22

»WAS SOLL DAS heißen, sie sind verschwunden?«

Konowa hob die Stimme, als der Korporal vor ihm Haltung annahm. Die Geräusche einer Stadt, die sich in Aufruhr befand, hallten rings um den Palast des Vizekönigs; gerade fielen die ersten Strahlen der Sonne auf Nazalla. Konowa hatte gehofft, dass die Hitze des Tages das ersticken würde, was die Bevölkerung aufgewühlt hatte, aber der Anbruch eines neuen Morgens schien das Gegenteil zu bewirken. Er brauchte Informationen, und zwar sofort.

Der Korporal wurde blass. »Es war kurz vor Mitternacht, Sir. Kurz bevor die Menschen begannen, auf die Straßen zu strömen. Offenbar haben die Wachhabenden am Südtor die drei Ladys gesehen, wie sie auf dem Wagen der Schreiberin Ihrer Majestät davongefahren sind.«

»Warum hat man nicht versucht, sie aufzuhalten?«, fragte Konowa, bedeutete dem Mann jedoch augenblicklich mit einer Handbewegung zu schweigen. Diese drei Frauen würde kein Wachsoldat aufhalten können. Verdammt, ich bin Major, dachte er, und selbst ich kann es nicht. »Das hätte mir früher gemeldet werden müssen.«

»Ich weiß, Sir, und ich übernehme die volle Verantwortung dafür«, erwiderte der Korporal. »Aber nachdem die Leute auf den Straßen waren, machte die Rede von einem Aufstand die Runde, und ich hatte plötzlich alle Hände voll damit zu tun. Da draußen scheint eine ausgewachsene Rebellion im Gang zu sein.«

Konowa wusste, dass der Soldat ehrlich war. »Gut. Gehen Sie wieder zu Ihren Männern zurück, und sorgen Sie für Ruhe. Die Bevölkerung von Nazalla mag vielleicht aufgewühlt sein, aber noch haben wir die Oberhand. Das Letzte, was wir jetzt brauchen können, sind irgendwelche Soldaten, die eine Salve in eine Menschenmenge feuern. Wir sind erst den zweiten Tag in Nazalla, und ich hatte gehofft, die Rebellion wenigstens eine Woche lang hinauszögern zu können.«

Dem Korporal war sichtlich nicht nach Lachen zumute.

»Gehen Sie und halten Sie die Jungs im Zaum. Wir sind hier nicht mehr auf einer Insel.« Verblüfft ertappte sich Konowa dabei, dass er sich wünschte, sie wären es. Die Inseln waren – wie grauenvoll auch immer – eine einfache Aufgabe gewesen. Dort war ihnen alles feindlich gesinnt gewesen. Hier in Nazalla gab es nur Grauzonen.

Der Korporal salutierte und marschierte eilig davon.

»Wie können Sie es wagen!«, schrie der Prinz, der auf Konowa zumarschierte und dessen militärischen Gruß mit einer verächtlichen Geste abtat. Die Augen des Prinzen waren gerötet, und seine gewöhnlich makellose Uniform war alles andere als ordentlich. Offenbar hatten alle eine lange Nacht gehabt.

»Eure Uniformjacke ist falsch zugeknöpft, Euer Hoheit«, bemerkte Konowa.

Der Prinz sah an seiner Jacke herunter und stampfte mit dem Stiefel auf. Wütend riss er an den Knöpfen, um die Jacke zu öffnen. »Ich habe ihnen vertraut!«

Konowa ließ sich seine Überraschung nicht anmerken, als ihm klar wurde, dass er es war, der den Prinzen beruhigen musste. »Wir haben das in Elfkyna ebenfalls erlebt, Euer Hoheit. Ich bin sicher, dass wir schon bald die Situation kontrollieren und die Stadt beruhigen können.«

Der Prinz sah von seinen Knöpfen hoch. »Sind Sie taub? Natürlich können wir Nazalla kontrollieren. Ich spreche von den Frauen. Ich habe diese drei ins Vertrauen gezogen …« Ein Knopf riss mit einem trockenen Geräusch ab. »Ich habe auf ihren Rat gehört!« Der nächste Knopf riss ab. »Ich habe ihnen gestattet, mit uns zu reisen, und ich habe Rallie …« Der nächste Knopf fiel der Wut des Prinzen zum Opfer. »… schreiben lassen, was sie wollte!« Ein Knopf segelte durch die Luft.

Konowa hätte dem Prinzen fast aus Mitgefühl eine Hand auf die Schulter gelegt. Stattdessen nickte er und wartete darauf, dass der Prinz weiterwütete. Fahnensergeant Salia Aguom, der nur von Leuten »Sally« gerufen wurde, die keinen Wert darauf legten, ihre Zähne im Mund zu behalten, marschierte heran und salutierte. Die Narben auf seinem Gesicht wirkten sogar fürchterlich, wenn er lächelte, was er im Moment aber nicht tat. Konowa drehte sich zu ihm herum und erwiderte seinen Gruß. Der Prinz war immer noch mit dem letzten Knopf beschäftigt.

»Melde gehorsamst, Sir, sieben Männer sind abwesend.« Konowa führte Sergeant Aguom rasch einige Schritte vom Prinzen weg, damit dieser das Gespräch nicht mitbekam. »Ich möchte, dass das hier unter uns bleibt«, sagte er und deutete mit einem Nicken auf den Prinzen. »Haben Sie das ganze Palastgelände abgesucht? In Büschen und unter Kutschen nachgeschaut? In den Bordellen?«

Aguom nickte. »Keine Spur von ihnen, Sir. Das letzte Mal wurden sie in einer Schänke namens Blauer Skorpion gesehen, bevor dieser Aufstand losbrach, und seitdem sind sie verschwunden. Der Rest des Regiments ist vollständig angetreten.«

Konowa dachte laut. »Normalerweise würde ich vermuten, dass sie irgendwo ihren Rausch ausschlafen, aber bei diesem Lärm haben sie, hoffe ich, das Klügste getan und sich an einem sicheren Ort versteckt. Gab es aus der Stadt Nachrichten von Kämpfen zwischen unseren Truppen und den Einheimischen?«

»Das ist das Problem.« Der Sergeant kratzte sich an der Schläfe. »Da draußen herrscht Chaos. Es kursieren ständig neue Gerüchte, und es ist nahezu unmöglich, sie zu bestätigen oder zu dementieren, solange wir hier festsitzen.«

»Versuchen Sie es«, forderte Konowa ihn auf.

Sergeant Aguom warf einen Seitenblick auf den Prinzen, der jetzt seine Jacke auf den Boden geworfen hatte und brüllte, man solle ihm sofort eine neue bringen. »Ich weiß nicht, was ich davon halten soll, aber wir haben Meldungen von einer Art Scharmützel in einer Gasse bekommen. Von Leichen, die zu Asche und ein paar Knochen verbrannt wurden. Angeblich wurde Magie eingesetzt, die Magie von Kaman Rhal …«

Die Schreie von Soldat Kester Harkon hallten in Konowas Ohren.

»Und?«

»Mehr als eine Person behauptete, sie hätten ein kleines, pelziges Wesen mit einem Mann gesehen, der vollkommen in Schwarz gekleidet war. Dieser Mann hätte mehrere andere Männer getötet und sie in Asche verwandelt. Und die pelzige Kreatur hätte einen großen, buschigen Schweif. Das klingt ein bisschen nach … das klingt wie …«

»Wie mein Vater«, murmelte Konowa. Eltern, dachte er. Die eine verschwindet ohne ein Wort, während der andere sich auf einen Mordausflug mit einem verrückten Elf begibt.

»Und das ist noch nicht das Schlimmste«, fuhr Sergeant Aguom fort.

»Nein, natürlich nicht.«

Der Fahnensergeant ignorierte Konowas Sarkasmus. »Gerüchten zufolge haben etliche Leute gesehen, wie ein Stern über der Stadt erschien und, als er verschwand, ein Wagen mit hoher Geschwindigkeit die Stadt verließ und in Richtung Wüste fuhr.«

»Sie glauben, das Imperium hätte den Stern auf einen Wagen geladen …?«

»Ja, Sir. Andere Gerüchte wollen wissen, dass der Stern noch nicht angekommen ist, was die meisten Leute zu glauben scheinen. Aber was den Wagen angeht, sind sich alle ziemlich sicher.«

»Warum?«

»Weil man, Sir, nicht häufig einen Wagen sieht, der von schwarzem Feuer brennt, von Monstern gezogen und von Schattenwesen beschützt wird.«

»Nein, das kann ich mir denken«, erwiderte Konowa. »Trotzdem, wenn das das Schlimmste ist, können wir die Wellen vielleicht noch glätten. Die anderen Obristen sind sicher im Moment dabei, ihre Regimenter in die Stadt zu verlegen, um die Ruhe wiederherzustellen.«

Sergeant Aguom schüttelte den Kopf. »Angeblich sind zwanzig Leute gestorben, als sie versucht haben, den Wagen aufzuhalten.«

Der Boden schien unter Konowas Stiefeln wegzubrechen, und er musste alle Kraft aufbieten, um stehen zu bleiben. Dieser Albtraum wurde immer schlimmer. »Wie sicher ist das?«

»Ich kann nichts von alldem bestätigen, außer der Tatsache, dass im Augenblick ein höchst aufgebrachter Mob das Palastgelände umzingelt hat und schreit, das Imperium solle verschwinden oder verrecken. Vielleicht könnte ich in die Stadt gehen, um mir Gewissheit zu verschaffen.«

»Seien Sie vorsichtig mit dem, was Sie sich wünschen, Fahnensergeant«, antwortete Konowa. Er schwieg, während er einige Szenarien in seinem Kopf durchspielte. »Geben Sie Folgendes bekannt: Ich will, dass alle Soldaten innerhalb einer Stunde abmarschbereit sind. Volle Ausrüstung, Mäntel, Rationen – einfach alles.« Im selben Moment kam Konowa in den Sinn, dass seit Lorians Tod Korporal Arkhorn inoffiziell die Pflichten eines Regimentssergeanten übernommen hatte. Warum ist er nicht hier, um mir Bericht zu erstatten?, dachte er. »Und sagen Sie Korporal Arkhorn, dass er sich sofort bei mir melden soll.«

Aguom verzog das Gesicht. »Sir, Korporal Arkhorn ist einer von den Soldaten, die nicht anwesend sind. Er und sein Zug fehlen.«

Konowa umklammerte den Griff seines Säbels und atmete langsam aus. »Und wann, wenn ich fragen darf, hatten Sie vor, mir das zu erzählen?«

»Ehrlich gesagt gar nicht, Sir. Der alte Arkhorn ist der Beste in diesem Geschäft. Ich hatte mir gedacht, dass er schon noch auftauchen würde, vermutlich an der Spitze einer Parade.« Die Bewunderung in seiner Stimme war unüberhörbar. »Darf ich offen sprechen, Sir?«

»Gewährt.«

»Er verdient es nicht, ausgepeitscht zu werden, Sir. Keiner der Jungs verdient das. Diese Inseln waren die Hölle. Wenn ein Mann oder ein Zwerg nach dem, was wir durchgemacht haben, etwas Dampf ablassen will, ist das meiner Meinung nach sein gutes Recht. Und wenn Sie jetzt noch nicht zurück sind, dann sicher nur, weil Arkhorn einen sicheren Ort für sie gefunden hat, wo sie in Deckung gehen konnten.«

»Niemand wird ausgepeitscht«, erwiderte Konowa. Es frustrierte ihn immer noch, dass er den Prinzen damals in Elfkyna nicht hatte daran hindern können, etliche Soldaten auspeitschen zu lassen. Das war nicht der richtige Weg, Soldaten zu disziplinieren. Sei streng. Sei gerecht. Und verlange nichts von ihnen, was du selbst nicht auch tun würdest, dann folgen sie dir überallhin. Konowa wünschte, er hätte diesen Wahlspruch gegenüber seinen Soldaten verwirklichen können, aber die wahren Konsequenzen des Blutschwurs waren seinerzeit deutlich geworden, und von da an hatte der Prinz auf körperliche Züchtigungen verzichtet.

»Das werden die Männer zu schätzen wissen, Sir«, antwortete Sergeant Aguom.

»Machen Sie sich einfach bereit für den Abmarsch, Sergeant«, antwortete Konowa. Er salutierte, ließ den Fahnensergeanten wegtreten und wandte sich zu dem Prinzen um. Die Menge vor dem Tor brüllte wütend auf. Es klang, als wären es Tausende. Das würde es nicht leicht machen, aus dem Palast herauszukommen.

»Major, ich will, dass das Regiment so schnell wie möglich abmarschiert«, sagte der Prinz, während er sich seine neue Jacke zuknöpfte.

Konowa bemerkte, dass der Prinz seine Orden und Bänder nicht von der alten Jacke abnehmen und an die neue heften musste, weil jede Jacke bereits vollständig geschmückt war. »Hoheit, was letzte Nacht passiert ist …«

»Ich habe genug gehört, um zu wissen, dass wir sofort abrücken und in die Wüste marschieren müssen. Ich will das Regiment bereit haben, sofort. Dieser Abschaum wird uns nicht aufhalten können.«

»Ausgezeichnet, Hoheit, Sir«, antwortete Konowa, erleichtert, dass er keine Fragen beantworten musste. »Ich werde das sofort veranlassen. Aber wie wollen wir herauskommen? Die Menge kann jederzeit explodieren.«

Der Prinz hörte auf, sich mit seiner Uniform zu beschäftigen, und trat neben Konowa. Der atmete instinktiv aus, in der Hoffnung, das Parfüm des Prinzen nicht riechen zu müssen. Überrascht stellte er fest, dass Prinz Tykkin gar kein Duftwasser verwendet hatte. Und ihm fiel ebenfalls auf, dass der Prinz seinen persönlichen Tschako nicht mehr trug, der ein paar Zentimeter höher war als die Standardversion. »Vielleicht habe ich sie unbeabsichtigt mehr inspiriert, als es meine Absicht war«, bemerkte der Prinz.

»Inspiriert? Wen, Hoheit, Sir?«

Prinz Tykkin warf Konowa einen Blick zu, der besagte, das wäre doch offensichtlich. »Die Frauen, natürlich, Major. Meine Worte von einer neuen Ordnung und einer Veränderung der Welt müssen ihren Blutdruck erhöht haben. Verstehen Sie nicht? Sie haben geahnt, dass der nächste Stern zurückkehrt, und sind hinausgefahren, um ihn als Erste zu finden. Zweifellos beabsichtigen sie, uns beiden dabei zuvorzukommen.«

Konowa hatte ohnehin schon Schwierigkeiten, der Logik des Prinzen zu folgen, und in dieser Situation erst recht. »Ihr glaubt, dass sie hinausgefahren sind … um den Stern für sich selbst zu holen?«

Der Prinz lächelte auf diese Art, bei der Konowa jedes Mal bedauerte, dass er einen Eid geschworen hatte, dem Imperium und seinem Königshaus zu dienen. »Aber nein, nicht für sich selbst. Missverstehen Sie mich nicht … Ich hege allergrößten Respekt für die drei Ladys. Ihre Absichten sind tadellos, da bin ich sicher. Sie werden den Stern finden und zulassen, dass er als Wächter dieses Landes und seines Volkes dient. Aber sie wollen nicht, dass ich ihn in die Hände bekomme und ihn mit nach Calahr nehme. Und ganz bestimmt wollen sie nicht, dass Sie ihn bekommen und seine Macht benutzen, um den Schwur aufzulösen.«

»Hoheit?«

Der Prinz drehte sich um und sah Konowa direkt in die Augen. »Lassen Sie uns offen sprechen, Major. Die Dinge haben sich geändert. Ich bin zu der Einsicht gekommen, dass es nicht in meinem Interesse sein kann, den Stern für mich selbst zu behalten. Genau genommen schneide ich weit besser ab, wenn ich gestatte, dass der Stern seine offensichtliche Bestimmung erfüllt. Das Auftauchen des Sterns an sich ist es, was von Bedeutung ist. Das erst befreit seine Macht. Denken Sie darüber nach, Major. Was ist ein Stern anderes als ein Weg zu einem Schatz, der tausendmal wertvoller ist? Was ich suche, ist Kaman Rhals Bibliothek. Und dieser neue Stern wird mich direkt dorthin führen. Das ist der eigentliche Schatz.«

Konowa starrte den Prinzen fast bewundernd an. Diese Empfindung war ebenso seltsam wie beunruhigend. »Sehr gerissen, Hoheit, aber was ist mit den Elfen, die in der Wüste stationiert sind? Ihr schlagt doch nicht vor, dass wir sie dort draußen im Stich lassen?«

»Im Gegenteil, Major. Ich will jetzt mehr denn je, dass Sie Ihre Elfen finden. Mir ist klar geworden, dass ich nicht der Einzige bin, der die Dinge neu einschätzt«, sagte der Prinz und glättete eine nicht existierende Falte in seiner Uniformjacke, bevor er fortfuhr. »Was wäre wohl geschehen, wenn Sie den Roten Stern in Elfkyna benutzt hätten, um den Schwur zu lösen? Sie und das Regiment wären befreit worden, aber um den Preis, dass Sie die Macht verloren hätten, über die Sie jetzt verfügen. Und wie wollen Sie ohne diese Macht den Kampf gegen die Schattenherrscherin aufnehmen und sie ein für alle Mal vernichten?«

»Wir würden einen Weg finden, mit oder ohne Schwur«, behauptete Konowa überzeugt. »Aber mit dem Schwur ist dieses Regiment das mächtigste in der gesamten Calahrischen Imperialen Armee, wie es aussieht. Und im Moment würde ich es für dumm halten, diesen Vorteil leichtfertig zu verschenken.«

»Allerdings glaube ich kaum, dass die Soldaten das auch so sehen«, erwiderte der Prinz und sah zu, wie einige Soldaten an ihnen vorbeirannten, um sich auf den Abmarsch vorzubereiten.

»Nein, das tun sie wohl nicht«, gab Konowa zu. »Aber sie verstehen die Dinge auch nicht so, wie wir das tun.« Noch während er das sagte, erschrak Konowa über seine eigenen Worte. »Und genauso verhält es sich mit Kaman Rhals Macht. Wenn wir sie finden, sollten wir versuchen, sie zu nutzen oder damit eine Allianz zu schmieden, um die Schattenherrscherin zu bezwingen. Der Schwur wird gelöst, sobald die Schattenherrscherin tot ist, und der schnellste Weg, das zu erreichen, ist es, alle Mittel für dieses Ziel einzusetzen, die wir finden können.«

Prinz Tykkin betrachtete Konowa eine Weile so, als sähe er ihn zum ersten Mal. »Ein durchaus bedenkenswerter Gedanke, Major.«

»Hoheit, trotzdem müssen wir irgendwie aus dem Palast herauskommen. Die Stadt kocht. Wir werden uns vielleicht den Weg hinaus freikämpfen müssen.« Konowa hoffte jedoch trotz allem, dass es nicht dazu kommen würde.

»Machen Sie das Regiment bereit, und überlassen Sie alles andere mir.« Der Prinz salutierte, drehte sich um und ging, blickte aber noch einmal über die Schulter zu Konowa zurück.

Konowa hatte keine Zeit, lange nachzudenken. Eine Gruppe von fünfzig Soldaten des Dritten Speerträgerregiments – ein Regiment von dunkelhäutigen Kriegern von den Timolia-Inseln  – stand am Rand des Hofes. Als die Soldaten sahen, dass Konowa nicht mehr mit dem Prinzen sprach, nahmen sie Haltung an. Es war ein beeindruckender Anblick. Keiner der Männer war kleiner als einen Meter achtzig. Im Unterschied zu den Stählernen Elfen trugen sie die traditionelle Uniform der Calahrischen Infanterie, einschließlich der dunkelgrauen Hosen, aber sie trugen keine Stiefel dazu. Sie hatten den Saum jedes Hosenbeins mit einem langen, dünnen Streifen schwarzen Tuchs, einer Wickelgamasche, um ihre Waden gebunden. Konowa hatte sich schon gewundert, dass sie barfüßig in eine Schlacht ziehen konnten, ganz zu schweigen davon, dass sie so über die glühend heißen Pflastersteine von Nazalla marschiert waren.

Jeder Soldat hatte eine Muskete über seine Schulter geschlungen, aber ihrer Tradition folgend waren die Bajonette ihrer Musketen doppelt so lang wie normal. Und fünf von ihnen trugen als Feuerwaffen nur Pistolen, da sie noch mit den zwei Meter fünfzig langen Speeren bewaffnet waren, die dem Dritten Speerträgerregiment seinen Namen gegeben hatten. Konowa hatte gesehen, wie sie diese Speere im Kampf einsetzten. Ihre Spitzen hatten sägeartige Zacken, die wirklich schreckliche Wunden ins Fleisch rissen.

Konowa sah Fahnensergeant Aguom, der in der Nähe mit anderen Soldaten sprach, und winkte ihn zu sich. Der Sergeant gehorchte sofort.

»Die kommen aus Ihrem Heimatland?«, erkundigte sich Konowa und deutete auf die Soldaten des Dritten Speerträgerregiments.

»Sie kommen von einer Insel in der Nähe meiner Heimatinsel, aber unsere Stämme sind einander freundlich gesinnt«, erwiderte Sergeant Aguom.

»Warum sind sie nicht bei ihrem Regiment?«

»Sie sind gestern Abend als Eskorte mehrerer Kutschen hier eingetroffen. Sie sollten eigentlich heute Morgen zu ihrem Lager am Hafen zurückkehren, aber wegen des Mobs können sie ohne Blutvergießen nicht dorthin zurück.«

»Auch gut. Dann sagen Sie ihnen, sie sollen hierbleiben und auf Befehle warten. Ich bin sicher, dass sich die Lage beruhigt. Sie können hier abwarten, bis wir in die Wüste abrücken.«

»Sie wollen mitkommen.«

Konowa winkte ab. »Ihr Oberst wäre sicher nicht begeistert, wenn er erführe, dass wir ihm fünfzig seiner Leute abspenstig gemacht haben.«

Sergeant Aguom ließ sich nicht so leicht abwimmeln. »Sie wollen den Stern sehen, Major. Sie wollen da sein, wenn er zurückkehrt. Sie haben die Geschichten über Luuguth Jor gehört und wollen diesen Stern selbst sehen.«

»Und dafür möglicherweise ihr Leben aufs Spiel setzen? Warum?«

»Unsere Legenden künden von einem Stern des Wissens, der vor vielen Jahrhunderten die Ältesten unserer Inseln geleitet hat. Sie wollen mit eigenen Augen sehen, ob dieser Stern echt ist. Denn wenn er das ist, dann besteht auch noch Hoffnung für mein Volk«, sagte Sergeant Aguom. Seine Stimme wurde immer leiser, als ihm die ganze Bedeutung seiner Worte dämmerte.

»Würde Ihr Volk ebenfalls rebellieren?« Konowa hatte das Gefühl, dass sich die Welt unter seinen Füßen unablässig verschob. Ganz allmählich begann er zu begreifen, wie weit verbreitet das Verlangen danach war, sich endlich von diesem Imperium zu befreien.

»Sie wollen einfach nur ihren eigenen Weg in der Welt gehen. Der Stern bietet diese Chance. Welches Volk würde ein solches Geschenk zurückweisen?«

Konowa schüttelte den Kopf. »Sie wissen, dass er real ist. Sie waren in Luuguth Jor dabei. Erzählen Sie es ihnen.«

»Das habe ich bereits getan«, erwiderte der Sergeant, »und das hat sie in ihrer Entscheidung nur bestärkt, mit uns zu kommen.« Er machte eine kleine Pause, als würde er überlegen, wie er seine nächsten Worte wählen sollte. »Sie wären sogar bereit, den Blutschwur zu leisten, um bei den Stählernen Elfen einzutreten.«

Konowa war sich nicht sicher, ob er den Sergeanten richtig verstanden hatte. »Sie würden was?«

»Sie würden den Schwur leisten. Es sind mutige Krieger. Ein Opfer wie dieses ist für sie eine große Ehre. Und sie sehen, dass die Stählernen Elfen Soldaten verlieren und keine neuen Rekruten finden. Außerdem wissen sie, dass dort, wo Sie sind, der Stern fallen wird.«

»Ich bewundere ihren Mut, aber das ist nicht der richtige Moment. Danken Sie ihnen für das Angebot, aber weisen Sie sie ab.« Konowa salutierte und wartete darauf, dass der Sergeant seinen Gruß erwiderte.

Aber Fahnensergeant Aguom dachte gar nicht daran, aufzugeben. »Wenn mich das hier meine Streifen kostet, dann ist das eben so. Sir, wenn Sie ihnen die Aufnahme verweigern, werden sie von ihrem Regiment desertieren und uns trotzdem folgen. Sie betrachten es als ihr … als ihre Bestimmung.«

»Ihre Bestimmung? Wie zur Hölle sind sie zu dieser Schlussfolgerung gekommen? Falls diese Leute es noch nicht bemerkt haben, dieses Regiment wird die Stählernen Elfen genannt. Elfen! Das ist mein Regiment, und wenn ich meine Elfen finde, wird alles wieder in Ordnung sein.« Das Blut rauschte in Konowas Ohren. »Wie können sie es wagen zu behaupten, dies hier wäre ihre Bestimmung?«

»Ihre Elfen«, Aguom betonte das Wort, »sind stets in Ihrer Nähe, Sir. Und im Moment steht ein Stählerner Elf direkt vor Ihnen … oder bin ich in Ihren Augen ein geringerer Soldat, weil meine Ohren keine Spitzen haben?«

Kalte, schwarze Wut fauchte in Konowa hoch. Im Hinterkopf hörte er, wie seine Mutter und Visyna ihn anflehten. Das war nicht der richtige Weg.

Aber noch tiefer in sich hörte er ihre Stimme.

Sie verstand.

Die Schattenherrscherin wusste um die Bedeutung der Elfen. Und ihr war auch Konowas Bindung an sie klar.

Konowa musste sich so sehr anstrengen, seine Wut zu beherrschen, dass er fast mit den Zähnen knirschte. Ihm wurde schwindlig, und er schwankte. Dann wischte er sich den Schweiß aus den Augen und sah Fahnensergeant Aguom an. »Sergeant, ich muss mich bei Ihnen entschuldigen. Jeder Soldat ist mir wichtig. Jeder einzelne. Wenn diese Männer mit uns ziehen und die Rückkehr eines Sterns miterleben wollen, dann werde ich sie nicht daran hindern. Ich werde mit dem Prinzen reden, damit keine disziplinarischen Maßnahmen erfolgen. Aber eines muss klar sein: Ich werde ihnen nicht den Schwur abnehmen. Sie können mit uns kommen, mit uns kämpfen und Ruhm und Ehre erringen, wie auch immer sie es wünschen, aber ich werde sie nicht dem Schwur unterwerfen. Ist das klar?«

Sergeant Aguom strahlte. »Ich danke Ihnen, Sir, im Namen aller. Sie werden Sie nicht enttäuschen, Sir.« Er salutierte, drehte sich um, ohne Konowas Gruß abzuwarten, und rannte zu den wartenden Soldaten, die einen Augenblick später laut jubelten.

Konowa schüttelte den Kopf. Der Prinz kam heran, während er auf die Landkarten blickte, die von zwei Korporälen festgehalten wurden, die rückwärts gehen mussten, damit der Prinz im Gehen die Karten studieren konnte. Er sah hoch, als er den Jubel hörte, schickte die Kartenträger weg und kam zu Konowa.

»Man sollte meinen, dass es nicht viel Grund zum Jubeln gibt«, erklärte der Prinz und tippte mit der Schwertscheide gegen die Spitze seines ledernen Reitstiefels.

»Das denke ich auch, Hoheit, aber offenbar können sie es kaum erwarten, die Stadt zu verlassen.« Konowa entschloss sich, den wahren Grund nicht zu nennen. »Sie haben sich freiwillig gemeldet, mit uns in die Wüste zu gehen.«

Konowa wartete ab und fragte sich, ob der Prinz das als einen Affront gegen seine Autorität betrachten würde oder als eine Stärkung seines Egos.

»Sie haben sich freiwillig gemeldet, direkt unter mir zu dienen, obwohl sie wissen, dass wir so gut wie sicher in eine Schlacht ziehen?«

»Jawohl, Hoheit, genau das haben sie getan.«

Prinz Tykkin holte tief Luft und richtete sich etwas gerader auf. Dann zog er sein Schwert aus der Scheide, reckte es in die Luft und drehte sich zu den Soldaten des Dritten Speerträgerregiments herum. »Gut gemacht, Männer!«, schrie er.

Die Soldaten antworteten mit lautem Jubel und stimmten einen Schlachtgesang in ihrer Muttersprache an, während sie Speere und Musketen in die Höhe hielten. Etliche Soldaten der Stählernen Elfen standen in der Nähe und sahen sie verwirrt und verärgert an.

Konowa bemerkte, dass beim Klang der lauten Stimmen des Dritten Speerträgerregiments die immer größer werdende Menge vor dem Palast ruhig geworden war. Er sah durch das Tor und stellte verblüfft fest, dass die Bürger von Nazalla eiligst davonliefen. Der Ruf der Krieger von den Timolia-Inseln hatte sich offenbar sogar bis hierher herumgesprochen.

»Wir sollten abrücken, Hoheit, solange wir können«, sagte Konowa.

Der Prinz ließ sein Schwert sinken und schob es in die Scheide. Sein Gesicht glühte. »Ja, ich glaube, Sie haben recht. Aber ich finde, wir sollten ihnen die Gelegenheit geben, diesen Moment noch ein wenig auszukosten. Wer weiß, was der Tag noch bringen wird. Wir werden schon Schwierigkeiten haben, gesund und unversehrt aus Nazalla herauszukommen, geschweige denn, uns durch die Wüste zu schlagen.«

Der Ton in der Stimme des Prinzen strafte seine Worte Lügen, was bedeutete, dass er wieder etwas ausgeheckt haben musste. »Hoheit? Habt Ihr einen Plan ersonnen, wie wir aus der Stadt herauskommen können, ohne gegen ihre Bürger zu kämpfen?«

»Meine Proklamation war doch wohl deutlich genug«, erwiderte der Prinz.

Konowas Herz hämmerte. »Hoheit, das sind Zivilisten. Das wäre ein Massaker. Es muss einen anderen Weg geben.«

Der Prinz warf Konowa einen Blick zu wie eine Mutter, die ihr Kind trösten will. Konowas Magen brannte.

»Den gibt es auch, Major, den gibt es. Also wirklich, Sie glauben doch nicht, dass ich tatsächlich das Regiment hinausschicken würde, um Unschuldige abzuschlachten?«

Konowa wagte nicht, darauf zu antworten. Zum Glück hatte der Prinz die Frage offenbar rhetorisch gemeint, denn er sprach weiter.

»Keine Sorge, Major. Ich habe bereits sicheres Geleit für uns ausgehandelt. Lassen Sie das Regiment antreten, wir rücken in zehn Minuten ab.« Dann tat der Prinz etwas vollkommen Unerwartetes. Er lächelte Konowa an, streckte die Hand aus und gab ihm einen wohlwollenden Knuff gegen die Schulter, bevor er sich umdrehte und davonschritt.

Konowa stand sekundenlang wie angewurzelt da. »Was zum Teufel sollte das denn?«

»Teufel, sagen Sie?«, fragte der Suljak der Hasshugeb, der neben Konowa auftauchte. »Vielleicht hat er seine Hände im Spiel, vielleicht aber auch nicht.«

Konowa blickte auf den alten Mann herunter. »Sie helfen uns?«

Der Suljak wirkte überrascht. »Man hat mir die einzigartige Möglichkeit geboten, die Stählernen Elfen aus Nazalla heraus- und tief in das Herz der Wüste hineinzuführen, und das alles, ohne das Leben der Einwohner zu gefährden. Warum sollte ich da nicht behilflich sein?«

Konowa war nicht so leichtgläubig wie der Prinz … das hoffte er zumindest. »Weil Sie damit dafür sorgen, dass wir eine Streitmacht auf bieten können, die bereit ist, den Stern für sich zu beanspruchen, deshalb.«

Der Suljak strich sich mit gespreiztem Daumen und Zeigefinger über die Mundwinkel, als würde er nachdenken. »Das ist ein Rätsel, ganz gewiss. Trotzdem, es ist immer noch besser, die Viper aus dem Haus zu werfen und sich hinterher über die Schlange vor dem Haus den Kopf zu zerbrechen, stimmt’s?«

Konowa wollte schon nicken, als ihm etwas einfiel. »Moment, Sie sagten, Sie würden die Stählernen Elfen aus der Stadt eskortieren. Was ist mit den anderen Regimentern?«

»Auch meine Überredungskraft hat ihre Grenzen«, antwortete der Suljak. »Ich kann das sichere Geleit für die Stählernen Elfen garantieren, weil ich mit ihnen reite. Für die anderen kann ich leider nichts tun, weil sie rings um die ganze Stadt und am Hafen kampieren. Es wird eine Weile dauern, bis sie den ganzen Weg zurückgelegt haben und uns folgen können. Und die Zeit«, der Suljak sah zum Himmel hinauf, »ist ganz eindeutig etwas, das nicht wartet, weder auf Menschen noch auf Elfen.«

»Oder auf Sterne«, ergänzte Konowa und blickte auch nach oben.

Der Suljak klopfte Konowa anerkennend auf den Arm. »Allerdings, mein lieber Major. Ich glaube, das hier wird ein höchst interessanter Ausflug.«