8

DER HIMMEL WURDE schiefergrau, am Horizont, wo sich Sturmwolken bildeten, sogar schwarz. Die Schreie einer Vogelschar, die vor dem heraufziehenden Unwetter flüchtete, trugen weit in der kalten Luft. Der Wind frischte auf, fegte vor den aufkommenden Wolken dahin und wühlte alles auf, was ihm in den Weg kam.

Die drei Frauen ignorierten das oder ließen sich äußerlich zumindest nicht anmerken, ob dieser Wetterumschwung sie beunruhigte. Ihre Aufmerksamkeit war ausschließlich auf den siedenden Topf gerichtet, der vor ihnen stand. Eine Windbö zischte zwischen ihnen hindurch und fegte den Dampf einen Moment zur Seite, sodass man den Inhalt des Topfes erkennen konnte. Sie beugten sich vor und sahen hinein. Immerhin zuckte keine von ihnen vor der grünen, klebrigen Masse zurück, die in dem Topf blubberte und deren Gestank zum Glück vom Wind rasch verweht wurde.

Keine der Frauen schien bereit, als Erste das Wort zu ergreifen. Tränen schimmerten in ihren Augen, während sie versuchten, etwas Wissenswertes aus dem Topfinhalt herauszulesen. Der Kessel aus Roheisen hing über einem lodernden Feuer an einem Lederriemen, der an drei zusammengestellten Musketen befestigt war. Das Feuer darunter glühte orangefarben und schien vom Wind nicht beeinflusst zu werden. Außerdem war unter den Flammen kein Brennstoff zu sehen, und noch verblüffender war die Tatsache, dass das hölzerne Deck der Schwarzer Dorn nicht versengt wurde.

Nach einigen Augenblicken intensiven Nachdenkens schlug Rallie die Kapuze ihres Umhangs zurück. »Vielleicht gebührt die Ehre der Ältesten von uns.« Sie starrte dabei weiter auf den Topf und vermied dadurch, den Blicken der beiden anderen Frauen zu begegnen, die sich jetzt ihr zuwandten.

»Und wer wäre das?«, erkundigte sich Chayii Rote Eule. Der Unterton in ihrer Stimme war trotz des Windes unverkennbar.

Visyna sah von Rallie zu Chayii und hütete sich, etwas zu sagen. Chayii war eine Elfe, die schon unglaublich lange lebte, wie jeder wusste. Rallie dagegen war anders als alle Menschen, denen Visyna jemals begegnet war. Sie sprach mit einer Weisheit, die nur durch sehr viel Erfahrung über einen sehr langen Zeitraum erreicht worden sein konnte. Und beide waren, jedenfalls soweit Visyna das beurteilen konnte, Hexen. Das hätte sie eigentlich wie Schwestern aneinanderbinden sollen. Jede von ihnen war auf ihre Art eine mächtige Bannwirkerin, und jede benutzte ihre Fähigkeiten, um die Schattenherrscherin daran zu hindern, sie alle zu vernichten.

»Möglicherweise kannst du das entscheiden, Visyna«, sagte Chayii.

Visyna wusste, dass sie in der Falle saß. Chayii war seit ihrer ersten Begegnung mehr oder weniger herzlich mit ihr umgegangen, aber Visyna war klar, dass die Elfe von der Beziehung zwischen ihr und ihrem Sohn Konowa wusste, ganz gleich, wie angespannt und unhaltbar diese zurzeit auch sein mochte. Chayii hatte bisher ihre Meinung in dieser Angelegenheit nicht kundgetan, aber Visyna war sich so gut wie sicher, dass die Elfe diese Beziehung nicht billigte.

»Ja, Kind, sag schon«, meinte Rallie.

Wieso müssen alte Hexen eigentlich immer Spielchen spielen?, fragte sich Visyna. Andererseits konnte man zu dritt genauso gut spielen wie zu zweit.

Wortlos nahm Visyna einen Löffel, beugte sich über den Topf und tauchte den Löffel ein. Sie lächelte die beiden Frauen an, als sie den gefüllten Löffel an die Lippen hob, stolz, dass sie eine ausweglose Situation vermieden hatte. Dann kostete sie die Brühe.

Tränen traten ihr in die Augen und liefen ihr die Wangen herunter, wo der Wind sie trocknete. Die Zeit schien sich aufzulösen, als sich ihre Welt zu einem hellen, weißen Licht zusammenzog, das hinter ihren Augen zu explodieren schien. Es fühlte sich an, als wäre ihr die Schädeldecke weggeflogen.

»Und?«, erkundigte sich Yimt. Der Zwerg stand nervös den Frauen gegenüber. Es wäre ihm wirklich eine Ehre, hatte er gesagt, für drei so vornehme Damen zu kochen. Ganz offensichtlich wussten seine Kameraden seine kulinarischen Bemühungen nicht sonderlich zu schätzen. Jetzt trat er ein paar Schritte zur Seite, kam wieder zurück und zupfte die ganze Zeit an seinem Bart.

Rallie nahm ihren Löffel und tauchte ihn in den Topf; Chayii folgte sofort ihrem Beispiel. Sie beide sahen zuvor Visyna an, die aber keine große Hilfe war. Ihre Nasenflügel waren aufgebläht, die Wangen gerötet. Die beiden Frauen nickten sich zu und kosteten Yimts Eintopf.

Es schien wie eine Ewigkeit, in der man nur das Geräusch des Windes und das Krachen der Wellen hörte, als das Schiff sich beeilte, dem Sturm davonzusegeln. Yimt zerrte so fest an seinem Bart, dass er sich mehrere Haarsträhnen ausriss.

Visyna fand als Erste ihre Stimme wieder.

»Wie … wie nennen Sie das?«

»Das ist ein Drachenrattenrezept meiner alten Mutter. Sie hat das von ihrer Mutter und die wiederum von ihrer.« Er ließ seinen Bart los und fuchtelte mit der Hand herum. »Mir ist schon klar, dass es in einem Eisentopf gekocht ist und dass solche Geräte euch Feenvolk nicht gefallen, also schmeckt es vielleicht nicht ganz so, wie es sollte …«

»Warum ist es grün?«, unterbrach ihn Chayii. Ihre Stimme klang etwas undeutlich.

»Ach so. Sie haben es vielleicht schon erraten, aber wir haben keine Drachenratten an Bord. Und ehrlich, welches Schiff sticht schon mit einem ordentlichen Vorrat an Drachenratten in See? Ich habe den Koch gefragt, diesen einarmigen Kerl mit dem Glasauge und dem Holzbein, aber obwohl er Fässer von gepökeltem Schweinefleisch, Rindfleisch, Ziegenfleisch und vermutlich sogar gepökeltes Salz an Bord hat, befindet sich nicht eine einzige Drachenratte in seinen Lagerräumen. Allerdings hat er mich darauf hingewiesen, dass das Schiff einen großen Vorrat von normalen Ratten hat.«

Visyna wusste, dass ihr jetzt sämtliche Farbe aus dem Gesicht geschwunden war. »Sie meinen …?«

Yimt legte die Hand aufs Herz. »Normale Ratten in einem Eintopf? Meine Mutter hätte mich an den Ohren aufgehängt. Nicht einmal, wenn mein Leben davon abhängen würde. Nein, ich habe eine Angelschnur ausgeworfen und ein paar Fische geangelt. Jedenfalls sahen sie irgendwie wie Fische aus. Sie waren hellblau, als ich sie an Bord gezogen habe, aber offenbar werden sie grün, wenn man sie erhitzt. Oh, und außerdem habe ich noch ein bisschen Drachenschweiß hineingegeben, um den Geschmack zu verstärken.« Er deutete auf die kleine Feldflasche mit diesem selbst hergestellten Gebräu, das selbst Steine zerfraß.

Während Yimt sprach, sah er immer wieder zu Rallie hinüber, die noch nichts gesagt hatte. Visyna hatte sie ebenfalls beobachtet, weil sie Angst hatte, dass die Schreiberin umkippen könnte.

»Das hier«, begann Rallie und machte eine kleine Pause, weil sie blinzeln und sich die Tränen aus den Augenwinkeln tupfen musste. »Das hier, Korporal Arkhorn, ist zweifellos der himmlischste Eintopf, den ich jemals habe kosten dürfen. Sie sind, mein Lieber, ein Küchenchef von außerordentlichem Talent.«

Visyna blickte zu Chayii hinüber und sah, dass deren Mund genauso offen stand wie ihrer.

»Ihr mögt ihn?«, erkundigte sich die Elfe ungläubig.

»Mögen? Ich könnte mir die Kleider herunterreißen und darin baden!«, erwiderte Rallie, nahm den Napf, den Yimt mitgebracht hatte, und hielt ihn hoch, während er ihr eine dampfende Portion von dem Eintopf einfüllte. Und als wollte sie jeden Zweifel zerstreuen, begann sie, den Eintopf zu löffeln, während sie genüsslich seufzte. Visyna hörte zwischen dem Kauen Worte wie brillant, exquisit und noch andere, von denen sie nicht genau wusste, ob sie für die Beschreibung einer Mahlzeit angemessen waren.

Yimt strahlte wie ein Vater, der sein neugeborenes Kind zum ersten Mal sieht. »Du bist wirklich richtig süß, Mistress Synjyn. Du ehrst dieses alte Schlachtross wahrhaftig. Ich kann dir gar nicht sagen, wie es mir das Herz wärmt, solche Worte von dir zu hören.«

Rallie erwiderte das Lächeln und hob anerkennend ihren Löffel. »Meine Komplimente an den Koch. Sie sind ebenso verführerisch wie Ihre Speisen.«

Visyna drängte sich urplötzlich ein Wort auf, und so sehr sie sich auch bemühte, sie konnte es einfach nicht aus dem Kopf bekommen. Bei allem, was heilig war – Rallie und Yimt flirteten.

Vor weiteren Überlegungen zu diesem Thema wurde sie von einem charakteristischen Pochen gerettet, das Soldat Renwars Holzbein auf den Schiffsplanken erzeugte. Alwyn humpelte heran und blieb wie angewurzelt stehen, als er den Topf sah. Seine Hand zuckte zu seinem Mund, doch er erholte sich rasch.

»Guten Abend, Ladys.« Er sah die Frauen jedoch kaum an, weil er den brodelnden Topf argwöhnisch im Auge behielt. »Major Flinkdrache lässt Sie grüßen und bittet Mistress Rote Eule, Mistress Tekoy und Mistress Synjyn zu sich auf das Achterdeck.«

»Geht ihr beide ruhig mit.« Rallie winkte den beiden Frauen zu, während sie ihren leeren Napf hochhielt, damit Yimt ihn erneut füllte. »Sagt dem Major, dass ich noch dabei bin, meine Gedanken über die vergangenen Ereignisse zu formulieren. Sobald ich Zeit gehabt habe, sie zu ordnen, werde ich ihn aufsuchen.«

Visyna sah Chayii an und nickte. »Vielen Dank, Yimt von der warmen Brise. Sie hören niemals auf, mich zu verblüffen.«

Yimt schenkte ihr ein metallisches Grinsen. Seine zinnfarbenen Zähne schimmerten im Licht des Feuers. »Noch so ein Kompliment, und ich werde rot«, erwiderte er und richtete seinen Blick beiläufig auf Visyna.

»Mir fällt nichts Besseres ein, als zu sagen, wie schade es ist, dass wir weggerufen wurden und nicht bleiben und mit Ihnen essen können«, sagte sie. Sie lächelte, erfreut über ihre Schlagfertigkeit, aber einen Moment später kostete es sie alle Mühe, ihr Lächeln zu behalten.

»Das ist jetzt aber wirklich genug. Ich bin offiziell geschmeichelt«, erwiderte Yimt. Er nahm zwei Näpfe vom Boden und füllte sie mit dem Eintopf. Rallie half ihm, als er den einen Chayii und den anderen Visyna gab. Die Augen der Schreiberin funkelten mutwillig, als sie sich von den beiden Frauen verabschiedete.

»Wie geht es deinem Bein, Alwyn vom Imperium?«, erkundigte sich Chayii, während sie über das Deck zur Brücke des Schiffes gingen. »Du scheinst dein Gleichgewicht immer besser zu beherrschen.«

Alwyn nickte und hob den Saum seines Kilts etwas an, sodass die Frauen sein Holzbein besser sehen konnten. Wo das magisch verflochtene Holz sich um den Stumpf seines Beins wand, leuchtete die Haut hellrot. Ein Funken Frostfeuer sprang von seiner Haut auf das Holz über. Doch das Holz war poliert, sodass es wie dunkles Messing schimmerte, und pulsierte mit einer weichen Energie, die die Flamme erstickte, bevor sie dort Nahrung fand.

»Es sieht so aus, als würden sich mein neues Bein und mein altes nicht ganz so gut miteinander vertragen.«

»Hast du starke Schmerzen?« Visyna kniete sich neben ihn und begann, ein Muster in die Luft zu weben. Alwyn schob ihre Hände sanft, aber bestimmt zur Seite. Visyna richtete sich wieder auf.

»Die Schmerzen helfen mir, wenn Ihr das verstehen könnt. Wenn die Dinge zu verwirrend werden, kann ich mich auf den Schmerz konzentrieren und alles andere ausschalten, jedenfalls für eine Weile.«

Chayiis Miene veränderte sich nicht, aber sie streckte ihre Hand aus und legte sie auf Alwyns Schulter. Eine schwarze Flamme zuckte bei ihrer Berührung auf, aber sie ließ ihre Hand liegen. »Wir werden einen Weg finden. Eines Tages wirst du davon befreit sein.«

Alwyn lächelte, aber Visyna fand diese Miene nicht sonderlich tröstend.

»Wo wir gerade davon reden, sich von Flüchen zu befreien«, sagte Alwyn, während er weiterging. »Korporal Arkhorn kann uns nicht mehr sehen, falls Sie Ihre Näpfe über Bord werfen wollen.«

Visyna warf einen Blick auf ihren Napf und warf ihn über die Reling. Chayiis Napf folgte ihm sofort.

»Offenbar hat Korporal Arkhorn wieder gekocht.« Konowa kam an der Reling entlang auf sie zu. Er schwankte ein wenig, und seine Augen hatten einen wilden Ausdruck, der nur teilweise durch die immer aufgewühltere See zu erklären war.

Visyna unterdrückte den Impuls, ihre Hand auszustrecken und ihn zu stützen. Das alles war seine Schuld. Vielleicht würde die Seekrankheit ihm helfen, wieder zur Besinnung zu kommen.

»Wollten wir nicht auf dem Achterdeck reden?«, erkundigte sich Visyna.

Die ersten Regentropfen klatschten auf das Deck. »Da oben ist es im Moment ein bisschen voll«, antwortete Konowa.

An seinem Gesichtsausdruck konnte Visyna ablesen, dass der Prinz auf der Brücke war.

»Ich halte es für besser, wenn wir irgendwo reden, wo es weniger … belebt ist«, fuhr Konowa vor.

»Dann lasse ich Sie in Ruhe miteinander sprechen.« Alwyn salutierte und wandte sich zum Gehen.

»Genau genommen, Soldat, sind Sie der Grund für unser Gespräch. Sie haben auf dieser Insel etwas gesehen, und Sie haben das weiße Feuer gelöscht, oder was auch immer es war. Wir alle haben gesehen, was bei der Seebestattung passiert ist, und nachdem ich bereits mit Soldat Vulhber gesprochen habe, spreche ich jetzt auch mit Ihnen. Um welche Art Magie hat es sich auf der Insel gehandelt?« Konowa winkte sie zu einer Stelle auf dem Deck, die etwas geschützter vor dem Wind war.

»Weißes Feuer? Eine solche Magie kenne ich nicht«, antwortete Visyna und sah Chayii an, die ebenfalls den Kopf schüttelte.

»Es war weiß, ein reines Weiß«, sagte Konowa. »Aber es hat den Schatten des Soldaten verbrannt … den Schatten von Soldat Kester Harkon.«

Alwyn zuckte zusammen, entspannte sich dann jedoch sofort wieder. Doch es war offensichtlich, dass auf der Insel etwas zwischen ihm und Konowa vorgefallen war.

»Ich weiß nicht, was ich noch dazu sagen sollte«, erwiderte Alwyn. Seine Stimme klang ruhig und fest, aber Visyna sah ihm an den Augen an, dass dieses Thema für ihn emotional gefährlich war.

»Vielleicht kann das warten bis …« Weiter kam sie nicht, als Konowa sie unterbrach.

»Erzählen Sie es, Soldat, erzählen Sie ihnen, was passiert ist.«

Alwyn sah Konowa an. Der Schmerz auf seinem Gesicht war so deutlich, dass Visyna den fast übermächtigen Drang verspürte, ihn in die Arme zu nehmen. Der Soldat straffte die Schultern, nahm fast Haltung an und berichtete dann langsam und zögernd, was geschehen war. Seine Stimme verriet keinerlei Emotionen während seiner Schilderung, nicht einmal, als er beschrieb, wie er selbst durch seinen Schatten Feuer gefangen hatte.

»Aber das ist ja schrecklich«, meinte Visyna, nachdem Alwyn zu Ende gesprochen hatte. Diesmal streckte sie die Hand aus und streichelte seinen Arm. »Es tötet eine Person, indem es seinen Schatten verbrennt. Und Sie glauben, dass das den Schwur gelöst hat?«

»Selbst wenn es das tut, wäre es keine Medizin.« Chayiis Stimme klang ernst. »Was auch immer dem Soldaten Harkon zugestoßen ist, klingt nach einem grauenvollen Schicksal.«

»Wir wissen nicht, was passiert ist«, sagte Konowa. »Und ob das tatsächlich den Schwur gelöst hat, bleibt noch abzuwarten. Aber wir wissen, dass es alles tötet, was sie schafft. Es hat viele Sarka Har zu Asche verbrannt, noch bevor wir angekommen sind. Und wenn es ihr Verderben ist«, Konowas Augen leuchteten hell, »dann könnte es sein, dass wir einen Verbündeten haben.«

»Ich glaube kaum, dass du einen solchen Freund haben willst, mein Sohn«, widersprach Chayii. »Selbst jetzt noch gibt es vieles in dieser Welt, das wir nicht verstehen. Und von dem, was früher war, wissen wir noch viel weniger.«

Konowa klopfte ungeduldig mit dem Stiefel auf das Deck. »Früher? Schon möglich. Ich habe etwas unglaublich Altes gespürt, aber was macht das schon für einen Unterschied? Es hat ihren Forst getötet. Nein, das hier ist eine Kraft, die ihre Macht ebenso hasst, wie wir es tun. Wenn wir es finden, können wir es vielleicht für uns nutzen.«

»So wie du die Dunkelheit nutzt, die auf deinem Herzen liegt?«, warf Visyna ein. »Was hat es dir denn gebracht? Oder Ihnen?« Sie deutete auf Alwyn und ließ dann rasch die Hand sinken.

»Ich habe getan, was getan werden musste«, stieß Konowa zwischen den Zähnen hervor. »Ich habe dein kostbares Land gerettet und dafür die Chance auf Freiheit aufgegeben, und das ist der Dank dafür? Entscheidend ist, dass Soldat Renwar bewiesen hat, dass es kontrolliert werden kann. Er hat es aufgehalten. Stellt euch vor, was Frauen mit euren Fähigkeiten damit tun könnten.«

Chayii räusperte sich, bevor Visyna antworten konnte. Chayiis Gesicht war jedoch ebenso rot wie das der anderen Frau.

»Wir bemühen uns, der Natürlichen Ordnung zu helfen, Gleichgewicht und Harmonie wiederherzustellen«, sagte Chayii. »Ich würde eine solche Macht niemals benutzen, selbst wenn ich es könnte, und ich weiß, dass auch Visyna das nicht tun würde.«

Visyna nickte. »Das ist Wahnsinn. Du hast einen gefährlichen Weg gewählt und einige sehr schlechte Entscheidungen getroffen. Du hast unseren Rat eingeholt. Willst du ihn nicht befolgen?«

Konowa sah Alwyn hilfesuchend an. »Sagen Sie es ihnen, erklären Sie es ihnen. Sie haben es gefühlt, Sie haben es kontrolliert.«

»Ich weiß nicht, was ich getan habe«, erwiderte Alwyn ausweichend. Diesmal konnte seine Stimme seine Verletztheit nicht verbergen. »Der Schmerz dieses Feuers war anders als alles, was ich jemals gespürt habe. Als ich in die Schatten trat, habe ich an Stellen in meinem Innersten gebrannt, von deren Existenz ich nicht einmal wusste«, sagte Alwyn. »Ich … ich weiß nicht, ob das etwas ist, das wir nutzen können. Möglicherweise ist der Preis zu hoch.«

Die Worte waren richtig, aber etwas an der Art, wie Alwyn sie aussprach, gab Visyna zu denken. Würde auch Konowa glauben, dass der Preis zu hoch war?

Ein Donnerschlag ertönte über ihren Köpfen, dem ein greller Blitz folgte. Der Regen verstärkte sich, und das Schiff krängte mächtiger, sodass Visyna Schwierigkeiten hatte, das Gleichgewicht zu halten.

Konowas Stimme übertönte den Sturm. »Danke, Soldat, das ist alles.«

Alwyn nahm Haltung an und salutierte. Sein Gesicht wirkte im Regen wie das eines Gespenstes. Er drehte sich um und verschwand kurz darauf außer Sicht. Erst als er fort war, ergriff Konowa wieder das Wort.

»Ich will wissen, was das für ein Wesen ist, das Sarka Har töten und Schatten verbrennen kann. Und ich will auch wissen, wo ich es finden kann«, sagte er. »Entweder hilft es uns, ihre düsteren Pläne zu zerstören, oder aber es wird ihr Schicksal teilen. Soldat Renwar hat gezeigt, dass wir uns dagegen verteidigen können, falls es nötig sein sollte. Wenn ihr wollt, dass ich euren Worten folge, dann gebt mir welche, die mir bei diesem Kampf helfen.« Damit drehte er sich herum und schritt davon.

Visyna sah ihm einen Moment nach, bevor sie sich hilfesuchend nach Chayii umsah. »Wie kann ich ihn erreichen? Wie kann ich es schaffen, dass er versteht?«

Chayii blickte aufs Meer hinaus und senkte dann den Kopf. »Ich hatte gehofft, Visyna, dass du mir das sagen könntest. Du hast einen Platz in seinem Herzen, den eine Mutter niemals einnehmen kann.«

Visyna wollte widersprechen, aber Chayii brachte sie mit einer Handbewegung zum Schweigen. »Ich weiß, dass er eine seltsame Art hat, es zu zeigen, aber dennoch ist es wahr. Du musst ihm helfen, Frieden zu finden, damit er den richtigen Weg sieht. Er glaubt, dass er nur an der Seekrankheit leidet, aber das ist nicht alles.« Sie betrachtete das Schiff mit einer solchen Trauer in ihrem Blick, dass Visyna unwillkürlich ihre Hand ergriff.

»Dieses Schiff besteht aus Wolfseichen. Das dumme Geschenk meines Ehemannes, sein Ryk Faur, verspottet alles, was uns lieb und teuer ist. Und selbst jetzt kann ich noch seinen Geist hier spüren. Der Schmerz wird niemals vergehen.«

Visyna verstand sie. Sie hatte sich von dem Moment an, als sie an Bord gegangen war, beklommen gefühlt. Trotz der Schrecken der Inseln hatte sie jede Gelegenheit ergriffen, das Schiff zu verlassen und an Land zu gehen, selbst wenn das bedeutete, sich den Kreaturen der Schattenherrscherin zu stellen.

»Das Imperium wird vieles zu erklären haben, aber bis dahin werde ich alles für Konowa tun, was ich kann, für ihn und für die Stählernen Elfen«, sagte Visyna und hoffte, dass es stimmte.

»Ich hoffe, du hast Erfolg.« Chayiis Gesicht war nass vom Regen. »Ich habe bereits meinen Ehemann an ihre Magie verloren, vielleicht sogar für immer. Ich will nicht auch noch meinen Sohn verlieren.«