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DER WIND FRISCHTE auf und ließ die Segel über ihren Köpfen wie Musketenschüsse knattern, die ihnen bereits viel zu vertraut waren. Alwyn konnte seinen Blick nicht von den vier Leichen losreißen, die auf dem Deck vor ihnen lagen. Jeder der toten Soldaten war in eine alte Hängematte eingenäht. Zuerst waren Eisenblöcke vom Ballast des Schiffes hineingelegt worden, um dafür zu sorgen, dass die Leichen rasch untergingen. Die Farben der Königin umhüllten jeden Leichnam; allerdings würden die Fahnen an Bord bleiben, wenn die Leichen in den Hängematten über Bord geworfen wurden. Es war sehr wahrscheinlich, dass man sie noch einmal brauchen würde.
Das Regiment nahm U-förmig Aufstellung um die Leichen, auch wenn die Soldaten sich dafür auf Fässer, Kisten und Schiffsteile zwängen mussten, um etwas sehen zu können. Seeleute waren keine anwesend. Selbst der Skipper des Schiffs, Kapitän Ervod, war nicht dabei. Er hatte bei der ersten Zeremonie noch darauf bestanden, aber nach dem Schock, den er dabei erlebt hatte, hatte er es von da an dem Regiment überlassen.
Prinz Tykkin stand etwas abseits und tippte mit seiner weiß behandschuhten Linken auf seinen Schwertgriff. Das silbrige Grün seiner Uniformjacke wirkte wie neu und bildete einen auffallenden Kontrast zum Erscheinungsbild seiner Männer. Selbst die Uniform von Major Flinkdrache wirkte dagegen schmuddelig. Es war nur natürlich, dass der zukünftige König so aussah, aber Alwyn kannte den eigentlichen Grund dafür: Der Prinz blieb an Bord, während die Stählernen Elfen die Inseln säuberten. Es sprach Bände, dass kein einziger Soldat sich darüber je beschwerte. Ihnen allen war es lieber, wenn der Prinz sich nicht blicken ließ.
Major Flinkdrache gab Yimt ein Zeichen, der daraufhin einen Schritt vortrat. »Ehrenabteilung … Achtung!« Die Soldaten nahmen, so gut sie konnten, Haltung an. Kapitän Ervod bemühte sich, das Schiff ruhig zu halten, aber das Meer schien nicht besonders kooperativ gesinnt zu sein.
Prinz Tykkin nickte und begann zu reden. Die ersten Worte wurden vom Winde verweht, aber Alwyn kannte die Rede auswendig. Alle kannten sie. Der Prinz erledigte seine Routine und pries die Gefallenen, obwohl Alwyn stark bezweifelte, dass er auch nur ihre Namen kannte.
»… durch ihr Opfer wird das Imperium überleben, und das Licht der Zivilisation wird selbst bis in die entferntesten Ecken der Welt scheinen …«
Während der Prinz redete, musterte Alwyn die Gesichter der Soldaten. Erwartungen und Vorahnungen lagen förmlich in der Luft. Das Husten und Schlurfen wurde vom Wind übertönt, aber die Blicke der Männer konnten nichts verbergen. Sie alle hatten denselben Gedanken, als sie die vier Leichen betrachteten. Das könnte eines Tages auch mir passieren.
»… indem wir den Kampf zu unserem Feind tragen, merzen wir Aufruhr und Chaos aus, bringen die Ordnung der Gerechten in alle bekannten Länder. Unsere Sache ist von höchster Bedeutung, und so ist es eine Ehre, im Dienste dieser Sache zu fallen …«
Alwyn fing Yimts Blick auf und bemerkte, dass sie beide nur Hohn für die Worte des Prinzen empfanden. Alwyn hustete und warf einen kurzen Seitenblick auf den Prinzen, aber der sprach weiter und starrte blicklos ins Leere.
Das Schiff durchpflügte eine Welle, die die Planken erschütterte. Der Prinz taumelte und richtete sich hastig auf. Dann sah er Major Flinkdrache fragend an, der daraufhin salutierte. Der Prinz erwiderte den Gruß und ging, ohne auch nur einen Blick zurückzuwerfen, über das Deck in seine Kabine.
Dann wurden die Namen der Männer und die der Züge verlesen, zu denen die Männer gehört hatten. Als Harkon an die Reihe kam, versteifte sich das ganze Regiment. Die Nachricht von seinem merkwürdigen Tod hatte sehr schnell die Runde gemacht. Die Soldaten kannten den Tod in der Schlacht, und sie begannen sogar, sich an die Vorstellung eines geisterhaften Nachlebens zu gewöhnen. Aber dass der Schatten eines Soldaten verbrannte, war neu.
Major Flinkdrache ließ sich Zeit und betrachtete die Reihen der Soldaten. Als sein Blick zu Alwyn glitt, hielt er kurz inne. Alwyn erwiderte seinen Blick. Schließlich sah der Major weg und nannte den letzten Namen.
»Harkon.«
Die Wellen schlugen dumpf gegen den Rumpf des Schiffes.
»Soldat Harkon.«
Eine Leine riss und klatschte gegen ein Segel.
»Soldat Kester Harkon.«
Das Schiff erhob sich auf einer langen Welle und glitt dann auf der anderen Seite hinab. Gischt spritzte vom Bug auf und durchnässte die Versammelten, aber keiner hob auch nur die Hand, um sich das Gesicht abzuwischen.
Major Flinkdrache zog seinen Säbel und reckte ihn gen Himmel. Vier Soldaten standen bereit, bückten sich jetzt und hoben die erste Leiche an. Sie trugen sie zur Reling.
Ein klagender, scharfer Laut ertönte aus der Takelage des Hauptmastes. Alwyn wusste, dass Tyul Bergquelle – ein Diova Gruss, ein Elf, der für die Natürliche Ordnung verloren war, nachdem er eine Verbindung mit einer übermächtigen Wolfseiche eingegangen war – dort oben im Krähennest hockte. Mistress Rote Eule hatte sich entschieden, ihn mitzunehmen; vielleicht war er eines ihrer Projekte, wie Yimt es ausdrückte. Alwyn war sich jedoch nicht sicher, ob man noch etwas für den Elf tun konnte. Er schien in seiner eigenen Welt zu leben. Wenn er nicht irgendwo hockte und ins Leere starrte, kletterte er auf den Hauptmast, der einst Jurwans Bundsbruder gewesen war – der Schwarze Dorn –, um zu heulen, wenn es eine Seebestattung gab.
»Wenn ich das höre«, flüsterte Teeter Alwyn zu, »habe ich immer das Gefühl, als würden mir Spinnen über das Rückgrat laufen.«
Alwyn empfand etwas ganz Ähnliches, aber das hatte eher mit dem zu tun, was gleich passieren würde, nicht mit der Trauer des Verlorenen Elfs. Major Flinkdrache ließ den Säbel sinken, und die Soldaten kippten die Leiche über Bord. Dabei stimmten sie den Schwur an, einen letzten, bitteren Gruß, den sie mittlerweile so schätzten wie das Gefühl, wenn man mit dem Finger über eine alte Narbe fuhr.
Wir fürchten nicht die
Flamme, obschon sie uns verbrennt,
wir fürchten nicht das Feuer, obschon es uns
verzehrt,
auch fürchten wir sein Licht nicht,
obschon es die Dunkelheit unserer Seelen
enthüllt
– denn darin liegt unsere Macht!
Die erste Leiche fiel über Bord. Bei dem starken Wind war das Platschen, mit dem sie auf dem Wasser aufschlug, kaum zu hören. Das Regiment nahm Haltung an. Lanzen aus Frostfeuer schossen in die Luft hinauf. Die Flammen knisterten vor Energie und breiteten sich auf dem Wasser aus. Ein Schatten tauchte aus den Flammen auf, und seine gequälten Schreie hallten laut in jedem einzelnen Mann wider. Ein plötzlicher Nebel hüllte das Deck ein, als der Atem der Männer in der so plötzlich eiskalt gewordenen Luft Wolken bildete. Der nächste Leichnam ging über Bord, und das Frostfeuer wurde stärker. Es tanzte über die Reling, und ein Ring aus kalten, schwarzen Flammen umgab die Soldaten. Ein weiterer Schatten erschien und vereinigte seine gequälte Stimme mit der seines Kameraden. Bilder eines düsteren Berges, von verkrüppelten Bäumen und ihr tauchten ungebeten in Alwyns Kopf auf, und es ging nicht nur ihm so. Einige Soldaten weinten, andere lachten, während etliche die Augen fest zukniffen und beteten.
Der dritte Leichnam ging über Bord und gebar den dritten Schatten. Sein entsetztes Jammern schwoll an, während das der beiden anderen leiser wurde. So war es immer. Erst kamen die Furcht und der Schmerz, dann die Angst der Akzeptanz, und schließlich eine kalte, tödliche Ruhe.
Hände streckten sich Alwyn entgegen, lockten ihn. Alwyn hielt die Augen geöffnet, presste seine Hände jedoch fest an seine Seiten.
Komm zu uns!
Es wurde immer kälter, und der Nebel verwandelte sich in Eis. Die Männer begannen zu zittern und würden ihren Kameraden später versichern, dass es nur an der Kälte gelegen hatte. Und alle würden diese Lüge nur zu gern glauben.
Alwyn starrte die Schatten an und sagte nichts.
Der letzte Leichnam, der von Soldat Harkon, wurde über die Reling gekippt. Alwyn sog tief die eisige Luft in seine Lungen und wartete auf den letzten Ausbruch des Frostfeuers, auf die Schreie und den letzten Ruf der Schatten.
Doch er wartete vergeblich. Sie kamen nicht.
Die Soldaten keuchten vernehmlich. Kein Frostfeuer flammte auf, als Harkons Leiche auf dem Wasser aufschlug. Kein Schatten tauchte auf. Es wurde wärmer, als die Schatten verblassten und schließlich verschwanden. Alwyn wechselte einen erstaunten Blick mit Yimt. Was hatte das zu bedeuten?
Stimmen wurden laut, und die Soldaten bewegten sich unruhig.
»Stillgestanden! Niemand hat euch den Befehl gegeben, wegzutreten!«, brüllte Yimt. Die Ordnung wurde wiederhergestellt, aber nur mit Mühe.
Die Soldaten flüsterten aufgeregt.
»Harkon war derjenige, dessen Schatten verbrannte.«
»Angeblich hat er fünf Minuten geschrien, als wäre seine Seele verbrannt.«
»Aber vielleicht hat das den Schwur gelöst?«
Ihnen antwortete nur das Heulen des Windes und das Klagen eines Verlorenen Elfs.
Während das Schiff weitersegelte, sanken die sterblichen Überreste der vier Soldaten in die dunklen Tiefen hinab. Die Fische schwammen eilig davon, als die Leichen an ihnen vorbeifielen. Die Naht des letzten Leinensackes öffnete sich und enthüllte das Gesicht von Soldat Kester Harkon.
Etwas Großes, Graues tauchte aus der Tiefe auf und schwamm auf die sinkenden Leichen zu.
Das Wesen näherte sich jedem einzelnen Leichnam, wandte sich jedoch von den drei ersten Toten ab. Aber als es zu Harkons Leichnam kam, hielt es inne und schien das Gesicht zu mustern.
Harkons Augen öffneten sich. Sie drehten sich in den Höhlen und sahen die Kreatur.
Harkons Leichnam riss den Mund zu einem Schrei auf, und das Wasser strömte in seine Lungen. Die Kreatur schoss vor, packte Harkons Leichnam mit seinen mächtigen Kiefern, schwamm mit dem Toten hinauf und hielt sich unmittelbar unter der Wasseroberfläche.
Dann folgte die Kreatur mit der Leiche von Soldat Kester Harkon in seinem Maul dem Kielwasser der Schwarzer Dorn. Was von dem Mann übrig geblieben war, der einmal Kester Harkon gewesen war, schrie dabei lautlos.
Auf dem Gipfel eines schwarzen Berges brodelte ein Wald in der kalten Nachtluft. Es nieselte, und schon bald verwandelte sich der Regen in Hagel. Blitze zuckten vom Himmel und verzerrten die Schatten der bereits verkrüppelten Bäume. Sie schienen die Blitze anzuziehen, reckten ihre Zweige fast flehentlich hoch in die Luft.
Ein Blitz schlug ein und zertrümmerte das pechschwarze Holz eines der Bäume zu nadelscharfen Splittern. Metallfarbene Blätter wurden vom Wind davongetrieben und zischten wie Sicheln durch die Luft. Frostfeuer flammte in den Kronen der Bäume auf, und schwarze Flüssigkeit sickerte aus offenen Wunden, überzog alles mit einem öligen Schwarz. Der Eisregen zischte, wenn er auf dem Boden auftraf, und bildete unregelmäßige Flecken von Eis, bis der ganze Berggipfel in der Nacht glänzte.
Unter der Erde wanden sich die Wurzeln der Bäume und bohrten sich in den Fels. Jeder Baum, den ein Blitz zertrümmerte, hinterließ Schösslinge, die sich von der Macht ernährten. Risse und Spalten in den Bergflanken zitterten und wurden größer, erzeugten Klüfte, die sich immer mehr vertieften. Aus diesen Schlünden drang ein urtümliches Gebrüll empor. Die Wurzeln gruben sich immer tiefer.
Ihr Forst riss in seiner Not und Wut den Berg in Stücke.
Die Schattenherrscherin stand zwischen den Bäumen. Der dunkle Umhang, den sie fest um sich geschlungen hatte, machte es schwierig, zwischen ihr und der Finsternis zu unterscheiden. In ihrer Nähe schlug kein einziger Blitz ein.
Falls sie Mitleid mit den Schösslingen ihres Ryk Faur, der Silbernen Wolfseiche, verspürte, mit der sie vor all diesen Jahrhunderten eine Verbindung eingegangen war, ließ sie sich das jedenfalls nicht anmerken. Wer an einem solch kalten, öden Ort geboren wurde, musste einen Preis dafür zahlen – und die Bäume opferten sich selbst für diesen Zweck.
Weit unterhalb des Berges, im Großwald, wuchsen gerade, echte Wolfseichen. Dort unten wurden ihre Äste und Zweige – vor den Blitzen von den noch gewaltigeren Silbernen Wolfseichen geschützt, die ebenfalls stark und gesund gewachsen waren – von einem solch bitteren Boden nicht vergiftet. Hier oben auf dem Berg jedoch bildeten die Silbernen Wolfseichen und all ihre Nachkommen ein pervertiertes Dickicht der Angst. Mit ihrer Hilfe so zu existieren war ein Schmerz, der jedes Maß überstieg. Dennoch überwog der Wille zu leben. Aus diesem Grund wuchs ihr Forst und verbreitete durch die verzweifelte Vereinigung der Schattenherrscherin mit ihrem Ryk Faur – ihrem Bundsbruder – die Samen des Wahnsinns in immer größer werdenden Flächen schwarzer Vernichtung.
Die Schattenherrscherin begab sich in das Zentrum der Bäume. Die Zweige bildeten einen Schutzschild über ihr und absorbierten die Blitze, sodass sie davon unberührt blieb. Sie blickte in ein Becken mit schwarzem Öl, das schimmernd die Welt so zeigte, wie sie war.
Diese Welt wird sich verändern.
Wo jetzt hohes Gras auf Ebenen und Hügeln raschelte, würde schon bald ihr Forst wachsen. Kein Fluss, kein See, keine Straße und keine Stadt würde übrig bleiben. Selbst die Ozeane würden von Baumstämmen überschwemmt werden, bis kein Schiff sie mehr passieren konnte.
Alles würde ihr gehören.
Alles würde Forst sein.
Und dann gab es endlich genug Macht, genug, um den Schmerz zu beenden. Auch wenn sie damit gescheitert war, den gefallenen Stern im Osten zu erbeuten, war ihr Wille ungebrochen. Die Stählernen Elfen würden schon bald ihr gehören. Mehrere Sterne würden zur Erde fallen, und schon bald würde sie sie zu ihrem Eigentum machen. Dabei würde das Band zwischen Elfe und Baum immer stärker, weil sich beide gegenseitig mit dem Wahnsinn ihrer andauernden Gier infizierten.
Ein geduckter Schatten kroch auf die Lichtung, glitt rutschend über Eis und Felsen. Blitze zuckten, als er sich der Schattenherrscherin näherte, und enthüllten eine Gestalt, einen Mann, der nur mit einer zerfetzten Robe bekleidet war. Durch die großen Flecken auf seiner Haut wirkte diese fast wie die Rinde ihrer Bäume. Seine Augen jedoch waren vollkommen menschlich und zeigten all die Furcht, die er empfand. Zitternd tastete er sich weiter vor, fiel schließlich vor ihr auf die Knie und senkte den Kopf.
Sie hatte Pläne, was seine Furcht anging.
Faltinald Elkhart Gwyn, Empfänger des Ordens vom Bernsteinkelch, Inhaber des Heiligen Hosenbandes von St. Di-Wynn, Mitglied der Königlichen Gesellschaft der Wunderwirkerei und Wissenschaft und bis vor kurzem der Vizekönig Ihrer Majestät der Königin von Calahr für das Protektorat Groß-Elfkyna schüttelte sich, während er den Kopf gesenkt hielt.
An diese Haltung hatte er sich schon viel zu gut gewöhnt, seit sein Glück sich gewendet hatte.
Noch vor Wochen kannten die Herrscher der primitiven Länder im ganzen Calahrischen Imperium seinen Namen und fürchteten ihn. Er war die personifizierte Macht des Imperiums. Wenn er sprach, tat er es nicht mit seiner Stimme, sondern mit der der Königin … und mit ihrer. Das war ein berauschendes Spiel gewesen, gleichzeitig zwei Thronen zu dienen. Jetzt jedoch war er im ganzen Imperium ein gesuchter Mann, doch er bezweifelte, dass irgendjemand die Gelegenheit bekam, die Belohnung einzustreichen, die auf seinen Kopf ausgesetzt war.
Ein Blitz verbrannte die Zweige knapp einen Schritt vor ihm, und seine Zähne klapperten. Sein Leben, vielmehr das, was davon übrig war, hing jetzt vollkommen von der Willkür seiner einzigen Herrscherin ab.
Einen Augenblick später tauchte eine weitere Gestalt aus der Finsternis auf; sie materialisierte aus dem Nichts und strahlte eine kalte Sicherheit aus. Im Gegensatz zu Gwyn zitterte diese Gestalt nicht. Ihr Umhang und die Kapuze ähnelten denen der Schattenherrscherin. Dennoch verbeugte sich diese Gestalt vor ihr, wenn auch nicht so tief.
Gwyns Verstand und sein Körper rangen miteinander, als ihr Emissär näher kam. Erinnerungen an die Qualen, die ihm die kalten, toten Hände dieses Monsters zugefügt hatten, weckten seine Furcht aufs Neue. Selbst jetzt noch riet ihm seine Ausbildung als Diplomat, keine Emotionen zu zeigen, aber sein Körper war dieser Aufgabe nicht gewachsen. Er grub seine Hände in das Eis, bis sie bluteten, konnte jedoch ihr Zittern nicht unterbinden.
Ihr Emissär, ein Elf vom selben Stamm wie sie, war auch einmal wie Gwyn gewesen, ein Vizekönig der Königin von Calahr. Und wie Gwyn hatte er sich dafür entschieden, zwei Herren zu dienen, und geglaubt, dass er die Balance finden und den Sturm beherrschen könnte, der zwischen diesen beiden Welten aufkam.
Und beide waren von demselben verhassten Elf vernichtet worden – von Konowa Flinkdrache, Major der Stählernen Elfen.
Als er an den Elf und seinen Freund, den Herzog von Harkenholm dachte, hätte Gwyns Wut fast seine Furcht bezwungen. Die beiden waren die Architekten seines Untergangs. Wenn es noch Gerechtigkeit in der Welt gab, würden sie beide brennen und dann eine qualvolle Zeit des Leidens durchmachen, bis sie endlich starben. Vorher jedoch musste er versuchen, die Schattenherrscherin zu überleben.
MEIN EMISSÄR UND MEIN VIZEKÖNIG TRETEN ALS VERSAGER VOR MEINE AUGEN.
Gwyn gab den Versuch auf, sein Zittern zu beherrschen. Allein der Klang ihrer Stimme flößte ihm eine tödliche Furcht ein. Wenn er sie direkt vernahm, empfand er eine Angst, wie er sie noch nie erlebt hatte. Er hob den Kopf, blickte sie jedoch nicht direkt an, als er die Hände zu ihr hob. »Ich … ich habe Euch wahrlich enttäuscht, meine Königin. Ich verdiene Euer Urteil, wie es auch aussehen mag.«
Diese Worte kamen ihm zwar nur schwer über die Lippen, aber in gewisser Weise glaubte er, was er da sagte. Er war tatsächlich gescheitert, obwohl darin auch eine Gelegenheit lag, Macht zu gewinnen. Die Furcht hielt ihn wie mit einer stählernen Klaue, aber er erahnte einen Weg, diese Macht jetzt zu nutzen. Er senkte den Kopf, bis seine Stirn den eisigen Boden berührte.
Die Bäume knisterten, als sich die Äste und Zweige bogen. Eis fiel von ihnen ab, als sie sich über seinem Kopf ineinander verschlangen. Es war ein Baldachin aus baumelnden Schwertern, die alle an einem dünnen Faden hingen, den sie kontrollierte. Nur ihr Wille hinderte die Zweige daran, Gwyn in Streifen zu schneiden.
Die Schattenherrscherin schwieg lange. Immer noch regnete es Eis vom Himmel. Gwyn wusste, dass er einfach nur wegen des Wetters sterben würde, wenn nicht bald etwas passierte.
Nach einer Ewigkeit, so schien es, sprach die Schattenherrscherin schließlich.
UND DU?
Ihr Emissär strahlte Zuversicht aus. Er war schon zu Lebzeiten arrogant gewesen und auch durch seinen Tod nicht demütiger geworden. Früher einmal hatte Gwyn eine solche Haltung bewundert, aber jetzt, in ihrer Nähe, begriff er, wie begrenzt sie war. Ihr Emissär war ein Werkzeug, eine primitive, schwere Waffe. Er besaß weder Raffinesse noch Scharfsinn. Sie konnte nur einen Weg gehen, aber wenn dieser Weg sich teilte, hatte eine solche Waffe keinen Nutzen mehr. Ja, dieses Spiel beherrschte Gwyn ausgezeichnet. Die Frage war nur, beherrschte ihr Emissär es auch?
WIE IHR ES VERLANGT HABT, IST KONOWA FLINKDRACHE DURCH SEINEN SCHWUR GEBUNDEN, SO WIE DIE ANDEREN AUCH. VIELE HABEN BEREITS IHR LEBEN VERLOREN UND WOHNEN JETZT IN DER WELT DAZWISCHEN. DEN STERN ZU VERLIEREN, WAR UNVERMEIDLICH. ES GAB EINE UNVORHERGESEHENE EINMISCHUNG.
ICH BIN MIR IHRER ANWESENHEIT BEWUSST, erwiderte sie.
Gwyn musste all seine verbliebene Energie aufwenden, um vor Überraschung nicht den Kopf zu heben. Er war darauf trainiert, selbst die kleinste falsche Nuance im Tonfall eines gegnerischen Diplomaten wahrzunehmen, und solch eine hörte er jetzt. War das Gereiztheit in ihrer Stimme? Er konnte nicht glauben, dass es eine mächtigere Kreatur geben konnte, aber wäre er nicht damit beschäftigt gewesen, dass er gerade erfror, hätte er schwören können, dass er einen Anflug von Sorge in ihrer Stimme wahrgenommen hatte.
Die Silberne Wolfseiche erzitterte. Ein Zweig löste sich aus dem Gewirr und landete sanft auf der Schulter der Schattenherrscherin.
Ihr Emissär sprach weiter, als hätte er nichts gehört, was, wie Gwyn vermutete, auch genau der Fall war.
WÄRE DA NICHT DIE MACHT DES STERNS, WÜRDE ELFKYNA BEREITS EUCH GEHÖREN. SIE IST STARK, KANN ABER ÜBERWÄLTIGT WERDEN.
Gwyn spürte den Blick ihres Emissärs auf sich ruhen und wusste, welche Anschuldigung er andeuten wollte. Er weigerte sich jedoch, den Köder zu schlucken. Gwyn hatte ihr bereits sein Leben angeboten und jedes Schicksal akzeptiert, welches sie für ihn bereithielt. Er würde diese Karten bis zum Ende spielen.
MEIN FORST IN ELFKYNA WURDE ZERSTÖRT. UND SELBST JETZT VERNICHTET KONOWA DIE BÄUME, WO IMMER SIE WACHSEN.
ICH WERDE IHN AUFHALTEN.
NEIN. DIE ELFEN, DIE ICH SUCHE, SIND NOCH NICHT GEFUNDEN WORDEN.
DANN WERDE ICH SIE FINDEN.
NEIN, DAS WIRST DU NICHT.
Gwyn spürte ihren Befehl mehr, als er ihn hörte. Der Ast, der sich um ihre Schultern geschlungen hatte, zuckte vor. Splitter von Eis flogen in alle Richtungen davon. Gwyn schlug schützend die Hände vor sein Gesicht. Ein einzelner kurzer Schrei ging in dem Eisregen fast unter. Es gab kein Echo, keinen Widerhall.
Gwyn brauchte einen Moment, bis er begriff, dass nicht er geschrien hatte, dass er noch lebte. Er ließ die Arme sinken und hob den Kopf. Der Leichnam ihres Emissärs stand mitten in der Luft, aufgespießt auf dem Ast. Frostfeuer zuckte darüber, und die Flammen drangen tief in den Körper ein. Der Ast schleuderte den Leichnam in Richtung der Schösslingszweige, die alles zerfetzten, was noch übrig geblieben war.
Dann kehrte der Ast langsam zur Schattenherrscherin zurück und umschlang wieder ihre Schultern. Etwas Nasses schimmerte jetzt an der Spitze des Zweiges, und Gwyn sah, dass es eine blutdurchtränkte schwarze Eichel war, die der Ast aus der Brust ihres Emissärs gerissen hatte.
STEH AUF.
Gwyn rappelte sich zitternd und frierend auf, unsicher, ob er sein Gleichgewicht halten konnte. Er wagte es, ihr in die Augen zu sehen, und stellte fest, dass er seinen Blick nicht mehr von ihr losreißen konnte.
WIRST DU MEIN GESCHENK AKZEPTIEREN?
Darauf konnte es nur eine Antwort geben, und Gwyn schaffte es, die Worte hervorzustoßen: »Ja, von ganzem Herzen.«
Dann tat die Schattenherrscherin etwas, an das sich der ehemalige Vizekönig von Elfkyna für den Rest seines Lebens erinnern würde.
Sie lächelte.
Der Ast der Silbernen Wolfseiche löste sich erneut von ihren Schultern und glitt auf Gwyn zu.
Langsam.
WO ER SCHEITERTE, WIRST DU ERFOLG HABEN. DU WIRST MEINEM KIND HELFEN.
Gwyn wusste nicht genau, ob er richtig verstanden hatte.
Der Ast glitt immer näher und drehte sich.
»Euer … Kind?« Der Zweig kam weiter auf ihn zu, und jetzt riss Gwyn seinen Blick von ihr los. Von der Eichel tropfte immer noch Blut.
SIEH, sagte sie. Das schwarze Becken schimmerte erneut. Ein gewaltiger Ozean war zu sehen, auf dem ein einzelnes Schiff vor einem heraufziehenden Sturm dahinsegelte. Auf dem Deck waren Soldaten um vier mit Fahnen bedeckte Leichen gruppiert. Eine Zeremonie wurde abgehalten. Gwyn erkannte sie sofort.
KONOWA FLINKDRACHE. ER IST DER SCHLÜSSEL. ER SUCHT SEINE BRÜDER, DIE STÄHLERNEN ELFEN, UND DURCH IHN WIRST DU DEN REST MEINER KINDER FINDEN UND SIE ZU MIR NACH HAUSE BRINGEN.
Gwyn nickte. »Ich werde die Stählernen Elfen für Euch finden. Ich werde sie nach Hause bringen.« Als er das sagte, flammte Frostfeuer aus dem Becken auf, während die Leichen der Stählernen Elfen dem Ozean übergeben wurden. Die schwarzen Flammen loderten empor und erloschen, aber tief im Zentrum brannte für einen Augenblick eine reine, weiße Flamme. Die Schattenherrscherin sagte nichts, aber die Luft um sie herum wurde eisiger. Gwyn rang nach Atem, als die schneidend kalte Luft in seinen Lungen brannte.
Dort, wo noch vor einem Moment die nächtliche Dunkelheit den Raum zwischen den Bäumen erfüllt hatte, befanden sich jetzt Schatten. Ihre Umrisse waren verschwommen, als wären sie unsicher oder unwillig, sich weiter der Dunkelheit um sie herum zu ergeben. Gwyn zählte nur drei.
VIELE HABEN DIE REISE BEREITS BEGONNEN, ABER ES LIEGT NOCH EIN LANGER WEG VOR IHNEN. HILF MIR DABEI, DANN IST DIR MEINE … DANKBARKEIT SICHER.
Gwyn hatte nicht die Zeit, darüber nachzudenken, was das wohl heißen mochte. Er hätte gerne gefragt, was die weiße Flamme bedeutete, aber der Ast überbrückte plötzlich rasend schnell den Abstand zu ihm und durchbohrte seine Brust. Die Wucht des Aufpralls ließ seinen Kopf wie einen abgeknickten Zweig nach vorn fallen. Gwyn spürte, wie die blutverschmierte Eichel tief in sein Herz eindrang, und wollte schreien, als der Schmerz durch seinen ganzen Körper raste. Doch genauso schnell zog sich der Ast wieder zurück und hinterließ etwas Neues dort, wo er gewesen war.
Das Leben, wie Gwyn es gekannt hatte, war zu Ende. Sein Körper brach auf dem Boden zusammen. Eine rohe, gewaltige Magie durchströmte ihn. Seine Wunden überfroren und heilten, während Frostfeuer ihn verzehrte und die Reste seiner Robe als Asche von ihm abfielen.
Als die Flammen erloschen waren, stand er auf. Er trug jetzt einen Umhang aus Finsternis.
BRING MEINE KINDER NACH HAUSE, sagte sie. DANN GEHÖRT DIE WELT DIR.
WIE IHR WÜNSCHT, erwiderte ihr Emissär.