14

»DAS HIER IST zwar nicht gerade ein Spaziergang über den Heldenboulevard in Celwyn, aber ich bin trotzdem verdammt stolz auf euch«, erklärte Yimt. »Ihr habt euch zusammengerissen und seid marschiert wie die strahlenden Silberjacken, für die ich euch stets gehalten habe. Der Major selbst hat gesagt, dass ihm Tränen in die Augen getreten sind, als er euch so marschieren sah.«

»Das hat der Major wirklich gesagt?«, erkundigte sich Scolly.

Yimt verdrehte die Augen. »Manchmal weiß ich nicht genau, ob ich dir über den Scheitel streicheln oder mit dem Schaft meines Schmetterbogens einen Scheitel ziehen soll. Also Jungs, hört zu, dann lernt ihr vielleicht etwas. Sogar du, Scolly.«

Sie standen auf einem unübersichtlichen Marktplatz, neben dem der Markt in Port Ghamjal in Elfkyna richtig aufgeräumt gewirkt hätte. Sechs Gassen kamen hier zusammen; sie wurden von blinden Bettlern gesäumt, die breite, flache Schalen vor ihren Füßen stehen hatten. Mit ihren milchigen Augen starrten sie blicklos in die Ferne, während sie die Hände flehentlich mit den Handflächen nach oben ausstreckten. Die Marktbuden drängten sich aneinander und waren meist nur durch einen Wandteppich voneinander getrennt. Waren aller Formen, Größen und Farben waren bis auf die Gassen gestapelt, und von den Markisen hingen noch mehr herunter, sodass man nur einzeln hintereinander durch die Gasse gehen konnte. Laternen flammten auf, als sich die Dunkelheit über die Stadt senkte.

Alwyn drängte sich vor, während die anderen Soldaten sich um den Korporal scharten. Ihre Aufregung war fühlbar. All diese Wochen auf hoher See, in denen sie nur eine albtraumhafte Insel nach der anderen erobern mussten, hatten ihren Tribut gefordert. Das ganze Regiment war bereit, die Suppe hochkochen zu lassen und zu sehen, was an die Oberfläche kann.

Zum Glück hatte man ihnen erlaubt, ihre Rucksäcke und Mäntel in dem provisorischen Lager zu lassen, das sie auf dem Gelände des Palastes des Vizekönigs in der Stadtmitte errichtet hatten. Aber alle hatten ihre Musketen über die Schultern geworfen. Auf Befehl des Prinzen sollten sie aber nicht geladen sein. Yimt dagegen hatte eine andere Meinung zu diesem Thema, sodass jeder Soldat vor dem Aufbruch eine Pulverladung und eine Kugel in den Lauf gestopft hatte. Allerdings hatten sie dafür gesorgt, dass der Prinz nichts davon mitbekam.

Yimt sah sich um und kratzte sich am Bart. Die Männer drängten sich näher an ihn heran.

»Wir haben eine Nacht freibekommen, um die alte Kristallkugel zu entstauben und in die Tiefen unserer verrotteten und verkommenen Seelen zu blicken. An einem Ort wie Nazalla ist alles, was man will, erhältlich … natürlich zu einem bestimmten Preis. Nach allem, was wir durchgemacht haben, lasse ich jetzt die Zügel etwas lockerer; also, was auch immer ihr wollt, jetzt ist der Moment, damit herauszurücken. Okay, nach welchem Unsinn und Übermut gelüstet es euch?«

Schreie nach Bier, Wein und anderen flüssigen Erfrischungen hallten von den Mauern der Häuser wider und schreckten ein paar Bettler hoch, die plötzlich feststellten, dass ihr Augenlicht doch nicht ganz so schlecht war, und sich eiligst nach einer anderen Bleibe umsahen. Alwyn hatte mit dem Gedanken gespielt, in dem improvisierten Lager zu bleiben, aber davon hatte Yimt nichts wissen wollen. Jetzt war Alwyn froh, dass er sich hatte überreden lassen.

»Immer mit der Ruhe«, beschwichtigte Yimt die Soldaten. »Versuchen wir, die Leute nicht zu vertreiben, bevor wir unsere Getränke bekommen haben, einverstanden? Was ist mit dir, Inkermon? Sie haben Fruchtsäfte und Arr, das so schwarz ist wie Teer und das sie in winzigen kleinen Tassen servieren.«

»Bei bestimmten Gelegenheiten ist mir Wein erlaubt; natürlich in geringen Mengen und unter Beachtung der angemessenen Rituale«, erwiderte der tief religiöse Bauer. Er erntete staunende Überraschung für seine Bemerkung.

»Jetzt weiß ich, dass die Welt untergehen wird«, meinte Hrem und unterdrückte einen Lacher. »Unser heiliger Mann will mit uns Heiden einen heben.«

Yimt nickte zustimmend. »Vielleicht gibt es doch noch Hoffnung für dich, Inkermon. Wein, sagst du? Wenn mich meine Erinnerung nicht täuscht, dann macht man hier einen aus Wassermelonen, nach dessen Genuss du die ganze Nacht durchtanzen wirst. Na ja, vielleicht tanzt du nicht unbedingt.«

»Ich verhungere«, warf Scolly ein und drängte sich nach vorn. »All das Gerede über Brot und Krümel von neulich hat meinen Magen angeregt. Ich könnte jetzt so ziemlich alles essen, außer Salz.«

Seine Kameraden nickten zustimmend. Alwyn war überzeugt, dass er zu einem großen Salzhaufen schmelzen würde, wenn es jetzt zu regnen begänne. Wie die Matrosen diese Nahrung monatelang essen konnten, war ihm ein Rätsel.

»Ich habe mich im Palast erkundigt«, meinte Yimt. »Die meisten Speisen hier werden eure Speiseröhren durchfegen und Funken hinter euren Augen schlagen.«

»Trinken und Wein und Essen, das ist ja alles gut und schön«, meinte Teeter. »Aber wo kann ein ordentlicher Soldat hingehen, um ein bisschen … Gesellschaft zu bekommen? Ob wir nun dem Untergang geweiht sind oder nicht, wir waren verdammt lange auf diesem Schiff.«

Dumpfes Gemurmel und das Scharren von Füßen antworteten ihm. Alwyn merkte verlegen, dass sein Gesicht glühte. Bis jetzt waren seine Gedanken so sehr mit dem Schwur und den Albträumen beschäftigt gewesen, dass er etwas Normales nicht einmal in Betracht gezogen hatte. Während sie eine Insel nach der anderen erobert hatten, hatten sie keine Chance gehabt, an eine Zeit jenseits dieser Schrecken zu denken. Und nachdem sie jetzt eine ganze Nacht für sich hatten, wusste er nicht, was er damit anfangen sollte. Etlichen anderen, wenn auch nicht allen, schien es genauso zu gehen.

Yimt ließ den Kopf in gespielter Scham sinken. »Es ist mir peinlich zuzugeben, dass ich euch kenne. Also, Jungs, ist euch bekannt, was die vornehmen Leute unter rhetorischen Fragen verstehen?«

Verständnislose Blicke antworteten ihm.

»Das meint eine Frage, auf die ich die Antwort schon kenne. Wie gesagt, ich habe mich ein bisschen im Palast umgehört. Der richtige Platz für uns ist der Blaue Skorpion. Wenn die Palastwache mir nicht direkt ins Gesicht gelogen hat, dann werden wir dort alles finden, wonach wir heute Nacht suchen, und wenn ich alles sage, meine ich alles!«

»Ich wollte eigentlich ein bisschen über den Markt spazieren«, erwiderte Hrem, »und vielleicht etwas Kleines für die Missus kaufen.«

Yimt schüttelte den Kopf. »Kommt nicht in Frage. Du hast die Menschenmenge heute Mittag gesehen. Wir müssen zusammenbleiben, vor allem in der Nacht. Vor zwanzig Jahren war das hier noch nicht so, das kann ich euch versichern. Nazalla hat sich verändert, und zwar nicht zum Besseren.« Er drehte sich um und zeigte auf eine Mauer, an der eine lange, weiße Schriftrolle auf den staubigen Putz geklebt war. »Sie können die ganze Stadt mit der Proklamation des Prinzen tapezieren, aber das wird nicht verhindern, dass man euch eure Geldbörse stiehlt oder die Kehle aufschlitzt. Es gibt sehr gefährliche Leute, die euch mit größter Gleichgültigkeit ebenso niederstechen wie begrüßen würden.«

»Sollen sie es doch versuchen«, meinte Zwitty. Er streckte die Hand aus, und sofort flammte Frostfeuer auf. Alle sprangen zurück. Nur sehr wenige Soldaten – einer von ihnen war Alwyn – besaßen die natürliche Fähigkeit, die Flammen zu entfachen und sie zu kontrollieren. Bei den übrigen, zu denen auch Zwitty gehörte, war es so, als würde man einem Kind eine geladene Muskete in die Hand geben.

»Lösch die Flammen!«, befahl Yimt. Er sah sich hastig um, ob sie beobachtet würden. »Willst du einen Aufstand verursachen? Hört zu, ihr alle! Es war eine Sache, mit dem Frostfeuer herumzuspielen, als wir auf den Inseln und auf dem Schiff waren. Aber jetzt sind wir in einer Stadt, wo die Menschen seltsame Vorstellungen von Magie und Flüchen haben. Ich will heute Nacht nicht einmal einen Funken sehen, ist das klar?«

Zwitty schnaubte und schloss die Hände. Die schwarze Flamme brannte weiter.

»Habe ich mich nicht klar ausgedrückt? Mach diese verfluchte Flamme sofort aus!«, befahl Yimt.

»Hör auf herumzuspielen, Zwitty, und mach sie aus«, setzte Teeter hinzu.

»Wenn ihr aufhört, mich anzuschreien, mache ich das sofort«, erwiderte Zwitty. Seine Stimme klang schrill. Er presste die Fäuste fester zusammen und schloss die Augen, aber das Frostfeuer brannte weiter. Die Luft um sie herum wurde kalt.

Yimt blies die Backen auf und hob eine Faust. »Zwitty, das ist deine letzte Chance. Mach dieses verwünschte Feuer auf der Stelle aus!«

Zwitty öffnete die Augen und sah seine Kameraden an. Obwohl er versuchte, es zu verbergen, bemerkte Alwyn das Entsetzen in seinem Blick, und er erkannte das Problem. Er kann es nicht löschen, dachte er.

»Bleib ruhig«, sagte er, während er auf Zwitty zuging.

»Ich bin ruhig!«, schrie Zwitty und wich zurück. »Lasst mich einfach allein. Ich kann mich nicht konzentrieren, wenn mich alle anschreien!« Das Frostfeuer kroch jetzt an seinem Unterarm hoch, und bei jedem Wort, das er aussprach, bildete sich eine Nebelwolke vor seinem Mund.

Einige Passanten blieben stehen und starrten ihn an. Hrem machte einen Schritt auf sie zu, und sie gingen hastig weiter.

»Wir sollten ihn besser schnellstens wegschaffen, sonst weiß bald ganz Nazalla davon«, sagte Hrem.

»Ally, kannst du das löschen, wie du es bei Kester getan hast?«, erkundigte sich Yimt.

Alwyn nickte. »Ich glaube schon. Das hier ist nicht das weiße Feuer. Zwitty hat einfach die Magie nicht unter Kontrolle.«

»Ich weiß genau, was ich tue«, behauptete Zwitty, noch während die schwarzen Flammen immer höher loderten. »Es ist nur … es ist so kalt …« Er taumelte und richtete sich dann wieder auf.

»Ally, mach ihn aus. Sofort!«, befahl Yimt.

Alwyn machte einen Schritt vor und packte Zwittys Handgelenke. Sofort flammte das Frostfeuer in Alwyns Händen auf, und er spürte den kalten Fluss der Magie in seinem Körper. »Ganz ruhig, Zwitty, ganz ruhig.«

»Hilfe …«, sagte Zwitty. Er hatte die Augen fest zusammengekniffen. Seine Lippen bebten, und schwarzer Frost überzog sein Gesicht.

Schatten tauchten auf. Ihre geisterhaften Umrisse bildeten einen Kreis um die Gruppe der Soldaten. Die Lufttemperatur fiel auf den Gefrierpunkt. Jemand schrie auf, und man hörte hastige Schritte, die in einer Gasse verklangen.

»Die Leute beobachten uns, Korporal«, sagte Hrem und deutete auf eine rasch wachsende Menschenmenge, nur einige Schritte von ihnen entfernt.

Tote Hände griffen nach Alwyn und Zwitty. Alwyn biss die Zähne zusammen und konzentrierte sich. Die schwarze Flamme loderte höher, tauchte alles in ein kaltes, dunkles Licht und erlosch dann ohne jedes Geräusch. Zwitty sank auf ein Knie, und Alwyn atmete vernehmlich aus, als er Zwittys Handgelenke losließ.

Die Schatten waberten und verschwanden dann ebenfalls. Es wurde augenblicklich wärmer.

»Hier gibt es nichts zu sehen, Leute. Das war nur ein kleiner Gauklertrick«, sagte Yimt, dessen Metallzähne funkelten, als er freundlich grinste. »Hebt ihn hoch, und bewegt euch«, flüsterte er dann leise.

Alwyn und Scolly halfen Zwitty auf die Füße, und sie marschierten die Gasse entlang.

»Alles in Ordnung, Zwitty?«, erkundigte sich Scolly.

Zwitty hustete und schüttelte ihre Hände ab. »Klar ist alles in Ordnung. Ich hatte die Sache gerade unter Kontrolle, als Ally sich eingemischt hat und den Helden spielen musste.«

Yimt führte sie in eine Seitengasse und schlug einige Haken, bis er sich überzeugt hatte, dass ihnen niemand folgte. Als sie stehen blieben, drehte sich der Zwerg zu Zwitty um. »Wer hat dir mit seinem Handeln den Arsch gerettet?«, knurrte Yimt.

»Ich …«, wollte Zwitty widersprechen, aber Yimt schnitt ihm das Wort ab.

»Du warst einen Herzschlag davon entfernt, dich zu den Finsteren Verschiedenen zu gesellen, jawohl, das warst du.« Yimt rammte Zwitty seinen dicken Finger in die Brust. »Ich persönlich würde nicht einmal die schuppige kleine Haut einer Drachenratte dafür geben, wenn du zu ihnen gehst, aber du wirst uns nicht unsere freie Nacht ruinieren.« Er sah die anderen an. »Jungs, falls ihr es noch nicht bemerkt habt, wir stecken bereits bis zum Hals in der Klemme. Und es hat uns gerade noch gefehlt«, er sah Zwitty scharf an, »dass wir unsere Lage selbst noch verschlimmern.«

Alwyn schaute auf seine Hände.

»Und jetzt«, Yimts Stimme klang wieder liebenswürdig, »folgt mir, haltet euch dicht bei mir, und versucht bitte, keine Dummheiten zu machen. Nicht schon wieder.« Yimt marschierte zügig voran und winkte Hrem an seine Seite. Alwyn war einen Moment beleidigt, bis er den Grund dafür begriff. Manchmal dauerte es einen Moment, bis die Leute erkannten, wie gefährlich Yimt sein konnte. Hrems massige Gestalt jedoch machte das unmittelbar offensichtlich, und ihre Route durch die vollen Gassen war bald menschenleer.

Als sie an den Marktständen vorübergingen, hielt Yimt die ganze Zeit Vorträge über die Freuden von Nazalla. Es gab Ballen von schimmernden Stoffen in Farben, von denen Alwyn bis jetzt nicht gewusst hatte, dass sie überhaupt existierten. Sie sahen wundervoll geflochtene Weidenkörbe, perfekte Pyramiden von Gewürzen, Nüssen und Früchten. Ein Schild versprach dem Kunden in mehreren Sprachen die besten magischen Getränke, Amulette und Ausrüstung für die verwöhnte Hexe oder den anspruchsvollen Zauberer, während ein anderes Geschäft sich nur mit einem ovalen, gehämmerten Messingschild auswies.

Alwyn versuchte sich mehrere Geschäfte zu merken, in der Absicht, wiederzukommen und sie aufzusuchen, wenn die Lage sicherer war, aber dann hörte er damit auf. Welche Rolle spielte es schon? Wie oft würde er noch dem Tod entgegentreten, bis er schließlich von ihm ereilt wurde? Der Schmerz in seinem Stumpf wurde stärker, und er wollte Yimt gerade sagen, dass er ins Lager zurückgehen würde, als die Abteilung plötzlich stehen blieb. Alwyn drängte sich nach vorne zu dem Zwerg, der tief einatmete und lächelte.

»Ah, genau das ist es, wovon ich gesprochen habe. Jungs, das Erste, was ihr im Soldatenleben lernt, ist, dass ihr keine Schänke nach ihrem Aussehen beurteilen dürft, sondern nach ihrem Geruch. Also, alle Mann schnuppern!« Die heraufziehende Nacht und die sinkenden Temperaturen hatten die Wirkung der Düfte von Nazallas Markt noch nicht beeinträchtigt, und Alwyn sog tief, wenn auch langsam und argwöhnisch die Luft ein.

Zuerst nahm er nur den Geruch von Dung wahr. Von verschiedenen Sorten von Dung. Er kämpfte sich durch die verschiedenen Aromen, bis er plötzlich auf einen Duft stieß, der nicht ganz so widerlich war. Abgestandenes Bier, scharfer Tabakrauch, der verbrannte Geruch von gebratenem Fleisch und Schweiß. All diese Aromen drangen unverkennbar aus einer Tür zu ihrer Linken. Das Wasser lief ihm im Mund zusammen, und plötzlich registrierte er, wie trocken sein Gaumen war und dass sein Magen plötzlich grummelte. Er konnte immer noch ins Lager zurückgehen, nachdem er etwas gegessen hatte.

Er bemerkte Yimts Blick und lächelte.

»Das, Jungs, ist der Geruch von Nirv-Anna!«, erklärte Yimt.

»Sie ist offenbar eine wahrhaft scharfe Maid«, warf Teeter ein.

Yimt schien in Gedanken zu zählen. »Es ist keine Sie, o nein. Habt ihr denn noch nie ein Buch in der Hand gehabt? Nirvana, das meint einen Ort besonderer Schönheit, und hier, in diesen Landen, heißt dieser Ort der Blaue Skorpion.« Er drehte sich um und bedeutete seinen Männern mit einer Handbewegung, ihm zu folgen, während er durch die düstere Türöffnung trat und im Inneren der Schänke verschwand. Alwyn folgte ihm auf dem Fuß und hielt den Blick sorgfältig auf den Boden gerichtet, damit er mit seinem Holzbein nicht stolperte. Er ging durch zwei Perlenvorhänge und trat, nachdem er seine Muskete daraus befreit hatte, in einen Flur, an dessen Ende ein weiterer Perlenvorhang hing. Mit dem nächsten Schritt betrat er etwas, worüber er bisher nur gelesen hatte: eine Höhle des Lasters.

Es war schwer, die Decke des Raumes zu erkennen, denn eine Schicht aus dichtem, blauem Rauch schwebte wie ein Baldachin zwei Meter über dem Boden. Alwyn tat noch einen Schritt und blickte dann nach unten. Jeder Zentimeter des Fußbodens wurde von Teppichen bedeckt. Und jeder von ihnen zeigte ein verschlungenes Muster von Blumen und Früchten, die fast so real aussahen wie Gemälde.

»Wo sollen wir uns hinsetzen?«, fragte Scolly.

Alwyn wollte gerade sagen: »Auf einen Stuhl, Dummkopf«, als ihm auffiel, dass es hier keinerlei Möbel gab. Dicke, große Kissen dienten als Sitzgelegenheit, und ein Durcheinander von Tabletts aus Silber, Messing und Holz fungierte als Tische.

Die Gäste des Blauen Skorpion beobachteten sie scharf, als sie hereinkamen, und obwohl das Stimmengemurmel abflaute, verstummte es nicht vollkommen. Alwyn brauchte einen Moment, bis er bemerkte, dass sich hier nur Männer aufhielten. Die braunen Gesichter erweckten den Eindruck, dass sich ihre Besitzer ein Leben lang in der Sonne aufgehalten hatten, was vermutlich auch zutraf. Die Männer trugen die Kleidung des Landes, Schichten von weiten Stoffbahnen, die locker herabhingen. Aber die Farben waren nicht annähernd so strahlend, wie Alwyn sie auf dem Markt gesehen hatte. Allesamt trugen sie kleine, weiße, zylindrische Hüte und waren ausnahmslos glatt rasiert. Yimts Bart schien sie jedoch nicht zu stören; möglicherweise wurde ihre Zurückhaltung von den Musketen über ihren Schultern unterstützt.

Ein kleiner, untersetzter Mann mit einer Schürze über seinem Gewand drängte sich durch die Gäste zu ihnen vor und verbeugte sich. Yimt erwiderte die Verbeugung und begann eine Unterhaltung mit dem Mann in der Landessprache, wie Alwyn vermutete. Zwischendurch deutete Yimt auf Hrem, dann auf Alwyns Bein und fuchtelte schließlich mit seinem Schmetterbogen herum. Das Murmeln im Schankraum wurde deutlicher leiser, als die Waffe einen Kreis durch den Raum beschrieb. Dem folgten weitere Verbeugungen, und schließlich kam das Gespräch zwischen Yimt und dem Mann zu einem Ende.

»Seien Sie im Blauen Skorpion willkommen, verehrte Gäste«, sagte der Mann. Sein Lächeln wirkte aufrichtig, und er klang liebenswürdig, aber Alwyn fiel auf, dass Yimt seinen Schmetterbogen noch nicht wieder geschultert hatte. »Bitte, ich habe Platz im hinteren Teil für Sie.« Sie folgten dem Mann und gelangten in einen geräumigen Bereich, der vom übrigen Schrankraum durch Vorhänge aus feiner, grüner Gaze abgetrennt war. Dunkelblaue Kissen mit goldenen Quasten an den Ecken bildeten einen Kreis um eine große Apparatur aus Messing und Glas, wie sie Alwyn bereits in der Mitte anderer Gruppen in der Schänke bemerkt hatte. Offenbar handelte es sich um ein Gerät zum Rauchen, obwohl er sich nicht vorstellen konnte, wie das funktionierte.

»Schnappt euch ein Kissen, und macht es euch gemütlich«, meinte Yimt. »Und übrigens«, fuhr er fort, als sie sich hinsetzten, »behaltet eure Musketen in Reichweite.«

»Erwartest du Ärger?« Hrem sah sich in der Schänke um und holte tief Luft, was seine Brust anschwellen ließ und äußerst imposant aussah. Normalerweise war diese Haltung sehr beeindruckend, aber ihre Wirkung wurde etwas gedämpft durch die Tatsache, dass er sich sofort vornüber krümmte und hustete, weil er den blauen Rauch eingeatmet hatte. Einige Gäste sahen in ihre Richtung, aber die meisten waren wieder damit beschäftigt, zu rauchen, zu trinken und miteinander zu plaudern. Wären nicht die Kissen, die Teppiche und diese merkwürdigen Rauchapparate gewesen, hätte es auch eine Schänke zu Hause sein können.

»Damit muss man immer rechnen«, erwiderte Yimt, setzte sich umständlich mit dem Rücken zum Raum und legte seinen Schmetterbogen auf ein Kissen neben sich. Man hörte einvernehmliches Seufzen in der Schänke, und die Gespräche klangen plötzlich entspannter. »Aber wir sollten hier gut aufgehoben seien. Der Besitzer ist ein sehr vernünftiger Mann und weiß genau, woher der Wind weht. Im Augenblick ist das Imperium hier die stärkste Macht. Trotzdem, eine Muskete aus dem Imperium ist mehrere Goldmünzen wert, also solltet ihr auf sie aufpassen, wenn ihr es euch nicht leisten könnt, eine neue zu bezahlen.«

Alwyn sah sich nach den Ausgängen um. Es gelang ihm nicht, sich ebenso zu entspannen wie Yimt. Wohin der Zwerg auch kam, er schien sich wohlzufühlen. Alwyn behielt den Raum im Auge, als er sich auf ein Kissen setzte und sein Holzbein vor sich ausstreckte. Dabei schoss ihm ein merkwürdiger Gedanke durch den Kopf. Es war seltsam, aber er konnte sich kaum noch daran erinnern, wie es gewesen war, zwei normale Beine zu haben. Seine Gedanken wurden düsterer. Es fiel ihm schwer, sich zu erinnern, wie es überhaupt vorher gewesen war. Oder auch nur in der Zeit, als eine Nacht in einer Schänke, ein Abendessen, ein gutes Gespräch und die Rechnung als schlimmste Drohung ein Ereignis waren. Jetzt kam ihm das alles so fremd vor.

»Entspann dich, Ally, die Nacht hat gerade erst angefangen.« Yimt setzte seinen Tschako ab und knöpfte seine Uniformjacke auf. »Wenigstens für heute haben wir all diesen Mist hinter uns gelassen. Es gibt keine Bestien, keine schwarze Magie und keine Offiziere.«

Alwyn nickte und lächelte Yimt etwas gequält zu. »Und kein gepökeltes Schweinefleisch, hoffe ich.«

Yimt lachte. »So will ich dich hören. Ah, die erste Bestellung«, sagte er, als ein Kellner mit einem Tablett auftauchte, auf dem kleine blaue Schälchen standen. »Nehmt jeder eine, aber trinkt noch nicht.«

Jeder Soldat nahm eine Schale, selbst Inkermon. Alwyn warf einen Blick hinein und sah eine bernsteinfarbene Flüssigkeit. Sie roch schwach nach Holz und wirkte keineswegs unangenehm. Er setzte sich etwas gerader auf sein Kissen, als Yimt die Gruppe ansprach.

»Gentlemen – ich benutze einmal leichtsinnigerweise diesen Begriff –, wir sind häufiger zur Hölle und wieder zurück marschiert, als ein Tausendfüßler Beine hat.«

Scolly fing an, an den Fingern einer Hand abzuzählen, aber Teeter raunte ihm zu: »Das heißt ganz oft.«

Yimt redete weiter. »Wir haben Dinge gesehen, die niemand sehen sollte, und wir haben einige Dinge getan, die man irgendwann bedauert.«

Es herrschte Schweigen, als die Soldaten über seine Worte nachsannen. Selbst die Hintergrundgeräusche wurden leiser. Alwyn spürte, wie sein Pulsschlag sich beschleunigte, und zwang sich, ruhig zu bleiben. Die Gedanken, die sich in seinem Kopf überschlugen, waren eben nur das, Gedanken. Sie waren in einer Schänke, nicht auf einer der Inseln.

»Das Leben einer Silberjacke ist nicht gerade leicht, und das Leben eines Stählernen Elfen ist noch härter.« Die Männer nickten zustimmend. »Es wäre deshalb wirklich einfach, insgeheim ein bisschen verdreht zu werden. Wer könnte euch das schon verdenken? Man zahlt uns nicht annähernd genug für all das hier.«

Einige Männer lachten gezwungen. Alwyn versuchte sich eine Summe vorzustellen, die ihn für alles, was passiert war, entschädigen könnte, aber nicht einmal ein Berg von Goldmünzen schien das alles aufwiegen zu können.

»Trotzdem sind wir hier und andere nicht, und das ist schon nicht schlecht. Also«, Yimt hob seine Schale, »auf all diese armen, braven Seelen, die es nicht bis hierher geschafft haben.«

Alwyn und die anderen hoben ebenfalls ihre Schalen.

»Und jetzt entspannt euch. Eure Arbeit ist getan. Wir nehmen es, wie es kommt, ihr verdammten Halunken!«

Sie tranken und stellten die Schalen ab. Einen Augenblick lang sahen sich die Soldaten einfach nur gegenseitig an. Es gab nichts zu sagen. Viele waren gefallen, sie aber hatten überlebt. Und das war tatsächlich nicht schlecht.

»Und jetzt«, sagte Yimt und brach den Bann, »würde ich sagen, wir lassen es krachen. Ich weiß nicht, wie es euch geht, aber ich bin verdammt hungrig.«