13

VISYNA VERSCHEUCHTE EINIGE Fliegen und beobachtete die Menschenmenge, die die Straßen säumte, als das Regiment vorbeimarschierte. Einige winkten, und ein paar besonders mutige Kinder liefen herbei und bettelten um Essen und Tabak. Die meisten Bürger von Nazalla jedoch standen einfach nur da und sahen zu. Visyna versuchte, ein Wort dafür zu finden. Die Menge war … vorsichtig. Die Leute säumten die Straßen, weil man es von ihnen erwartete. Sollten sie einen Widerwillen gegen die Soldaten hegen, dann hielten sie ihn zurück, jedenfalls solange die Sonne schien. Visyna konnte sich vorstellen, dass die Stadt in der Nacht ganz anders war und sehr hässlich.

Das erinnerte sie an Elfkyna. Sie hatte noch viel zu gut das Gefühl von Ohnmacht und Wut in Erinnerung, als sie hatte zusehen müssen, wie die Soldaten des Imperiums durch ihr Land marschierten. Und sie wusste auch heute noch glasklar, wie es sich angefühlt hatte, sich gegen diese Macht zu erheben und zu kämpfen, auf ihre eigene Art, um ihrem Volk zu helfen. Elfkyna war zwar noch nicht frei, aber das Land hatte seinen Leitstern wieder, und das betrachteten die Leute als ein gutes Zeichen für die Zukunft. Visyna hoffte sehr, dass ihre Zuversicht belohnt wurde.

Vielleicht würde die Rückkehr eines Sternes hier das Gleiche für dieses Volk bewirken.

Sie rutschte auf dem Kutschbock neben Rallie hin und her und sah sich um. Die anderen Regimenter folgten hinter ihnen in der Kolonne.

»Sie erzeugen nicht dieselbe Reaktion, hab ich recht?« Rallie paffte an ihrer Zigarre.

Allerdings nicht. Sobald die Stählernen Elfen vorbeimarschiert waren, wurde die eben noch bedrückt wirkende Menge ausgelassen, und die Stimmung der Menschen hob sich. Es war zwar nicht direkt Freude, aber die Furcht, die die Menschen empfunden hatten, als die Stählernen Elfen näher kamen, legte sich – und das war Grund genug für sie zu feiern.

»Der Schwur ist eine Bürde, die die Soldaten niemals hätten auf sich nehmen sollen. Die Dunkelheit dieses Gelübdes durchdringt alles um sie herum.« Fliegen summten rings um ihr Gesicht, setzten sich in ihre Augenwinkel und versuchten sogar, in ihre Nase zu krabbeln.

»Es ist eine unselige Geschichte, daran besteht kein Zweifel«, erwiderte Rallie. »Trotzdem gehen sie sehr gut damit um, jedenfalls die meisten.«

Immer mehr Menschen traten aus den Türen der weiß gekalkten Gebäude und stellten sich an den Straßenrand. Fensterläden wurden geöffnet, und auf den Flachdächern drängten sich die Neugierigen. Ab und zu hallten grüßende Rufe über die Straßen, und von einigen Dächern regneten Datteln und Oliven auf die Soldaten herunter. Kinder tummelten sich, fasziniert von der bunten und lauten Prozession, mit unverstelltem Vergnügen zwischen den Soldaten. Sobald sie sich jedoch Rallies Planwagen näherten, wichen sie rasch zurück, als sie die Geräusche darin hörten. Visyna war nicht sicher, wen diese Situation mehr aufregte, die Sreex oder Jir. Dandy, der gewaltige Falke mit dem silbernen Schnabel, hockte derzeit im Krähennest der Schwarzer Dorn, bis er gebraucht wurde, wie Rallie es ausdrückte.

»Wie lange wird es dauern, bis sich die Leute auf die Soldaten stürzen und eine richtige Revolte ausbricht?«, erkundigte sich Visyna. »Ich habe ihre Furcht gespürt, als die Stählernen Elfen vorbeimarschiert sind. Diese Furcht wird in Wut umschlagen. Ich habe gesehen, wie es in Elfkyna passiert ist.«

»Möglich«, antwortete Rallie. »Allerdings regiert der Vizekönig hier erheblich sanfter als die beiden Vizekönige, die du in deinem Heimatland erlebt hast. Aber am Ende spielt das vermutlich keine Rolle. Angesichts des aufgestauten Widerwillens und der Aussicht auf eine grundlegende Veränderung hätte sich hier früher oder später ohnehin eine neue Ordnung etabliert, ob die Stählernen Elfen nun aufgetaucht wären oder nicht. Ihr Stern kehrt zurück«, Rallie deutete auf die Menschenmenge, »und zwar schon bald. Dieses Ereignis wird den Ausschlag geben.«

»Und gewiss einige gute Artikel im Imperialen Wöchentlichen Herold«, sagte Visyna. Sie hatte es als Scherz gemeint, aber es war offensichtlich, dass Rallie immer stärker daran interessiert war, im Mittelpunkt der Ereignisse zu stehen, je »interessanter« diese wurden.

»Ich nehme an, ich wirke wie ein Geier, wenn du das so formulierst«, meinte Rallie.

»Ich wollte dich nicht beleidigen.« Visyna hoffte sehr, dass sie die ältere Frau nicht verstimmt hatte.

»Das hast du auch nicht, Liebes.« Rallie streckte die Hand aus und streichelte ihren Arm. »Ich habe die Rolle, die ich hier spiele, schon mehr als einmal in Frage gestellt. Ich bin mit einer übermächtigen Neugier geschlagen und mit einer Gier, die Wahrheit über die Dinge zu erfahren, ganz gleich, wie dramatisch oder blutig sie auch sein mögen.«

»Bist du dessen niemals müde geworden?«

»Eigentlich jeden Tag, doch dann dämmert ein neuer Morgen, ein Stern kehrt zurück, und ich ertappe mich dabei, wie ich in der Mitte von alldem stehe und jeden noch so kleinen Fetzen Information aufsauge, den ich bekommen kann.«

Visyna wählte ihre nächsten Worte mit Bedacht. »Aber du tust mehr, als nur zu beobachten.«

»Ich tue, was ich kann, um den Ereignissen den Weg zu bahnen, nicht mehr. Wenn meine Artikel ihnen irgendwie helfen würden, wäre ich höchst erfreut«, meinte Rallie und deutete auf die Stählernen Elfen.

»Ich meinte nicht deine Berichte«, antwortete Visyna. »Du wirkst Magie, Rallie.«

»Nun, ich besitze tatsächlich … gewisse Fähigkeiten«, gab Rallie zu.

Visyna beschloss, das Thema weiterzuverfolgen. »Ist das etwas, das du mich lehren kannst?«

Rallie drehte den Kopf ein Stück zur Seite und sah Visyna an. »Du webst eine Magie, die ich nicht einmal im Traum verstehen würde. Du pflückst und webst die Essenz aus der Welt um dich herum. Was ich mache, ist etwas vollkommen anderes, und nicht annähernd so umfassend.«

»Ihr Emissär hatte jedenfalls Angst vor dir, dort in Luuguth Jor. Dieses Wesen sagte, dies hier wäre nicht deine Zeit. Was hat er damit gemeint?«

Rallie sah wieder geradeaus. Der Planwagen rollte rumpelnd über die Pflastersteine an den Menschen vorbei. Links von ihnen tauchte ein freier Platz auf, in dessen Mitte einige dicke Palmen standen. Visyna wollte es gerade noch einmal versuchen, als Rallie antwortete.

»Ich bin mir nicht ganz sicher, was ihr Emissär meinte. Ich habe zwar eine Theorie, aber darüber kann ich noch nicht mit dir sprechen. Aber, Liebes, sag mir«, fuhr sie fort, »für wie alt hältst du mich?«

Visyna erinnerte sich daran, dass an Bord der Schwarzer Dorn eine ähnliche Frage aufgekommen war, und entschloss sich, behutsam vorzugehen. »Anfang … fünfzig«, meinte sie schließlich, obwohl sie eigentlich vermutete, dass Rallie wahrscheinlich eher siebzig, vielleicht sogar achtzig Jahre alt war.

Rallie lachte und schlug sich mit der Hand auf den Schenkel. »Anfang fünfzig! Oh, du bist wirklich ein Honigtöpfchen, stimmt’s? Das Problem daran ist«, sie senkte ihre Stimme wieder, »dass ich nicht die geringste Ahnung habe. An die letzten zweihundert Jahre kann ich mich sehr gut erinnern, aber die Zeit davor verschwimmt in einem Nebel.«

Visyna setzte sich stocksteif auf. »Zweihundert Jahre? Hast du Elfenblut in deinen Adern, oder liegt es an deiner Magie?«

Rallie sah sie abschätzend an. »Das ist es ja, ich weiß es nicht. Es gibt Erinnerungsfetzen in meinem Kopf, die so klar sind, wie eine Glocke an einem kalten Wintermorgen klingt, und trotzdem kann ich mich nicht daran erinnern, an diesen Orten gewesen zu sein oder diese Dinge getan zu haben. Es ist wirklich faszinierend.«

»Warst du verhext? Wie weit reichen deine Erinnerungen zurück?«, erkundigte sich Visyna. Sie hatte gewusst, dass Rallie ihre Geheimnisse hatte, aber das hier war wirklich verblüffend … und auch ein bisschen unheimlich. Wer war diese Frau?

»Es gibt Ereignisse, an die ich mich eigentlich nicht erinnern dürfte«, meinte Rallie und rieb sich die Nase. Visyna begriff, dass diese Geste auch dazu diente, ihren Mund zu bedecken, während sie sprach. »Etwa Erinnerungen daran, wie die Sterne geboren wurden.«

Visyna hatte so viele Fragen im Kopf, dass sie fast nicht sprechen konnte. »Wie kann das möglich sein? Was hat es zu bedeuten?«

»Genau daran, Liebes, arbeite ich gerade. Im Moment habe ich noch keine befriedigende Antwort, sondern eher, genau wie du, viele gute Fragen. Ich hatte gehofft, dass meine Anwesenheit in Luuguth Jor mehr von diesen Erinnerungen erschließen würde, und so ist es auch gekommen. Aber leider enthüllen sie ihre Geheimnisse trotzdem nur langsam. Ich muss einen Weg finden, um das zu beschleunigen, weil ich allmählich glaube, dass all die Dinge, an die ich mich erinnere, sehr nützlich sein könnten.«

»In Luuguth Jor hast du den Stern willkommen geheißen, als würdest du ihn kennen.«

Rallie sah sie wieder an. »Nun, ich glaube, das tue ich auch, aber ich kann ums Verrecken nicht herausfinden, wie das alles zusammenhängt oder warum das so ist. Es fehlen einfach zu viele Teile des Puzzles. Ich hoffe nur, dass ich hier ein paar Lücken schließen kann.« Sie sah sich in der Stadt um, als der Planwagen weiterrollte.

Eine Weile saßen sie schweigend nebeneinander. Visyna versuchte sich vorzustellen, was das alles bedeuten konnte. War Rallie wirklich über zweihundert Jahre alt? Oder noch viel älter, und wenn ja, wie alt? Konnte sie wirklich schon da gewesen sein, als die Sterne geboren wurden? Aber warum hatte jemand mit so viel Macht ein so schlechtes Gedächtnis? In diesem Moment kam Visyna ein Gedanke.

»Kaman Rhals verschollene Bibliothek hat vielleicht …«

»… einige der Antworten, die ich suche«, beendete Rallie ihren Satz. »Ja, dieser Gedanke ist mir auch schon gekommen.«

Visyna dachte staunend darüber nach. »Die ganze Zeit habe ich vermutet, dass du wegen Konowa und der Stählernen Elfen hier wärest. Aber eigentlich bist du dem Prinzen gefolgt, weil du wusstest, dass er dich irgendwann zur Bibliothek führen würde.«

»Das stimmt, aber ich glaube, ich wäre diesen Stählernen Elfen und dem Major trotzdem gefolgt. Sie sind unendlich faszinierend, vor allem Korporal Arkhorn.«

Visyna wollte dieses Thema lieber ruhen lassen. Im selben Moment landeten ein paar Datteln auf dem Segeltuch des Wagens. Rallie drehte sich herum und warf einen Blick über die Schulter. »Sei so lieb und gib mir die, die anders aussieht als die anderen.«

Visyna drehte sich um, weil sie einen Scherz erwartete, aber sie sah, dass eine der Datteln tatsächlich vollkommen anders aussah als die anderen. Sie streckte die Hand aus und nahm sie hoch. Sie spürte sofort, dass es ein Stück poliertes Holz war, das so geschnitzt und gefeilt war, dass es wie eine Dattel aussah.

Sie wollte es Rallie geben, doch diese schüttelte den Kopf und blickte weiter geradeaus auf die Straße.

»Öffne es, aber in deinem Schoß, sodass keiner es sehen kann.«

Visyna klappte die falsche Dattel auseinander. Darin befand sich ein kleines, zusammengerolltes Stück Pergament. Sie zog es vorsichtig heraus. Die Schrift war ihr unbekannt. Sie legte das Pergament in ihre Handfläche und hielt es so, dass Rallie die Schrift lesen konnte.

»Was steht da?«, erkundigte sich Visyna.

Rallie streckte eine Hand aus und berührte sanft das Papier, das sich sofort in Asche verwandelte. »Da stehen drei Dinge. Das erste ist, dass wir nicht die Einzigen sind, die nach den Stählernen Elfen suchen.«

Visyna verscheuchte weitere Fliegen, doch schließlich gab sie auf und wob geschickt einen Schleier aus Magie, um sie sich vom Leib zu halten. »Wir wissen doch bereits, dass die Schattenherrscherin ebenfalls hinter ihnen her ist.«

»Es steht auch da«, fuhr Rallie fort, »dass etwas anderes als die Schattenherrscherin nach ihnen sucht, aber was das ist und wie seine Pläne aussehen, ist noch unbekannt.«

»Etwas anderes? Könnte es etwas damit zu tun haben, was auf dieser letzten Insel geschehen ist?«

Rallie legte die Zügel in ihre rechte Hand, während sie sich nachdenklich das Kinn kratzte. »Wie ich dem Major letzte Nacht bereits gesagt habe, ich weiß es nicht genau, aber es erscheint mir im Moment eine ebenso wahrscheinliche Möglichkeit wie jede andere.«

»Und was ist das dritte?«, fragte Visyna.

»Das dritte«, Rallies Stimme wurde so leise, dass Visyna sich zu ihr herüberbeugen musste, um sie zu verstehen. »Wir sollen uns vor dem hüten, der viele Schatten wirft.«

Visyna richtete sich wieder auf und schaute auf die Menschen, die die Straße säumten.

»Der, der viele Schatten wirft? So etwas habe ich noch nie gehört. Ist das ein Rätsel?« Sie blickte auf die Kolonne der marschierenden Soldaten. »Die Stählernen Elfen haben viele Schatten.«

Rallie ließ die Zügel knallen und blickte geradeaus. »Ein interessanter Gedanke. Das könnte die Lösung sein, aber da wir genau in ihrer Mitte fahren, vermute ich, dass mein Informant etwas anderes meint.«

»Warum sagt er es dann nicht?«

»Sie«, verbesserte Rallie sie, »ist in der einzigartigen Position, mehr zu wissen als die meisten anderen, aber sie kann vielleicht nicht alles zusammenfügen. Was auch immer dieses Ding ist, das viele Schatten wirft, kann ich im Moment nicht wirklich beantworten.«

Sie fuhren schweigend weiter, und die Menschenmenge beobachtete argwöhnisch die Truppen, die vorbeimarschierten. Es gab viele Dinge in der Welt, die Visyna beunruhigten, aber zu hören, dass Rallie sagte, es gäbe da etwas, von dem sie noch nie etwas gehört hatte, katapultierte sich plötzlich an die Spitze dieser Liste.

Visyna war sich ganz sicher, dass dieses Ding mit den vielen Schatten nichts Gutes sein konnte.