unterzahl.

Griz lehnte sich zurück und sah ihn an. »Meine Güte, ist das deine erste? Mein Junge, ich habe keine Ahnung. Das kann ich nicht entscheiden, sondern du entscheidest. Ich warte einfach darauf, was erscheint.« Er tröpfelte einige Tropfen der Flüssigkeit auf Alwyns Arm und lehnte sich zurück. »Weißt du, ein guter Künstler lässt die Leinwand zu sich sprechen, in diesem Fall dich.«

»Aber ich habe Ihnen doch gar nicht erzählt, was ich haben will.« Alwyn beobachtete die Haut auf seinem Oberarm. Dort, wo die Flüssigkeit aufgetragen worden war, kribbelte sie. »Ehrlich gesagt, bin ich mir gar nicht sicher, ob ich überhaupt eine Tätowierung haben will. Ich habe einfach nur … Aua!«

Alwyn verstummte, als winzige schwarze Flammen auf seinem Arm aufflackerten und dann rasch wieder erloschen. Griz strich sich einige Male über seinen Bart und sah dann Yimt an. »Das ist neu. Trotzdem, der Trank lügt nie.« Der Zwerg nahm die Feder und tauchte sie in die Tinte. »Trotzdem ist es eigenartig, weil ich gedacht hätte, dass du zwei gekreuzte Musketen haben wolltest, wie die anderen …« Griz unterbrach sich und lächelte. »Wie die anderen Soldaten, die hier vorbeigekommen sind. Also gut, tätowieren wir dich.« Er stach mit der Feder in Alwyns Arm und begann die Umrisse einer schwarzen Eichel nachzuziehen, die unmittelbar unter der Haut erschienen war.

 

Visyna sprang leichtfüßig von Rallies Planwagen und trat in die Mitte der freien Fläche zwischen den Gebäuden und Gassen. Das Mondlicht und die flackernden Laternen spendeten genug Licht, dass sie sehen konnte. Jir lief neben ihr her. Seine Gegenwart gab ihr die tröstliche Gewissheit, dass niemand und nichts sie überraschen konnte. Visyna hob die Hände und zog leicht an den Fäden der Natürlichen Energie, die sie umgaben. Zwischen ihren Händen glomm ein Licht auf, als sie die vielen Fäden sortierte und nach denen suchte, die ihr sagten, was passiert war. Ganz offensichtlich hatte hier ein Kampf stattgefunden, und zwar erst vor kurzem. Alte, bittere Fäden bezeichneten die drei Aschehaufen, die auf dem Boden lagen, aber sie konnte nicht herausfinden, was diese Haufen einmal gewesen waren. Sie konzentrierte sich stärker und suchte nach verräterischen Anzeichen der Macht der Schattenherrscherin.

»Ich glaube auch nicht, dass du sie hier finden wirst«, meinte Rallie, die immer noch auf dem Kutschbock saß und sie beobachtete. »Das hier ist etwas vollkommen anderes.«

Chayii kniete ein paar Meter entfernt und ließ nachdenklich den Sand durch ihre Finger rieseln. Dann verzog sie das Gesicht und schleuderte den Sand zur Seite. »Die Magie, die hier gewirkt wurde, war uralt. Sehr viel älter als ihre Magie. Tyul war hier, und mein Ehemann ebenfalls«, setzte sie hinzu.

Visyna konnte nicht unterscheiden, ob ihre Stimme gereizt oder besorgt klang. Vermutlich beides, dachte sie. »Dann ist das hier Kaman Rhals Werk?«, fragte sie. Sie dehnte ihre Sinne ein kleines Stück weiter aus, als sie versuchte, einen Faden zu packen, der so dünn war, dass sie ihn mit ihrem Verstand nicht ganz fassen konnte. Sie seufzte und ließ die Hände sinken.

»Genau das«, antwortete Rallie, »müssen wir herausfinden. Es ist noch ein paar Stunden dunkel, das sollten wir nutzen und Nazalla unbemerkt verlassen. Ich nehme an, wir müssen immer noch nach Süden?«

Chayii nickte. »Tyul hinterlässt keinerlei Spuren, aber Grauender Morgen schon. Sie sind eindeutig unterwegs in die Wüste.«

»Aber warum nur?«, wollte Visyna wissen. »Warum sollten Tyul und Jurwan das Schiff verlassen und hierherkommen?« Sie stieg wieder auf den Wagen und drehte sich, um Chayii hinaufzuhelfen. Die Elfe lächelte ihr dankbar zu und setzte sich neben sie.

»Tyul sieht die Dinge anders als wir. Für ihn ist die Welt einfach, oder sollte zumindest einfach sein. Entweder befinden sich die Dinge in ihrem natürlichen Zustand oder nicht. Aus diesem Grund ist er immer noch bei mir. Er versteht die Bedrohung, die die Schattenherrscherin darstellt und versucht, ihren Berg in seine ursprüngliche Form zurückzuverwandeln. Wenn er hier ebenfalls etwas Falsches wahrgenommen hat, dann wird er es verfolgt haben. Nach seiner Denkweise würde er ihn oder es auch töten, um ihm zu helfen.«

»Und Jurwan?«

Chayii schüttelte den Kopf. »Mein Ehemann ist ein Narr. Ein tapferer, intelligenter, zärtlicher Narr. Niemand anders hätte diesen Ausflug auf ihren Berg überleben können, und ich bin nicht ganz sicher, ob er ihn wirklich überlebt hat. Was er will und was er weiß, kann ich nicht mehr sagen.«

Die Brindos legten sich ins Zaumzeug, und der Wagen setzte sich in Bewegung. Visyna wob weiterhin die Energie um sie herum, traf auf verschiedene Fäden und versuchte, aus ihnen schlau zu werden. Es hatte sie zutiefst gedemütigt, dass sie von ihrem Emissär in Elfkyna hereingelegt worden war, und sie wollte auf keinen Fall zulassen, dass so etwas noch einmal geschah.

Es war nicht leicht, Magie so spät in der Nacht auf einem rollenden Wagen in einer großen Stadt zu weben. Visyna gähnte und wollte die Fäden gerade loslassen, als etwas ihre Aufmerksamkeit erregte. Sie versuchte, es zu identifizieren, aber es ließ sich nicht fassen.

»Habt ihr …?«, fragte sie die beiden anderen Frauen, kam jedoch nicht dazu, die Frage zu Ende zu stellen, als sie die beiden anblickte. Beide Frauen starrten in den südlichen Himmel. Ein kleines blaues Licht schimmerte zwischen den Sternen.

»Ich fühle es auch«, sagte Chayii, die ohne zu blinzeln in den nächtlichen Himmel blickte. »Das Juwel der Wüste kehrt zurück.«

Rallie klatschte mit den Zügeln, und die Brindos beschleunigten ihren Gang. »Das ist nicht das Einzige, was kommt. Das Wetter schlägt um und maskiert eine Macht dort draußen in der Wüste.«

Visyna war plötzlich nicht mehr müde, sondern konzentrierte sich mit frischer Kraft auf ihr Weben, folgte den Fäden tief in die Wüste hinaus.

Nach etlichen Meilen fransten die Fäden aus und verloren sich in einer bitterkalten Dunkelheit. Visyna kannte deren Geschmack nur zu gut. »Der Forst der Schattenherrscherin hat das Meer überquert und wächst dort draußen in der Wüste«, sagte sie. Sie ließ die Hände sinken und rieb sich die Handflächen an ihren Oberschenkeln.

Chayii stieß einen elfischen Fluch aus. »Tyul und Jurwan marschieren geradewegs dorthin«, sagte sie. »Sie sind bestimmt nicht so klug umzukehren. Keiner von beiden kann klar genug denken. Wir müssen dorthin und sie vor sich selbst retten.«

»Aber dazu brauchen wir Hilfe, Chayii«, sagte Visyna. »Rallie, wir müssen Konowa sofort eine Nachricht schicken. Das Regiment muss sich in Marsch setzen. Der Stern wird fallen, und dort draußen warten nur sie und Kaman Rhal auf ihn. Wir drei allein können das nicht schaffen. Wir brauchen Hilfe.«

Rallie zog hart an den Zügeln, und der Wagen kam ruckelnd zum Stehen.

»Rallie, was soll das?«, erkundigte sich Chayii.

Rallie zog eine Zigarre aus ihrem Umhang, entzündete sie mit Magie und sog einmal tief daran, bis das Ende der Zigarre hellrot glühte. »Ich glaube, dass wir gerade Hilfe gefunden haben«, sagte sie, während dunkle Gestalten aus einer Gasse auftauchten und ihren Weg blockierten.