28
VISYNA DRÄNGTE ENERGISCH vorwärts, als sie die Soldaten durch den Tunnel unter der Oase führte. Zweimal glaubte sie, vor sich jemanden zu erkennen, aber sie kam nicht nahe genug heran, um genau sagen zu können, wer oder was es war.
»Ich … ich brauche eine Pause«, erklärte Teeter und ging langsamer. »Tut mir leid, aber ich halte dieses Tempo nicht durch. Wir werden diesen verdammten Elf ohnehin nicht einholen, ganz gleich, wie schnell wir gehen.«
Visyna wurde auch langsamer. Am liebsten hätte sie den Soldaten angeschrien, aber sie wusste, dass er recht hatte. Sie wischte sich den Schweiß von der Stirn, streckte dann die Hände vor sich aus und begann, Muster in der Luft zu weben.
Mit einem Zischen hielt sie inne. Ihre Fingerspitzen brannten; die Natürliche Ordnung hier war vergiftet. Sie krümmte die Finger für einen neuen Versuch, musste jedoch erneut aufgeben, als die Magie sie zu verbrennen schien.
»Ich spüre es auch.« Hrem war neben sie getreten. Sein Gesicht war gerötet, und er atmete schwer. »Alles hier ist falsch. Es ist ein Gefühl, als würde etwas über meine Haut krabbeln, und ich kann es nicht abschütteln.«
Zwitty trat etwas zur Seite. »Warum gehen wir dann weiter? Wo steht geschrieben, dass wir unseren Hals riskieren und den Helden spielen müssen? Wenn wir hierbleiben, sind wir in Sicherheit.« Zwitty sah sich im Tunnel um.
»Sie können tun, was Sie wollen«, erwiderte Visyna, »aber ich gehe weiter.«
Hrem richtete sich auf und warf Zwitty einen kurzen Blick zu. »Wir alle gehen weiter.«
»Augenblick, habt ihr das auch gehört?« Visyna hob Ruhe gebietend die Hand. Ja, vor ihnen war ganz eindeutig etwas.
Das Geräusch von Musketenhähnen, die gespannt wurden, hallte von den Tunnelwänden wider.
Visyna zückte ihren Dolch. Hrem und Teeter schoben sich vor sie und duckten sich.
Eine Gestalt warf einen Schatten auf die Tunnelwand vor ihnen. Etwas kam auf sie zu. Visyna umklammerte ihren Dolch fester und verfluchte die vergiftete Atmosphäre um sie herum. Wenn sie die Natürliche Ordnung nicht weben konnte, war sie so gut wie nutzlos. In diesem Fall waren die Musketen der Soldaten weit effektiver, trotz der perversen Kombination von Holz und Metall. Dabei fiel ihr Konowa ein, und sie hätte fast gelächelt, runzelte jedoch stattdessen die Stirn. Er war so voller Wut, dass man unmöglich mit ihm reden konnte. Wenn er nicht lernte, sich zu beherrschen, dann sah sie keine Zukunft für ihn – oder für sie beide.
»Ich höre es«, flüsterte Hrem. Es klang wie Knochen, die über Steine kratzen.
Visyna versuchte, etwas zu erkennen. Die Gestalt wurde etwas deutlicher, aber sie wusste trotzdem nicht, was sie da sah. Es bewegte sich zu nahe am Boden, als dass es Tyul hätte sein können. Visyna lockerte ihre Handgelenke und bog die Finger ihrer linken Hand. Sie würde die Magie weben, wenn alles andere versagte, ganz gleich, wie sehr es schmerzte.
Das Kratzen wurde lauter.
Visyna atmete langsam aus, als sie merkte, dass sie die Luft angehalten hatte. Die Kreatur kam näher, und schließlich fiel das Licht der Flechten auf sie. Es war Jir, der ein Skelett im Maul mit sich schleifte.
»Es ist nur …! «, rief Visyna, als Zwitty auch schon feuerte.
Der Knall der Muskete dröhnte ohrenbetäubend im Tunnel. Orangefarbenes und schwarzes Feuer flammte vor Visynas Augen auf, gefolgt von glühenden Funken. Sie schrie auf und duckte sich, als der Knall in ihren Ohren schmerzte.
»Nicht schießen!«, brüllte Hrem.
Visyna schüttelte den Kopf und blickte hoch.
Jir lag am Boden. Sie lief zu ihm und stieß dabei Knochenstücke aus dem Weg.
»O nein, Jir!«
Tyuls Kopf drohte vor Schmerz zu zerplatzen. Alles in diesem Tunnel war falsch. Die Macht, die durch diesen Felsen pulsierte, fühlte sich in seiner Lunge an wie schwarzer Teer. Er versuchte, mit Jir Schritt zu halten, aber der Bengar schien von der Magie nicht beeinflusst zu werden und war bald außer Sichtweite. Jurwan zwitscherte etwas in Tyuls Ohr, und der Elf verlangsamte zögernd seine Schritte. Er drückte die Hände gegen seine Schläfen, aber das half nicht.
Der Boden vor ihm zeigte nur sehr wenig Abnutzungsspuren, die sich in einem Bogen von der rechten Seite der Tunnelwand her erstreckten. Tyul verstand nicht viel von Maurerarbeiten, aber er war ein ausgezeichneter Spurensucher, und das hier war ein Zeichen. Jurwan sprang von seiner Schulter an die Wand, wo er sich mit seinen winzigen Krallen an den Steinen festklammerte. Er schnüffelte an den winzigen Spalten zwischen den Steinen, während er darüberkroch, bis er plötzlich innehielt und seinen Schweif aufplusterte.
Tyul stand auf und legte seine Hand auf den Stein, an dem Jurwan kratzte. Er wich einen Zentimeter in die Wand zurück, und dann öffnete sich ein Abschnitt der Mauer wie eine Tür. Dahinter lag ein anderer Tunnel, der von dem ersten wegführte, tiefer in die Schlucht hinein.
Jurwan sprang von der Wand und hüpfte ein paar Schritte in die Öffnung hinein, blieb dann stehen und sah zu Tyul zurück. Der Elf schüttelte den Kopf und deutete auf den Hauptgang, in dem Jir verschwunden war.
Jurwan keckerte und lief noch ein Stück weiter in den Nebentunnel. Tyul wusste, dass er eigentlich dem Bengar und dem Skelett folgen sollte, andererseits jedoch war dieser Jurwan ein Magus.
Der Elf warf einen letzten Blick in den Hauptgang, trat dann durch die Öffnung und folgte Jurwan.
Hier gab es nicht so viele Flechten, die Licht spendeten, aber es genügte. Hinter ihm schloss sich die Tunnelwand ohne ein Geräusch.
»Halt durch, Ally, halt durch!«, drängte Yimt. Alwyn nickte und versuchte sich zu konzentrieren.
Die Flammen wollten nicht erlöschen.
Der Wagen flog förmlich über den Sand. Dann veränderte sich das Geräusch der Räder auf dem Boden, und Alwyn fühlte Schatten. Er öffnete die Augen. Sie fuhren durch den Eingang der Knochenschlucht. Der Schmerz nahm zu. Er konnte mit seinem linken Auge mehr erkennen, während sein rechtes sich trübte.
Ruckartig kam der Wagen zum Stehen, als die Brindos plötzlich ihre Hufe in den Boden gruben. Rallie schlug mehrmals mit den Zügeln auf ihre Rücken, aber die Tiere weigerten sich, auch nur einen Schritt weiterzugehen.
Sie standen zwischen einem Haufen Knochen, die aus dem Boden der Schlucht herausragten, jedenfalls sah es so aus. Riesige, gebogene Stücke des weißen Materials strebten in merkwürdigen Winkeln empor. Einige von ihnen waren mehr als zehn Meter hoch, viele auf dem Boden der Schlucht verteilt. Es sah aus, als hätte ein riesiges Raubtier hier gefressen und nur die Reste seiner Beute zurückgelassen.
Rallie machte die Zügel am Bock fest, stieg vom Wagen und spannte unverzüglich die Brindos aus.
»Was machen Sie da?« Inkermon sprang beunruhigt von der Pritsche. »Ohne sie sitzen wir hier fest.«
Rallie arbeitete weiter am Geschirr. »Sie werden uns nicht weiterziehen, weil sie keinen Schritt mehr tun wollen. Baby hat eine Nase für Gefahr, und ganz offensichtlich hat er sie voll davon.«
Mistress Rote Eule half ihr. Nachdem sie die Tiere ausgespannt hatten, nahmen sie den Brindos das Geschirr ab, und Rallie versetzte ihnen einen Klaps auf das Hinterteil. »Bring sie in Sicherheit, Baby, schaff sie hier raus.«
Baby hob den Kopf und brüllte, woraufhin die anderen Brindos ebenfalls ihre Köpfe hoben, sich umdrehten und in vollem Galopp aus der Schlucht verschwanden. Nach wenigen Momenten waren sie weg, obwohl ihr Hufgetrampel noch etliche Zeit von den Wänden der Schlucht widerhallte.
»Wir müssen uns eine Deckung suchen«, erklärte Yimt und hielt Alwyn die Hand hin, um ihm vom Wagen zu helfen.
»Du solltest mich besser nicht berühren, Korporal … ich weiß nicht, was dann passiert.« Alwyn stand langsam auf. Jede Bewegung löste eine Welle von Schmerz in seinem Körper aus. Mühsam kletterte er herunter und lehnte sich dann an den Wagen. Er zitterte vor Kälte, als eine Woge von Frostfeuer in ihm aufstieg, und schwankte, als die Hitze der weißen Flamme zurückschlug.
»Halt durch, Ally, halt durch.« Yimt wollte ihm die Hand auf die Schulter legen, überlegte es sich dann jedoch anders. »Ach, Junge, ich wünschte, ich wüsste, was ich tun kann.«
Alwyn versuchte zu lächeln, brachte aber nur ein knappes Nicken zustande. Ihm wurde klar, dass Yimt viel mehr ein Vater für ihn war als der Stiefvater, mit dem er aufgewachsen war. Er würde ihn vermissen.
»Wo sollen wir uns verstecken?«, fragte Inkermon. Er war vollauf damit beschäftigt, hinter Felsen zu spähen und gleichzeitig den Eingang der Schlucht im Auge zu behalten. »In der Oase hätten wir vielleicht den Forst aufhalten können … ein bisschen jedenfalls.«
»Inkermon, such weiter, und behalte deine Weisheiten für dich«, befahl Yimt. »Keiner hat gesagt, dass dies hier einfach werden würde, aber …«
»Bei den Felsen dort drüben gibt es eine Öffnung!«, rief Mistress Rote Eule. Alwyn blickte in die Richtung, in die sie deutete. Zuerst bemerkte er nur einen schmalen Spalt im Fels, aber als er genauer hinschaute, sah er, dass der Spalt durch die Lichtverhältnisse viel kleiner erschien, als er eigentlich war. Ein Mensch passte mit Leichtigkeit hindurch.
Mistress Rote Eule machte Anstalten, darauf zuzugehen, aber Yimt hob die Hand.
»Langsam. Die anderen haben diese Skelettdinger in einen Tunnel gejagt.« Er sah sich auf dem Boden der Schlucht um. »Diese Knochenschlucht kommt mir genau wie der Ort vor, zu dem sich ein Haufen wandelnder Skelette flüchten würde. Scolly, Inkermon, geht rein, und seht nach, ob alles in Ordnung ist.«
Inkermon wich einen Schritt zurück. »Bist du verrückt geworden? Du treibst uns in eine Schlucht voller Knochen, und jetzt sagst du uns, dass diese verfluchten Skelettwesen wahrscheinlich auch noch hierherkommen? Du willst also, dass wir einfach da hineingehen und ein bisschen herumstöbern?«
Yimt überwand stampfend die wenigen Meter zu Inkermon und packte den Soldaten an der Brust seiner Uniformjacke. Er riss ihn nach unten, bis sie auf Augenhöhe waren.
»Du kannst dich mit dem auseinandersetzen, was sich in diesem Tunnel befindet, oder aber du bekommst es mit mir zu tun.«
Inkermon öffnete den Mund und schloss ihn wieder. Dann nickte er. Yimt ließ ihn los.
»He, hier drinnen gibt es Licht«, erklärte Scolly, der bereits ein paar Schritte in den Tunnel hinein gemacht hatte. »Ich kann ganz gut sehen.«
Yimt deutete auf Inkermon und dann auf die Öffnung. Der Soldat stampfte wütend auf, folgte Scolly aber dann. Yimt wandte sich den Frauen zu. »Jetzt geht ihr rein. Ally und ich bilden die Nachhut.«
Mistress Rote Eule duckte sich in den Tunnel. Mistress Synjyn machte Anstalten, ihr zu folgen, blieb dann jedoch stehen und drehte sich um. »Yimt, ich habe Schreie gehört. Ich glaube, da ist etwas in dem Gang!«
»Wenn Inkermon wieder den Idioten spielt, dann ziehe ich ihm die Haut ab.«
»Das klingt aber eher nach Scolly«, gab Rallie zurück.
Yimt sah vom Tunneleingang zu Alwyn und dann zu Rallie. »Also gut, ich gehe rein. Hilf du Alwyn«, sagte er und lief zum Tunneleingang, den Schmetterbogen schussbereit in den Händen.
Alwyn stolperte auf die Öffnung zu, als Rallie eine Schreibfeder und ein kleines Päckchen mit einzelnen weißen Blättern aus ihrem Umhang zog. Sie begann zu zeichnen. Sofort spürte Alwyn eine neue Macht um sich herum. Sie war anders als die beiden Magieformen, die ihn langsam zerrissen. Diese hier war subtil unkontrolliert; sie wirkte wie die Arbeit eines Bildhauers, der behutsam und vorsichtig ein Stück Marmor nach dem anderen von einem großen Block wegschlug.
Die Wände der Schlucht erbebten, und einen Moment später regnete es Felsbrocken und Erde herunter, die den Eingang unter sich begruben. Alwyn erwartete fast, dass die ganze Flanke über ihnen zusammenbrechen würde, aber der Erdrutsch beschränkte sich nur auf die kleine Fläche über dem Tunneleingang.
Alwyn drehte sich zu Rallie herum und warf dann einen Blick auf ihre Zeichnung. Die Felswand und der Erdrutsch waren perfekt auf dem Papier festgehalten. Die Striche pulsierten von Energie. »Sie … Sie haben gerade diesen Erdrutsch gezeichnet.«
Rallie nahm die Feder vom Papier, und die Macht in der Luft erlosch augenblicklich. »In meiner Funktion als Schreiberin Ihrer Majestät lege ich Wert darauf, immer dort zu sein, wo interessante Dinge geschehen.«
Alwyn schüttelte den Kopf. »Nein, ich meine, Sie haben ihn durch Ihre Zeichnung ausgelöst. Sie haben diesen Erdrutsch bewirkt.«
Rallie zog ein frisches Blatt Papier heraus und legte es nach oben. Dann hielt sie die Feder über die Seite. »Sagen wir einfach, mein Timing war … perfekt.«
Die Schmerzen schüttelten Alwyns Körper. Die Macht des Schwurs kämpfte gegen das weiße Feuer. Kurze Bilder vom Berg der Schattenherrscherin zuckten in seinem Verstand auf, durchsetzt von Bildern eines endlosen Meeres aus brennendem Sand. Er hatte das Gefühl, einmal vollkommen von Eis umhüllt zu sein und im nächsten Moment in Flammen zu stehen. Es gab keinerlei Zufluchtsort mehr in seinem Innersten, keine Stelle, wo Alwyn einfach hätte er selbst sein können. Die beiden gegeneinander kämpfenden Energien würden ihn bei ihrem Versuch, ihn zu beherrschen, vernichten. Nur einer konnte diesen Kampf gewinnen, aber Alwyn war klar, dass er selbst auf jeden Fall verlieren würde. »Gehen Sie hier weg, Mistress Synjyn. Ich kann es nicht länger kontrollieren.«
»Bitte, mein Lieber, nennen Sie mich Rallie.« Sie setzte die Feder auf das Papier und begann zu zeichnen. Dabei zuckte sie kurz zusammen, lächelte jedoch und fuhr in ihrem Tun fort. »Man sagt, dass Wissen Macht ist, wussten Sie das? Natürlich, Macht ist Macht. Ein Schlag in den Bauch tut auch weh, wenn man vorher weiß, dass er kommt, aber wenn man es weiß, kann man versuchen, ihm auszuweichen, oder sich zumindest darauf vorbereiten. Verstehen Sie das?«
Alwyn schüttelte den Kopf. Das Feuer in seinem linken Auge loderte, während sein rechtes Auge vor Frost klirrte. Sein Stumpf blutete, als die Magie in dem Holz sich wehrte und sich um seinen Stumpf krampfte, als kämpfte sie ums Überleben. Die Macht des weißen Feuers tötete die Magie in seinem Bein.
»Ich will Folgendes sagen: Wir wissen, dass der Stern kommt, also müssen wir uns darauf vorbereiten. Ich werde tun, was ich kann, um Ihnen zu helfen bis er da ist, aber danach fürchte ich, dass alles von Ihnen selbst abhängt.«
Alwyn verstand immer noch nicht. »Rallie … ich …« Er verstummte. Der Schmerz in seinem Körper ebbte ab. Er holte bebend Luft und richtete sich etwas auf. »Was haben Sie da gemacht?«
Rallies Feder glitt langsam über das Blatt, und ihre Hand zitterte vor Anstrengung. Schweiß stand ihr auf der Stirn. Alwyn schaute auf ihre Zeichnung. Sie zeigte ihn selbst, aber nicht so, wie er jetzt aussah. In der Zeichnung wirkte er jünger, fröhlicher. Seine Augen waren normal, und er hatte noch beide Beine.
»Ich benutze einfach nur meine Beobachtungsgabe, um Ihnen zu helfen. Sie sind ein guter Mann, Alwyn Renwar, und genau das zeichne ich. Ich möchte, dass Sie sich daran erinnern. Sie sind ein guter Mensch!«
Alwyn wusste nicht, was er darauf antworten sollte. »Ich weiß es nicht, Rallie. Ich weiß nicht mehr, was ich bin.« Er ging zu einem Felsbrocken und setzte sich, während sie weiterzeichnete. Jeder Muskel in seinem Körper schmerzte, und ihm verschwamm immer wieder alles vor den Augen, aber wenigstens war der Schmerz jetzt erträglich.
»Wenn das Leben einfach wäre, würden alle es meistern.« Rallie versuchte zu lachen, aber es bereitete ihr eindeutig Schmerzen. Sie beugte sich über das Papier und zeichnete noch konzentrierter.
»Ich kann nicht von Ihnen verlangen, dass Sie das für mich tun«, sagte Alwyn, holte tief Luft und stand auf. Er schwankte, und einige Zweige seines Holzbeins brachen. »Das hier ist meine Bürde. Ich will, dass es aufhört, Rallie. Ich will einfach nur, dass das alles aufhört.«
Rallie drückte die Feder so fest auf das Papier, dass es riss. Alwyn durchfuhr ein scharfer Schmerz. »Tut mir leid, mein Lieber, ich bin abgerutscht.« Sie hob kurz den Kopf, um ihn anzusehen, und blickte dann zum Himmel empor. »Es wird jetzt nicht mehr lange dauern. Sie werden bald Ihre Kraft brauchen, und die kann ich Ihnen geben.« Mit ihrer freien Hand griff sie in ihren Umhang und zog eine Zigarre heraus. Sie steckte sie in den Mund und holte Luft, als die Zigarre sich selbst entzündete. Dann lächelte sie und sah wieder auf ihre Zeichnung hinunter. »Ich sollte das Rauchen wirklich bald aufgeben.«
Der Boden unter ihren Füßen vibrierte. Alwyn stützte sich auf seine Muskete, um sein Gleichgewicht zu halten. »Was war das?«
Der Boden der Schlucht bebte weiter. Die weiß gebleichten Baumstämme zitterten und kippten dann um. In den Wänden der Schlucht klafften tiefe Spalten auf, aus denen verhüllte Gestalten traten.
»Rallie!«, zischte Alwyn. Er ballte die Fäuste. Eines der Skelette wandte sich um und sah zu ihnen hinüber, ging dann jedoch weiter und verschwand hinter einem Felsvorsprung. Noch mehr Gestalten tauchten auf, von denen viele Leichen oder Leichenteile über der Schulter trugen. Sie alle gingen in ein- und dieselbe Richtung, und kein Einziger von ihnen kam auf sie zu.
»Warum greifen sie uns nicht an?«, wollte Alwyn wissen, während er langsam die Fäuste wieder öffnete.
Rallie schob ihre Kapuze herunter und warf erneut einen kurzen Blick zum Himmel. Über der Schlucht färbte er sich dunkelblau. Rallie widmete sich wieder ihrer Zeichnung. »Das brauchen Sie nicht mehr. Der Stern ist fast da, also ist auch ihre Arbeit fast erledigt.«
»Ihre Arbeit? Was für eine Arbeit?«
Rallie blätterte die Seite um und begann eine neue Zeichnung. Alwyn stockte der Atem, als er die Zeichnung sah. Sie zeigte die Ankunft eines Sterns am nächtlichen Himmel, aber er konnte nicht erkennen, was sich darunter auf dem Boden der Schlucht befand. Die Striche, die Rallie zog, bewegten sich in einem unberechenbaren Muster. »Was ist das für ein Ding?«, wollte er wissen.
Die Schreiberin Ihrer Majestät hörte nicht auf zu zeichnen, als sie Alwyn ansah. »Das, mein lieber Junge, ist meine nächste große Geschichte.«