18
TYUL, DER JETZT ganz in Schwarz gekleidet war, folgte in sicherer Entfernung den Gestalten, die den Leichnam von Kester Harkon durch das Labyrinth der Gassen von Nazalla trugen. Mehrmals blieben die Leute, die er verfolgte, stehen und wandten sich um, blickten auf den Weg zurück, den sie gekommen waren. Und jedes Mal sahen sie nichts Außergewöhnliches, sodass sie ihren Weg fortsetzen. Hätten sie zu den Flachdächern hinaufgeblickt, dann hätten sie zwar immer noch nichts bemerkt, aber sie hätten wenigstens in die richtige Richtung geschaut.
Tyul sprang leichtfüßig von Dach zu Dach; seine Bewegungen glichen denen eines Schattens. Es war ein merkwürdiges Gefühl, so hoch über dem Erdboden zu sein und nicht von Bäumen umringt zu werden. Als er an den Wald dachte, traten ihm Tränen in die Augen. Natürlich wusste er, dass es richtig gewesen war, Chayii Rote Eule zu folgen, aber mit jedem Tag, der verstrich, versank dieses Wissen im Dunkel seines Bewusstseins. Als Elf der Langen Wacht war er mit einer Wolfseiche verbunden und hatte bereitwillig diesen feierlichen Eid abgelegt, den Großwald vor der Schattenherrscherin zu beschützen. Dass dieser Eid ihn so weit von zu Hause fortbringen würde, wäre ihm niemals in den Sinn gekommen.
Er sprang von Dach zu Dach über eine Gasse und kauerte sich dann tief nach unten, als die Gestalten unter ihm wieder stehen blieben und sich umsahen. Tyul rührte sich nicht und wartete darauf, dass die Gruppe weiterging. Bilder der Schwarzer Dorn kamen ihm in den Sinn. Es bereitete ihm große Schmerzen, den Körper einer Wolfseiche so entweiht zu sehen. Dass Jurwan seinen Ryk Faur, seinen Bundsbruder, geopfert hatte, damit er als Schiffsmast benutzt werden konnte, war Tyul ein Rätsel, doch ihm blieb so vieles von der Welt verschlossen. Noch mehr Tränen stiegen ihm in die Augen. Der Schmerz drohte ihn zu überwältigen, und er benötigte seine gesamte Konzentration, um ihn auszuschließen. Die Wolfseiche war tot, und dennoch war etwas übrig von ihr. Tyul spürte es bei jedem Atemzug, den er tat.
Er wusste, wie alle Elfen wussten, dass man seinen Verstand riskierte, wenn man eine Silberne Wolfseiche als Ryk Faur akzeptierte. Aber er sah das jetzt ein wenig anders. Seine Verbindung mit Grauender Morgen hatte seinen Geist für eine Ebene der Existenz geöffnet, die nur sehr wenige Elfen jemals erfahren würden. Er war der Natürlichen Ordnung weit näher als die meisten lebenden Wesen, was berauschend und manchmal auch überwältigend war. Er wusste, was ebenfalls kaum jemand wissen würde, dass der Geist der Wolfseiche tatsächlich Trauer bei ihrem Tod empfand, als ihre Gliedmaßen abgehackt wurden, ihre Wurzeln durchtrennt, ihre Krone gekappt und ihr Körper von Eisen entweiht wurde, auf dass sie zu einem Segelschiff würde, statt in die Mukta Ull zurückzukehren, die Mutter Erde, um dort wiedergeboren zu werden.
Tyul kannte Schmerz. Und er spürte ihn auch in Jurwan. Sie waren miteinander verbunden, weil sie beide von einer Silbernen Wolfseiche beeinflusst wurden, wenngleich Jurwans Erfahrung ganz anders war. Tyul fragte sich erneut, warum sie diesen Männern folgten. Er spürte keinerlei Präsenz der Schattenherrscherin. Doch Jurwan hatte ihm gesagt, es wäre wichtig, also würde er sie auf diese Art verfolgen, wie nur er es vermochte, und wenn nötig, würde er sie auch der Mukta Ull zurückgeben.
Die kleine Gruppe mit dem Leichnam setzte sich wieder in Bewegung und überquerte einen freien Platz, auf dem sich verschiedene Gassen trafen. Dann verschwand sie um eine Ecke. Hier gab es keine Gebäude, die nahe genug waren, um auf ihre Dächer zu springen. Jurwan keckerte ihm etwas ins Ohr, und Tyul sprang auf den Boden. Er landete weich auf dem festgetretenen Lehm. Instinktiv griff er zu, um etwas Erde zu packen, hatte jedoch stattdessen Sand in der Hand, der sich kalt und merkwürdig anfühlte. Und er enthielt eine Macht, die anders war als die warme, lebendige Energie des Großwaldes von Hyntaland, auch anders als die Kraft in Elfkyna. Die Sandkörner brannten auf seiner Haut, und er schleuderte sie weg. Dann stand er auf und lief lautlos über den freien Platz in eine pechschwarze Gasse hinein. Allerdings konnte er mit seinen Elfenaugen sehr gut sehen, wohin er lief.
Das rettete ihm und Jurwan das Leben.
Ein mattweißes Schwert tauchte aus der Dunkelheit auf und zielte direkt auf seinen Kopf. Tyul duckte sich geschickt unter dem Schlag weg und trat vor. Seinen Holzdolch – eine Waffe, die ihm Grauender Morgen zum Zeichen ihrer Verbindung geschenkt hatte – hielt er fest in seiner linken Hand. Das Holz glühte von Energie, und eine Stimme, die aus weiter Ferne zu kommen schien, erklang in der Luft, als er ihn in das Herz seines Angreifers rammte. Das Geräusch, als das Holz über Knochen kratzte, hallte von den Wänden um ihn herum wider.
Tyul hatte das Gefühl, als würde seine Hand von tausend Bienen gestochen. Er ließ den Dolch los und zog seine Hand zurück. Als er das tat, stieß sein Angreifer einen schrillen Schrei aus, und die Kapuze seines dunklen Umhangs fiel herunter. Tyul sah erstaunt in die Augen des Mannes, den er gerade getötet hatte.
Ein grinsender Schädel, in den schwarze Runen eingraviert waren, erwiderte seinen Blick. In den Augenhöhlen glühten kleine, weiße Flammen.
Tyul wich zurück und presste seine Hand an seine Brust. Der skelettartige Mann vor ihm hob eine Hand und packte den Griff von Tyuls Dolch, der immer noch in seiner Brust steckte. Weißes Feuer flammte auf und brannte mit einer Intensität, vor der Tyul seine Augen schützen musste. Schon bald loderte der Umhang der Gestalt, verbrannte und enthüllte ein Skelett, das die äußere Form eines Mannes hatte. Aber es war kein Mensch gewesen.
Das Wesen, das vor ihm stand, schien aus mehreren unterschiedlichen Kreaturen zu bestehen. Tyul hatte viele Tierkadaver gesehen, sodass er verschiedene Pferdeknochen identifizieren konnte. Andere Knochen dagegen erkannte er nicht. Die meisten waren gebrochen und offensichtlich verletzt worden. Viele trugen noch die Spuren von Zähnen. Wo einst Muskelgewebe die Knochen zusammengehalten hatte, wurden sie jetzt von einem feuchten, schwarzen Teer fixiert.
Ein geistig gesunder Elf wäre klug genug gewesen, Angst zu empfinden. Aber Tyul war fasziniert. Was er vor sich sah, waren Elemente der Natürlichen Ordnung, aber zusammengestellt und belebt auf eine Art und Weise, die ebendiese Ordnung pervertierte. Und er spürte die Magie, die diese Sammlung von Knochen zusammenhielt. Sie waren wie der Sand, uralt und bitter.
»Ich möchte dir helfen«, sagte Tyul. Seine Stimme klang weich vor Mitgefühl.
Weiße Flammen brannten noch immer an der Stelle, wo seine Eidwaffe zwischen zwei Rippen des Skelettes steckte. Der Geist von Tyuls Ryk Faur, Grauender Morgen, kämpfte gegen die Flammen. Jurwan streckte seinen Kopf aus Tyuls Köcher und begann, ihn im Nacken zu kratzen. Tyul drehte sich um. Drei weitere Skelette kamen auf ihn zu.
Tyul lächelte. »Ich werde auch euch helfen.«
Mit einem Schritt erreichte er das erste Skelett, packte den Griff seines Dolches und drehte ihn, obwohl er wusste, dass er starke Schmerzen haben würde. Gleichzeitig rammte er seinen rechten Ellbogen in den Schädel. Es knackte, und der Totenschädel fiel zu Boden. Tyul riss seinen Dolch aus der Brust des Skelettes, das jedoch nicht umfiel. Es blieb stehen, bewegte sich allerdings nicht mehr. Tyul drehte sich zu den drei anderen herum.
Jeder von ihnen hielt ein langes, grobes Schwert aus Knochen in seiner skelettierten Hand. Der Tod zischelte in der Luft, als die Krummsäbel durch die Luft pfiffen, doch Tyul sprang leichtfüßig zur Seite und aus dem Weg. Seine linke Hand pulsierte immer noch, aber er umklammerte damit seinen Dolch, während er mit der Rechten auf den Rücken zum Köcher griff, Jurwan am Hals packte und das Eichhörnchen mit einer flüssigen Bewegung dem nächsten Skelett entgegenschleuderte, während er sich auf einem Fuß herumdrehte, um die beiden anderen anzugreifen.
Jurwan flog durch die Luft und landete mitten auf dem Schädel des Skelettes. Er huschte zur Seite, als das Skelett mit dem Säbel zuschlug, um ihn in zwei Stücke zu spalten. Die Waffe verfehlte Jurwan, landete jedoch über der linken Augenhöhle des Skelettes und riss eine große Öffnung in dessen eigenen Schädel. Jurwan sprang sofort hinein, und einen Moment später verschwand auch sein hochstehender Schweif in dem Loch. Weiße Flammen loderten in der Augenhöhle des Schädels auf, und der Unterkiefer sackte herunter, als es lautlos schrie. Dann brach es auf dem Boden zusammen.
Tyul wich derweil einem Schwerthieb aus und griff nach einem großen Tongefäß, das an einer Wand stand. Er hob es mit einer Hand auf und schwang es wie einen Knüppel auf den Schädel des nächsten Skelettes. Schädel und Topf zerbrachen, und Tyul hatte nur noch eine Tonscherbe in seiner rechten Hand. Das weiße Feuer in den Augenhöhlen des Schädels erlosch sofort, als das Skelett schwankte und zu Boden fiel.
Das letzte Skelett hob seinen Krummsäbel hoch über den Kopf, bereit zuzuschlagen. Tyul sah seine Chance und ergriff sie. Er stürzte sich auf das Skelett und rammte Dolch und Tonscherbe in seine Augenhöhlen. Der Aufprall ließ den Schädel in einem Regen aus weißem Feuer zerplatzen. Tyul wurde zurückgeschleudert. Seine beiden Hände wurden taub und zuckten, Dolch und Scherbe fielen ihm aus den Fingern.
Tyul blickte zu dem ersten Skelett. Es stand immer noch an derselben Stelle. Jurwan tauchte aus den Resten des zweiten Widersachers auf und sprang zu dem Schädel, in dem immer noch das weiße Feuer brannte. Er schnüffelte daran, wandte sich um und zirpte Tyul etwas zu.
Der blickte um sich und hob vorsichtig einen weiteren Tontopf auf. Er zuckte zusammen, weil seine Hände vor Schmerz pochten. Dann ging er ruhig zu dem Schädel. Die weiße Flamme loderte heller, als er sich näherte, und die Kiefer öffneten sich, als wollte der Schädel sprechen. Tyul ließ den Topf heruntersausen, zerschmetterte ihn und den Schädel. Ein weißer Flammenspeer schoss in den Himmel hinauf und verschwand. Und ein Klappern verkündete, dass das Skelett zu Boden gefallen war, wo es sich in einen Haufen Staub auflöste.
In einem Gebäude in der Nähe wurden Stimmen laut. Das Geräusch hastiger Schritte hallte von den Wänden wider. Tyul bückte sich und hob seinen Dolch auf, während Jurwan wieder auf seinen Rücken sprang. Tyul ließ den Staub des Skelettes durch die Finger seiner rechten Hand rieseln und streute ihn dann in einem Bogen über den Boden aus.
»Gern geschehen«, sagte er und machte sich an die Verfolgung seiner Beute.