16
DIE BEIDEN MÄNNER, die durch die Gassen von Nazalla schlichen, waren erfahrene Jäger. Sie hatten Seeleute, Soldaten und einmal sogar einen leichtsinnigen Zauberer zur Strecke gebracht. Einen Elf hatten sie zwar noch nie gejagt, aber das hier war ihr Terrain. Und es war kein einziger Baum in Sicht.
Sie sollten diesen Fehler nie wieder machen.
Elfen sind im Dunkeln ganz ausgezeichnete Jäger. Und diejenigen, die mit der Macht der Wolfseichen eine Verbindung eingingen, sind noch viel bessere.
Und dann gibt es noch jene wie Tyul Bergquell, die von der Macht einer Silbernen Wolfseiche berührt worden sind.
Das Einzige, was man hörte, war das Knacken, als zwei Genicke unter der Wucht eines einzigen Hiebes mit der bloßen Hand brachen. Zwei Messer wurden in der Luft aufgefangen, eines von einer mit Blättern tätowierten Hand, das andere von der spitzen Schnauze eines Eichhörnchens. Die Berührung mit Metall löste sowohl bei Tyul als auch bei Jurwan ein gequältes Schluchzen aus, und die Messer landeten wieder bei ihren nun toten Besitzern. Tyul betrachtete noch einige Sekunden lang den Boden, dann streckte er die Hand aus. Jurwan sprang hoch und hockte sich auf die Schulter des Elfs. Mit drei Schritten verschwanden sie in der Nacht. Am Morgen würde man die Leichen finden, vollkommen unbekleidet, und man würde drei Männer brauchen, um die Klingen aus den Augenhöhlen zu ziehen.
Konowa trank einen Schluck und spuckte die Flüssigkeit sofort wieder aus. »Das schmeckt wie Pferdepi…!« Er unterbrach sich. Einige Gäste im Palast des Vizekönigs sahen in seine Richtung, und das Stimmengemurmel im Innenhof erstarb.
»Entzückendes Fest«, murmelte er, nahm das Glas und stürzte die ekelhafte Flüssigkeit hinunter, um seinen Worten Nachdruck zu verleihen. Natürlich hatte der Vizekönig ein Fest für die Ankunft des Prinzen organisiert, und selbstverständlich musste der Prinz darauf bestehen, dass Konowa ebenfalls daran teilnahm. Dieser Mistkerl hasst mich wirklich, dachte Konowa.
Er sah eine Gruppe von Frauen – er vermutete, dass es verheiratete Ladys waren –, die auf ihn zukam. Sie schienen nur einen winzigen Schritt davon entfernt zu sein, ihn nach seinen Abenteuern auszufragen. Rallie! Diese Schreiberin und ihre verdammten Artikel erwiesen sich als lästiger als ein Raum voll betrunkener Orks. Wenn Konowa noch eine einzige Frage nach seiner »armen« Ohrspitze beantworten oder erklären musste, wie »einsam« es da draußen war, würde er diesen ganzen verdammten Palast in Brand setzen, ungeachtet der Konsequenzen.
Die Frauen kamen näher, wedelten mit ihren Fächern und klimperten mit den Wimpern. Eine Frau hatte ihm heute Nacht bereits die Hand gegeben und ihm dabei einen Türschlüssel aus Metall in die Handfläche gedrückt. Errötend hatte sie gesagt, dass sie nur hätte sehen wollen, ob ein Elf tatsächlich Metall anfassen könne, und sie hatte ihm vorgeschlagen, ihr den Schlüssel später zurückzugeben … persönlich. Konowa war nicht interessiert.
Die einzige Frau, die ihn interessierte, war wie üblich in ein scheinbar endloses Gespräch mit Rallie und seiner Mutter vertieft. Ganz offensichtlich schienen die drei die besten Freundinnen geworden zu sein. Vielleicht war es gut so. Solange er durch den Schwur gebunden war, sah Konowa keine Möglichkeit, wie er und Visyna zusammen sein konnten, vorausgesetzt, dass sie das überhaupt wollte.
Konowa warf einen verstohlenen Blick auf die Gruppe der Frauen und dachte über einen Fluchtweg nach. Wenn er nicht sofort reagierte, würde es zu spät sein. Sobald sie ihn umzingelt hatten, würde es ihm nicht mehr so leichtfallen, sich aus dieser Umklammerung von Spitze, Schmeichelei und Gelächter über alles, was er sagte, zu befreien, ganz zu schweigen von den Anspielungen, über die sogar Korporal Arkhorn erröten würde. Konowa richtete sich auf und fletschte die Zähne zu einem Lächeln. Sofort erlosch ihr Interesse an ihm, und sie drehten hastig ab, auf der Suche nach einer leichteren Beute. In diesem Moment sah Konowa eine Gasse in der Menge, an deren Ende ein Durchgang lag und die barmherzige Freiheit.
Er stellte das Glas auf einen Tisch neben sich und marschierte los. Ein Lakai sah ihn und nahm mit einem Tablett voller Getränke Kurs auf ihn. Hört das denn niemals auf?, dachte Konowa, während er einem Offizier des Dritten Lanzenträgerregiments, der gerade den Saal betrat, auswich und seine Schritte beschleunigte. Wohin er auch blickte, schlenderten Gruppen von Beamten und Würdenträgern, Schiffskapitänen und Calahrischen Offizieren in lebhafte Gespräche vertieft durch den Innenhof, wie Schiffe, die an ihren Halteleinen vor sich hin dümpelten. Er hörte, wie jemand seinen Namen rief, ging jedoch weiter. Dabei schnappte er Bruchstücke von Konversationen auf. Die Leute unterhielten sich über die Flotte im Hafen, die Rückkehr des Roten Sterns und darüber, was all das zu bedeuten hatte. Konowa hatte für ihr Gerede nur Verachtung übrig.
Eine Traube von Archäologen, Botanikern, Astronomen und anderen Gelehrten, die auf persönlichen Wunsch des Prinzen der Flotte zugeteilt worden waren, um ihm bei der Suche nach »Antiquitäten von besonderem Interesse« zu helfen, tauchte direkt vor Konowa auf. Er marschierte an ihnen vorbei, ohne sie eines Blickes zu würdigen; er war immer noch wütend, dass der Prinz diese Expedition als eine Art Abenteuer betrachtete.
Aus den Augenwinkeln bemerkte er, wie sich der Lakai mit dem Tablett von links näherte. Konowa schritt weiter aus. Der Lärm von Dutzenden von Gesprächen spülte über ihn hinweg und steigerte seine Wut noch. War ihnen denn nicht klar, dass jeder Augenblick, den sie hier tranken, aßen und redeten, verschwendet war? All ihre Bemühungen sollten eigentlich darauf gerichtet sein, die ursprünglichen Stählernen Elfen zu finden. Er hätte augenblicklich nach ihrer Landung zu Suhundams Hügel marschieren sollen … wenn nötig allein.
Der Durchgang war jetzt nur noch wenige Schritte entfernt, und Konowa lächelte zum ersten Mal an diesem Abend aufrichtig. Er würde zu den Truppen hinausgehen und auf dem Palastgelände übernachten. Dorthin gehörte er, nicht hierhin.
Hinter dem Durchgang sah er ein Lagerfeuer, an dem eine Gruppe von Soldaten stand. Ganz gleich, welche Temperaturen herrschten, Soldaten scharten sich immer um Lagerfeuer, fast wie Motten. Konowa konnte bereits den scharfen Rauch ihres Tabaks riechen und den Duft von Arr auf dem Feuer. Das war Heimat, dort konnte ein Elf noch ein Elf sein. Er entspannte sich sichtlich und gestattete sich einen Blick zurück auf die Party, die er gerade verließ.
Deshalb sah er den Lakai nicht, der einen Schritt vor ihm den Durchgang erreichte.
Das Klirren zerbrochener Gläser hielt sich einige Sekunden, bevor es verklang. In dieser Zeit waren sämtliche Gespräche im Innenhof verstummt. Konowa ließ den Kopf hängen. Er war so nah davor gewesen, so verdammt nah.
Der Lakai sprang im nächsten Moment wieder auf die Füße. »Verzeihen Sie bitte, Major. Aber drei Ladys sagten mir, dass Sie dringend einen Drink bräuchten. Sie waren ziemlich hartnäckig und haben mir eingeschärft, dass die Angelegenheit sehr wichtig wäre.« Er beugte sich ein Stück vor, und seine Stimme bebte. »Es steht mir zwar nicht zu, das zu sagen, aber ihr Verhalten ließ darauf schließen, dass … Sie wissen schon …«
Konowa seufzte. »Glauben Sie mir, der Ausdruck ›Weibsstück‹ ist bei weitem nicht stark genug für diese ›Ladys‹.« Er schüttelte den Kopf und betrachtete seine Uniformjacke. »Immerhin würde ich sagen, Sie haben Ihren Auftrag erfüllt, denn ich habe jetzt mehr als genug Getränke an mir, um mich für einige Zeit zu beschäftigen. Aber tun Sie mir trotzdem einen Gefallen, und halten Sie offene Flammen von mir fern, bis ich wieder trocken bin.«
Das Stimmengemurmel im Hintergrund schwoll rasch wieder zu seiner früheren Stärke an. Das Lagerfeuer loderte verlockend hinter dem Durchgang, aber Konowa wusste, dass er es nicht erreichen würde, noch bevor er diese Stimme hörte.
»Fast wäre Ihnen die Flucht gelungen, Major«, sagte ein Mann irgendwo hinter ihm, »aber Ihre Strategie war fehlerhaft.«
Konowa drehte sich um und schützte seine Augen mit der Hand, als ein kleiner Karren mit noch mehr Kristallgläsern an ihm vorübergeschoben wurde. Das Licht der vielen Laternen im Innenhof wurde von den Gläsern reflektiert; ihr Schein schmückte kurz das lächelnde Gesicht des Suljak der Hasshugeb und warf für einen Moment ein Dutzend tanzende Schatten hinter seinen Kopf.
Der Suljak, ein gertenschlanker Mann, hatte seine Robe trotz der warmen Nacht eng um sich geschlungen. Seine hageren Wangen und sein dünnes, graues Haar ließen den Eindruck entstehen, dass seine Wüstenheimat karg und hart war, aber in seinen braunen Augen funkelte eine Intelligenz, die darauf hindeutete, dass er seinen Verstand zu einem sehr scharfen Instrument verfeinert hatte.
»Euer Gnaden.« Konowa verbeugte sich kurz und kehrte dem Durchgang zögernd den Rücken. »Was für eine Strategie soll das gewesen sein?«
Der Suljak trat näher an Konowa heran, legte ihm die Hand auf den Arm und tätschelte ihn kurz, als würde er ein kleines Kind trösten. »Nennen Sie mich Faydarr, bitte. Ich finde es sehr anstrengend, wenn man die ganze Zeit mit seinem Titel angesprochen wird. Nach einer Weile beginnt man sich zu fragen, wer man eigentlich wirklich ist … sehen Sie das nicht auch so, Major?«
Konowa fuhr mit dem Finger über die Parierstange seines Säbels. Er war fest entschlossen, weitere philosophische Diskussionen zu vermeiden. »Das weiß ich nicht; ich bin ein Kriegerelf. Ohne die militärische Rangordnung wären wir nur wenig mehr als Pöbel mit Musketen.«
Der Suljak drückte Konowas Arm. »Dann haben Sie wohl selten schlaflose Nächte, Major, in denen Sie darüber nachgrübeln, wo Ihre Schlingen in dem großen Teppich des Lebens gewoben sind?«
»Gar keine«, log Konowa. Die Träume, in denen die Schattenherrscherin ihn verfolgte, gingen niemanden sonst etwas an. Dann merkte er, dass seine Antwort etwas abrupt klang, und er versuchte ein bisschen zu plaudern, wenigstens eine Minute lang, bis er sich unter einem Vorwand verabschieden konnte. »Ich schlafe ziemlich gut, aber andererseits bin ich vermutlich nicht klug genug, um zu wissen, dass ich mir Sorgen machen sollte. Sie erwähnten vorhin etwas über meine Strategie?«
Der Suljak drohte ihm mit einem knochigen Finger und zwinkerte. »Eine Ablenkung, natürlich. Für so etwas sollten Sie einen Adjutanten haben, einen loyalen Kameraden, der bereit ist, eine Suppenterrine umzukippen oder vielleicht eine Ratte in eine Punschschüssel zu werfen.«
Das Gesicht von Regimentssergeant Lorian blitzte in Konowas Kopf auf. Ihre erste Begegnung war nicht besonders herzlich gewesen; Lorian hatte damals versucht, Konowa mit einem Säbel den Kopf abzuschlagen. Aber sie hatten sich irgendwie arrangiert. Konowa vermisste ihn.
»Die Stählernen Elfen sind im Moment nicht in ihrer vollständigen Stärke unterwegs«, erwiderte Konowa. »Deshalb muss ich diese Dinge bedauerlicherweise ganz alleine ausfechten.«
»Ah, der einsame Wolf.« Die Stimme des Suljak klang aufrichtig. »Leider habe ich nie einen Wolf mit eigenen Augen gesehen, aber soweit ich weiß jagen sie üblicherweise in Rudeln. Nur die Kranken oder Wahnsinnigen jagen allein … jedenfalls hat man mir das erzählt.«
Konowa blinzelte und betrachtete den Suljak genauer. Der Mann schien dem Grab so nahe zu sein, dass er fast nach frisch ausgehobener Erde hätte riechen können, aber das Timbre seiner Stimme zeugte von einem Lebenswillen, der nicht vorhatte, in nächster Zukunft aufzugeben. »Sind Sie auch ein einsamer Wolf, oder haben Sie einen Adjutanten, der Zwischenfälle und Ablenkungen provoziert, wenn die Situation es erfordert?« Konowa versuchte sich vorzustellen, wen von den Stählernen Elfen er für diese Aufgabe auswählen würde. Korporal Arkhorn kam ihm in den Sinn. Der Zwerg war bereits eine Ablenkung an sich.
»Ich habe mehrere Adjutanten«, erwiderte der Suljak. »Obwohl es ihnen nicht immer bewusst ist.«
Obwohl er den Wunsch hatte, diese Feier zu verlassen, fand Konowa den Suljak sehr unterhaltsam. »Warum habe ich nur das Gefühl, dass ich einer von ihnen bin?«
Der Suljak schüttelte sich mehrere Sekunden vor Lachen. So lange, bis Konowa sich Sorgen machte, dass der alte Mann sich möglicherweise eine Rippe brechen könnte.
»Ein andermal vielleicht. Aber durch die Unruhe, die durch Ihren unglücklichen Unfall erzeugt wurde, haben die drei zauberhaften Ladys, die vom Prinzen eskortiert wurden, die Gelegenheit genutzt und sind verschwunden. Sie scheinen die Feier fast unbemerkt verlassen zu haben.«
Konowa wirbelte herum und sah zu der Stelle hinüber, wo er Visyna, Rallie und seine Mutter das letzte Mal gesehen hatte. Sie waren nicht mehr in Sicht.
»Verdammter Hurensohn!«, stieß Konowa halb ärgerlich und halb bewundernd hervor.
Der Suljak öffnete seine Augen ein bisschen weiter. »Gewiss, und wenn ich das richtig verstanden habe, sind Sie der Sohn eines Zauberers. Sagen Sie, haben sich die magischen Fähigkeiten Ihrer Eltern auf Sie übertragen?«
Konowa hatte vergessen, wo er war … und wer der Suljak war. »Wenn Sie mitzählen, wie schnell man in Schwierigkeiten geraten kann, bin ich ganz gewiss ein Zauberer, jedenfalls was das angeht.«
Der Suljak neigte den Kopf. »Sie sind sehr bescheiden. Die Gerüchte über die legendären Stählernen Elfen und Major Konowa Flinkdrache fegen wie Staubfahnen durch die Wüste. Ich habe den Eindruck gewonnen, dass Sie recht geschickt darin geworden sind, Macht zu wirken.«
»Und was sind das für Gerüchte?«, erkundigte sich Konowa. Die Eichel auf seiner Brust gab keinerlei Hinweise darauf, dass der Suljak eine Bedrohung wäre, aber allmählich dämmerte Konowa, dass die Macht der Schattenherrscherin nicht besonders gut dafür geeignet war, die Finesse und Subtilität dieses alten Mannes aus der Wüste zu begreifen. Was das anging, glaubte Konowa auch nicht, dass er selbst oder das Imperium besser dabei abschneiden würden. Pimmer wüsste vielleicht, wovon er redet, dachte er.
»Wir bekommen den Wöchentlichen Imperialen Herold auch hier.« Suljak Faydarr lächelte strahlend.
Es wurde Zeit, das Thema zu wechseln. »Pimmer … Verzeihung, ich meinte, Vizekönig Alstonfar sagte mir, dass Sie den größten Teil der Wüste und der Stämme, die dort leben, beherrschen.« Konowa trat aus dem Weg, als weitere Lakaien herbeikamen, um dabei zu helfen, die Glasscherben aufzusammeln.
Der Suljak tat das Kompliment mit einer Handbewegung ab. »Pimmer schmeichelt mir. Ich gebe einfach nur Rat und überlasse es jedem Stamm, ob und wie er meine Empfehlung beherzigt. Wollen wir ein Stück spazieren gehen?«
Konowa ließ sich von dem Mann in einen kleineren Garten führen, der kaum mehr als zehn Meter im Quadrat maß. Die Steinmauern lagen hinter großen Palmen, Efeu und üppigen Büschen verborgen, die die Illusion eines Dschungels erzeugten. Es war sogar feucht hier, zweifellos wegen des großen, gurgelnden Brunnens, der am Ende des kleinen Gartens stand. Das Wasser lief über die Seiten des Steinbeckens, das den Springbrunnen umgab, und sickerte durch Risse in den Steinplatten herunter.
»Wenn man das hier sieht, ist es schwer vorstellbar, dass außerhalb der Stadt nur staubige, heiße Wüste liegt«, meinte Konowa und bereute seine Bemerkung augenblicklich. »Ich bin natürlich sicher, dass die Wüste sehr schön sein kann, mit all dem offenen Raum …«
Der Suljak senkte einen Augenblick den Kopf, hob ihn dann wieder und blickte Konowa direkt in die Augen. »Major, sollte man Ihnen jemals die Position eines Diplomaten anbieten … dann schlagen Sie sie aus.«
Konowa akzeptierte den Tadel mit einem Lächeln. »Sie sind nicht der Erste, der mir das sagt. Man hat mir schon häufiger mitgeteilt, dass es nicht meine Stärke ist, mit anderen zurechtzukommen.«
»Und doch fühlen Sie sich unter Ihren Soldaten wohl«, erklärte der Suljak.
»Ich verstehe sie. Und meistens verstehen sie mich auch.«
»Und was ist mit Ihrem Imperium? Versteht das Sie auch?«
Konowa spürte, wie sich die Richtung, die ihr Gespräch nahm, unmerklich veränderte, und fragte sich, wohin es wohl führen würde. Sein Gespräch mit Korporal Arkhorn über die Rolle des Imperiums in der Welt war ihm noch sehr gegenwärtig. »Das Imperium ist eine höchst komplizierte Bestie. Für Leute aus den Kolonien, wie Sie und mich, ist es vermutlich noch komplizierter. Ich für meinen Teil bemühe mich, die Dinge einfach zu halten. Die Königin erklärt etwas oder jemanden zum Feind, also marschiere ich hinaus und bringe es oder ihn um.«
Die Lippen des Suljak hoben sich zu einem fast unmerklichen Lächeln. »Und wenn sie mich zum Feind erklärt?«
Konowa erwiderte das Lächeln. »Die Antwort darauf kennen wir beide. Habe ich recht?«
»Sehen Sie diesen Brunnen, Major?« Der Suljak wechselte das Thema, legte seine Hand auf Konowas Arm und führte ihn dorthin. »Er ist in vielerlei Hinsicht wie das Imperium.«
Konowa fluchte innerlich. »Sie meinen als Metapher für den verschwenderischen Umgang des Imperiums mit Menschenleben? Oder für die verlorene Produktivität? Die unnatürliche Kontrolle von Energie, die nur zu einem einzigen Zweck konzentriert wird?«
Der Suljak lachte, und Konowa spürte, dass es aufrichtig war. »Als Pimmer hier ankam, haben wir beide an diesem Brunnen stundenlang miteinander geredet, Monate bevor er sich auch nur hundert Meter vom Palast entfernt hat – und fast ein Jahr bevor er es wagte, die Stadt zu verlassen. Sie dagegen sind bereits dort draußen. Sie stehen hier mit mir, aber in Ihrem Herzen durchstreifen Sie bereits die Wüste, stimmt’s?«
Er machte eine Geste, als wollte er Konowa auf die Brust klopfen, doch Konowa hielt sanft seinen Arm fest und führte ihn nach unten. Der Suljak sprach weiter, als wäre nichts geschehen.
»Sie sind ein Mann der Tat, aber heute Nacht, heute stehen Sie zwischen denen, die nur reden. Sie kommen sich vor, als würde Ihnen ein Zahn gezogen, nicht wahr? Jetzt stehen Sie hier, starren auf einen Brunnen, reden mit einem alten Mann und fragen sich, wie lange Sie ihm um den Bart gehen müssen, bevor Sie sich unter einem Vorwand entschuldigen und zu Ihren Soldaten zurückgehen können. Oder irre ich mich da?«
Konowa wollte widersprechen, sah dann jedoch keinen Sinn darin. »Sie irren sich nicht. Aber ich bin sicher, dass ich unser Gespräch weit mehr genießen würde, wenn ich das erledigt hätte, weshalb ich hierhergekommen bin.«
Der Suljak deutete mit einer Hand in den Himmel. »Es wird kein Später geben, fürchte ich.«
Etwas in seinem Tonfall ließ Konowa aufhorchen. Er drehte sich zu ihm herum. »Was meinen Sie damit?«
»Den Brunnen. Sehen Sie, wie das Wasser herausläuft und unablässig das Becken füllt? Das ist das Imperium; es erschließt unbekannte oder zumindest wenig erforschte Länder, um den Heiden das Licht der Zivilisation zu bringen und sie aus ihrer Ignoranz zu befreien.«
»Diese Art von Argumentation ist mir nicht unbekannt«, erwiderte Konowa.
Der Suljak lächelte wieder. »Davon bin ich überzeugt. Ich hatte das große Glück, vorhin mit Ihrer Mutter, mit Mistress Synjyn und mit der liebreizenden Mistress Tekoy eine entzückende Unterhaltung führen zu können. Ich hatte gehofft, mich noch einmal mit ihnen zu unterhalten, aber wie es scheint, hatten sie etwas anderes zu tun.«
Konowa stöhnte. »Das ist immer so. Aber ich bin sicher, dass sie Sie über meine Gefühle bezüglich der Angelegenheiten des Imperiums im Allgemeinen bestens informiert haben.«
»Allerdings.« In der Stimme des Suljak schwang Erheiterung mit. »Aber ich möchte mit Ihnen eigentlich nicht über das Imperium reden, sondern eher darüber, was danach kommt.«
Konowa schnaubte kurz. »Trotz allem, was Sie gehört haben mögen, glaube ich nicht, dass Calahr vorhat, irgendwohin zu gehen.«
Suljak Faydarr tätschelte erneut Konowas Arm. »Ich bin sicher, dass dem so ist, aber trotz des festen Glaubens des Prinzen an sich selbst und Ihr Regiment wird zurzeit gerade der Wind der Veränderung – den er angeblich kontrolliert, wie er so kühn verkündet – vor andere Wagen gespannt.«
Konowa wünschte sich plötzlich dringend ein Getränk, ganz gleich, wie ekelhaft es schmecken mochte. Wenn er schon Kopfschmerzen bekommen musste, dann lieber wegen eines Katers. »Bei allem gebührenden Respekt, Euer Gnaden, ich habe die Nase voll von Rätseln. Sie haben mit den drei … Frauen gesprochen, also bitte, wenn Sie mir etwas zu sagen haben, dann sagen Sie es einfach.«
Der Suljak nickte. »Ich wusste vom ersten Moment an, als ich Sie sah, dass Sie ein aufrichtiger Elf sind. Vielleicht sogar aufrichtiger, als es gut für Sie ist, aber ich begreife, dass das Vertrauen, das Ihre Majestät in Sie setzt, vollkommen gerechtfertigt ist.«
Konowa konnte nicht verhindern, dass seine Stimme eine Oktave höher stieg. »Sie haben mit der Königin gesprochen?«
»Nicht direkt, nein, sondern durch … Vermittler. Sie ist eine sehr kluge Frau. Und ihr Durst nach Wissen ist unersättlich.«
»Wie der ihres Sohnes«, erwiderte Konowa und warf einen schnellen Blick über die Schulter. Doch vom Prinzen war nichts zu sehen, und er entspannte sich.
Der Suljak kommentierte Konowas Geste mit einem traurigen Lächeln. »Nein, eigentlich nicht. Der Prinz sucht Wissen; er ist sogar ziemlich fasziniert davon und hat den Traum, dass der einfache Akt der Wissensanhäufung eine Veränderung auslösen wird. Ihre Majestät ist weit praktischer veranlagt. Ihre Anhäufung von Wissen dient immer einem Zweck.«
»Und was wäre dieser Zweck?«
»Die friedliche Auflösung des Imperiums«, erwiderte der Suljak.
Konowa hätte fast gelächelt, bis ihm klar wurde, dass der Suljak es ernst meinte. »Hat sie das gesagt?«
»Sie ist nicht dumm, ganz im Gegenteil. Die Welt befindet sich in einem ständigen Wandel, Major. Die Rückkehr der Sterne verschärft nur all das, was seit Jahren unter der Oberfläche gärt. Sagen Sie selbst: Sind die Elfen von der Langen Wacht glücklich mit der Herrschaft Calahrs? Oder die Zwerge, die Elfkynan und all die anderen Völker? Die Rückkehr der Sterne konzentriert nur etwas, das bereits existiert hat.«
»Sie reden von Rebellion«, meinte Konowa. »Hunderte und Aberhunderte von Elfkyna starben, als der Stern zur Erde fiel. Sie sind gestorben, weil sie an eine Lüge glaubten. Und das Imperium regiert noch immer ihr Land.«
»Das stimmt, aber Tausende und Abertausende sind auch nicht gestorben. Elfkyna hat bereits begonnen, sich zu verändern. Der Rote Stern ist zurückgekehrt, und jetzt wird er, und nicht das Imperium, als der wahre Wächter und Herrscher von Elfkyna betrachtet. Diese eine, einfache Wahrnehmung ist weit mächtiger als tausend Kanonen. Die Saat des Sterns, die dort eingepflanzt wurde, hat viel mehr als nur einen magischen Baum wachsen lassen. Sie hat die Idee von Freiheit geboren.«
Konowa ging auf und ab und sah sich in dem Garten um. Er hatte das Gefühl, wieder in der Wildnis Elfkynas zu sein. Es war kein angenehmes Gefühl. »Selbst wenn Sie recht haben und der nächste Stern, das Juwel der Wüste, hierher in diese Wüste zurückkehrt, was dann? In der Welt gibt es immer noch ernste Gefahren, denen nur das Imperium wirkungsvoll entgegentreten kann … oder glauben Sie, dass die Schattenherrscherin sich nicht so weit nach Süden vorwagt?«
»Ich bin vollkommen davon überzeugt, dass sie das tun wird. In dieser Hinsicht ist sie weit weniger klug als Ihre Majestät. Die Königin weiß, dass die Tage des Imperiums und der Alleinherrschaft sich dem Ende neigen. Die Schattenherrscherin weiß das nicht.«
Konowa schüttelte den Kopf. »Ich habe gesehen, wozu die Schattenherrscherin fähig ist. Wenn es ihr gelingt, in Ihrer Wüste Fuß zu fassen, wird das Imperium gebraucht werden, um sie wieder auszugraben.«
»Welch ein Glück, dass Sie jetzt hier sind«, antwortete der Suljak. Keine Spur von Sarkasmus schwang in seiner Stimme mit. »Nur kommt die Schattenherrscherin tausend Jahre zu spät in dieses Land. Hier existiert bereits eine andere tödliche Macht, die uns alle bedroht.«
»Sie meinen Kaman Rhal?« Konowa ging zurück und blieb dicht neben dem Suljak stehen. Er spielte kurz mit dem Gedanken zu erwähnen, was auf der Insel geschehen war, entschied sich jedoch dagegen. »Ich kenne die Geschichte, jedenfalls einen Teil davon. Wollen Sie behaupten, dass er zurückgekommen ist?«
»Das weiß ich nicht. Aber es gibt Unruhe in der Wüste. Es blühen Gerüchte. Es ist eine Tatsache, dass seine Leiche und die seiner angeblichen Gemahlin, einer Drachenfrau, niemals geborgen wurden, sondern zusammen mit seiner Bibliothek und der Stadt Urjalla begraben wurden. Wie viel davon real ist und wie viel Aberglaube, weiß ich nicht, aber in letzter Zeit hat sich genug Finsteres ereignet, dass nunmehr alles, was einst für unmöglich erachtet wurde, nur noch höchstens unwahrscheinlich ist.«
»Ich kämpfe gegen die Schattenherrscherin … und gegen alle Feinde des Imperiums«, setzte Konowa hinzu. »Falls Kaman Rhal oder ein Relikt seiner Macht versucht, sich uns in den Weg zu stellen werden wir uns der Sache annehmen. Es sind noch mehr Schiffe unterwegs. Der Prinz will unbedingt Kaman Rhals Ruhestätte finden.«
»Ich hoffe, es gelingt ihm«, sagte der Suljak.
»Tatsächlich? Es macht Ihnen keine Sorgen, dass das Imperium das angesammelte Wissen und die Schätze Ihres Volkes plündert?«
»Ich habe viele Sorgen. Ich mache mir Sorgen über die Rückkehr von Kaman Rhal und die Übergriffe der Schattenherrscherin, aber all diese Sorgen verblassen im Vergleich zu meiner größten Kümmernis.«
»Und die wäre?«
»Sie.«
»Ich?«
Der Suljak nickte. »Vorhin haben Sie behauptet, Sie würden gut schlafen. Ich schlafe leider nicht gut. In letzter Zeit werde ich von Albträumen verfolgt. Wissen Sie, was ich darin sehe? Sie, Major. Sie mit dem Juwel der Wüste in den Händen, so wie Sie auch das Schicksal des Roten Sterns in Elfkyna in Ihren Händen hielten. Sie haben die Macht einmal aufgegeben, um das Land der Elfkynan zu retten. Das war eine sehr selbstlose Tat, Major. Sagen Sie, wären Sie dazu erneut imstande?«
»Es ist meine Pflicht, das Imperium zu verteidigen, und genau das habe ich auch vor.«
Der Suljak neigte den Kopf einen Moment, dann hob er ihn und blickte Konowa erneut in die Augen. Jetzt war jedoch jeder Funke von Humor aus den Augen des Mannes verschwunden.
»Und meine Pflicht ist es, mein Volk und sein Land zu verteidigen. Und das werde ich auch tun, ganz gleich, was es kosten mag.«
Das konnte Konowa verstehen. »Ich habe keinen Zwist mit Ihnen, Faydarr. Ich bin wegen meiner Elfen hier. Sobald ich sie gefunden habe, muss ich meinen eigenen Feind besiegen, und sie ist nicht Sie.«
Eine Weile sprach keiner von ihnen ein Wort. Das Wasser des Brunnens gurgelte und plätscherte, als es über die Seiten des Beckens auf die Pflastersteine lief. Was für eine Verschwendung, dachte Konowa. So viel Wasser für einen Brunnen, und das in einem Land, das trocken wie Knochen ist. Als das Wasser in den Ritzen versickerte, drängte sich ihm unwillkürlich das Bild von vergossenem Blut auf. Dieser Brunnen war tatsächlich wie das Imperium. All diese Toten, dachte er, und wofür? Wenn das Imperium tatsächlich auseinanderbricht, wofür war das alles dann gut gewesen? Er sah den Suljak an. »Die Königin ist nicht die Einzige, die hier ein kompliziertes Spiel spielt.«
Der Suljak der Hasshugeb zwinkerte Konowa zu und tätschelte zum dritten Mal seinen Arm. »Ich weiß wirklich nicht, worüber Sie da reden.« Er ließ Konowas Arm los und wandte sich zum Gehen. »Übrigens, sollte jemand zufällig einen unauffälligen Weg suchen, um diese Festlichkeiten zu verlassen, würde er vielleicht versuchen, hinter den Brunnen zu gehen. Dort würde er auf einen Pfad stoßen, der ihn zu einem Nebentor führt, durch das er das Gelände überqueren könnte, ohne den Innenhof passieren zu müssen.«
Die Gäste der Feier wurden kurz von einem lauten Schrei erschreckt, der von irgendwo auf dem Hof zu ihnen herüberschallte. Aber die Gespräche wurden rasch fortgesetzt, weil ganz offensichtlich kein Grund für Beunruhigung bestand; es war ein Schrei reiner Freude gewesen.