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»ER HAT ES schon wieder gemacht!«, schrie Visyna, während das Boot im Sand zum Halten kam. Sie stand neben dem Bug und wob ein Muster aus der natürlichen Energie um sich herum, schuf dieses künstliche Morgengrauen, das jetzt über ihnen leuchtete. Pfeile zischten auf ihren Kopf zu, aber ein Zauber lenkte ihre Flugbahn an ihr vorbei. »Er hat versprochen, dass er nicht mehr einfach so angreifen würde.«
»Du meinst Soldat Renwar?«, erwiderte Rallie und blickte von den Papieren hoch, auf denen sie mit einem Gänsekiel Skizzen anfertigte. Die Zeichnung von Visyna, die im Bug stand, pulsierte förmlich auf dem Papier. Dunkelheit und Licht wogten über die Seiten, während Energie um sie herumwaberte.
Visyna wartete, bis alle Soldaten aus dem Boot gesprungen waren, bevor sie antwortete. »Du weißt sehr genau, wen ich meine, Rallie.«
»Er kämpft gegen Dämonen, die wir nicht sehen können.« Rallie schwang elegant ihren Federkiel, als ein Rakke die Linie der Stählernen Elfen durchbrach und das Boot angriff. Die Bestie sah die beiden einsamen Frauen, heulte und riss sein Maul vor Erwartung noch weiter auf.
»Beeil dich, Rallie«, meinte Visyna.
»Ich sehe es.« Rallies Federkiel flog über die Seite. Das Rakke ließ sich nach vorn auf alle viere fallen und sprang auf das Boot zu. Sand spritzte unter seinen Klauen auf. Musketenschüsse knallten, aber die Bestie kam näher.
Eine Welle klatschte gegen den Rumpf des Bootes, und Gischt spritzte über den Rand ins Innere auf Rallies Seite. Funken von Energie zuckten empor. Die Luft um sie herum zischte und knisterte. Visyna wob weiterhin das Licht, das den Stählernen Elfen diesen strategischen Vorteil verhieß, während sie Rallie beobachtete. Die Seite war vollkommen durchnässt. Rallie sah unverkennbar gereizt hoch.
Das Rakke hatte den Bug fast erreicht.
»Rallie!«
Rallie legte das Blatt Papier weg und packte ein Ruder. Als sie es berührte, summte das Holz vor Energie. Das Rakke sprang hoch und hatte die Krallen ganz ausgefahren, als es auf Visyna zuflog. Sie schloss die Augen und wob weiter ihre Magie.
Es krachte laut, als Holz zerbarst. Das Boot schaukelte heftig, und es stank nach verbranntem Fleisch. Das Heulen des Rakke brach schlagartig ab, und unmittelbar danach ertönte ein lautes Platschen. Visyna öffnete die Augen. Rallie stand neben ihr, das zersplitterte Ende des Ruders in der Hand. Von dem Holz stieg eine dünne Rauchfahne auf, und immer noch liefen Funken darüber. Die Leiche des Rakke trieb mit dem Gesicht nach unten im Wasser neben dem Boot; aus seiner Brust ragte die andere Hälfte des Ruders hervor.
»Webe weiter, Liebes – die Sonne ist noch nicht aufgegangen. « Rallie legte das Ruder achtlos zur Seite und setzte sich wieder hin. Dann nahm sie ihre Papiere hoch, wischte die oberste Seite mit dem Ärmel ihres Umhangs trocken und machte sich daran weiterzuzeichnen.
Visyna konzentrierte sich wieder vollständig auf das Weben, zog noch mehr Energiefäden zusammen und verstärkte das Licht über der Insel. Silberne Fäden tanzten zwischen ihren Fingerspitzen. Sie warf noch einen kurzen Blick auf Rallies Zeichnung. Erneut waren auf dem Blatt Papier sie selbst und das Boot zu sehen. Die Striche waren fließend und kräftig. Allerdings zog Rallie es vor, sich selbst nicht zu zeichnen. Dort, wo sie saß, beschrieben die Linien aus Energie einen Bogen, als wären sie nicht in der Lage oder nicht bereit, sie darzustellen.
Der Himmel wurde heller, und dann loderte Feuer, echtes Feuer, an verschiedenen Stellen auf, entzündet von den Funken der Musketen und Kanonen. Konowa ging ein paar Schritte zum Strand, erklomm einen Felsbrocken und blickte von dort aus über den Strand. Etliche Soldaten liefen herum, und kurz danach erschienen weitere, trugen die Verwundeten. Ein improvisiertes Feldlazarett für Erste Hilfe war dort errichtet worden, und Konowa wusste, dass Visyna, Rallie und seine Mutter sich um die Verletzten kümmern würden. Weiter entfernt am Strand sah er immer noch die Gestalten der Soldaten.
Dann ließ er den Blick aufs Meer hinaus gleiten, wo die Schwarzer Dorn ankerte. Sie war bereit, die nächste Breitseite abzufeuern. Es hatte durchaus auch Vorteile, dass der Sohn der Königin die Stählernen Elfen kommandierte.
Das Schiff, das den Namen der Wolfseiche von Konowas Vater trug, war ein gewaltiger Dreimaster, ein Linienschiff mit 72 Kanonen, und stellte eine der wichtigsten Waffen dar, mit denen Ihre Majestät ihre Macht in ihrem ausgedehnten Imperium schützte. Vor fünf Jahren hatte allein sein Anblick genügt, als dieses Schiff in der Bucht von Kilok Ree vor Anker ging, um die Rebellion einiger unzufriedener Einheimischer zu beenden, die dagegen protestiert hatten, dass man ihre kostbaren religiösen und magischen Artefakte nach Celwyn, Calahrs Hauptstadt, schaffte. Konowa konnte ihre Reaktionen verstehen, sowohl ihre Rebellion wie auch ihren plötzlichen Sinneswandel, als die Schwarzer Dorn auftauchte. Das Schiff war eine schwimmende, waffenstarrende Festung; es war mit zwanzig gewaltigen Achtundsechzigpfündern bestückt, vierzig weit reichenden Sechsunddreißigpfündern und dazu zwölf kleineren Kanonen, von denen allerdings im Augenblick sechs am Bug ihrer Landungsboote befestigt waren. Es war ein Jammer, dass man die Schwarzer Dorn nicht auf den Berg der Schattenherrscherin schaffen konnte. Im Verein mit den Stählernen Elfen hätte die Schwarzer Dorn diesen Krieg, wenn es denn einer war, mit etwa drei Breitseiten beenden können.
Konowa folgte seinen Männern. Die Insel gehörte ihnen. Der Boden war, wohin er auch blickte, von toten Rakkes übersät, und die Blutbäume waren vom Frostfeuer verzehrt. Jetzt endlich konnten sie zu den Südlichen Einöden in See stechen. Zufrieden hob Konowa die Hand und tätschelte die schwarze Eichel unter seiner Uniformjacke.
Ein glühender Schmerz stach ihm ins Herz und versengte seine Hand.
Er keuchte, taumelte nach hinten und sank auf ein Knie. So etwas hatte er noch nie erlebt. Er hob den Säbel in Erwartung eines Hiebs, doch der blieb aus.
Er blickte hoch. Es war niemand in der Nähe. Schweiß lief ihm über die Stirn, und es fühlte sich an, als würde das Blut unter seiner Haut kochen. Die Kälte, die ihn normalerweise durchdrang, wenn er ihre Magie benutzte, war jetzt einer Hitze gewichen, die ihm den Atem nahm. Vor ihm ertönten Musketenschüsse. Männer schrien, und jemand begann zu kreischen, hörte nicht auf.
Konowa zwang sich aufzustehen und setzte sich in Bewegung. Als der Schmerz nachließ, fing er an zu laufen. Als er die Soldaten auf der anderen Seite des Strands erreichte, versuchte er vergeblich zu begreifen, was er da sah. Soldat Harkon taumelte über den Strand, umringt von anderen Soldaten.
Sein Schatten brannte.
Weiß glühende Flammen fauchten über den Sand, wo immer sein Schatten hinfiel, und Harkon kreischte, als wäre er selbst es, der brannte.
»Laufen Sie ins Wasser! Soldat, springen Sie in den Ozean!«, brüllte Konowa.
Harkon sah ihn an. In seinen Augen flammte der Wahnsinn. Dann riss der Soldat panisch an seiner Uniform. Konowa erkannte, dass er die Sache in die Hand nehmen musste, und stürmte vorwärts.
Soldat Vulhber kam ihm jedoch zuvor; er packte den entsetzten Harkon und rannte mit ihm zum Wasser. Im selben Moment fing sein eigener Schatten ebenfalls Feuer. Er schrie, hielt den Kameraden jedoch fest und lief weiter. Schließlich stürzte er sich mit Harkon in die Fluten. Dampf kochte zischend hoch, aber die Flammen erloschen nicht.
Konowa erreichte sie Momente später, wusste jedoch nicht, was er tun sollte. Er wirbelte herum, suchte Visyna oder seine Mutter oder auch Rallie, aber keine der Frauen war zu sehen.
»Wir brennen immer noch!« Vulhbers Stimme zitterte, als er versuchte, möglichst ruhig zu bleiben. Blutiger Schaum bildete sich auf Harkons Lippen, während er unablässig weiterschrie.
»Major, was sollen wir tun?«, wollte ein Soldat wissen.
Konowa fühlte sich ebenso verloren und ohnmächtig wie damals, als sein Regiment aufgelöst wurde. Nachdem er jetzt erneut das Kommando hatte, würde er das Regiment nicht ein zweites Mal verlieren, und schon gar nicht an etwas, das er nicht verstand.
»Sie!« Er deutete auf einen Soldaten. »Laufen Sie zum Strand, und holen Sie die Frauen! Sofort!« Der Soldat rannte davon. Sein Tschako fiel unbeachtet in den Sand.
»Major.«
Konowa drehte den Kopf. Korporal Arkhorn war neben ihm aufgetaucht und hatte die Hähne seines Schmetterbogens gespannt. Die beiden Männer wechselten einen kurzen Blick, und Konowa nickte. Arkhorn hob die Waffe und zielte auf die beiden Männer im Wasser.
»Wartet!« Soldat Renwar humpelte ans Wasser und hinderte Arkhorn am Schuss. Er ging weiter, bis sein Schatten den der Soldaten überlagerte. Er entzündete sich ebenfalls. Weiß glühende Zungen aus Flammen zischten über die Wasseroberfläche zu seinem. Renwar schloss die Augen und tauchte seine Hände in das Feuer. Ein Stich aus Eis von der schwarzen Eichel hämmerte gegen Konowas Brust und zwang ihn erneut in die Knie. Etliche andere Soldaten taumelten ebenfalls. Die weißen Flammen fauchten und bleckten, wurden vom Frostfeuer bezwungen und erloschen dann zischend.
»Helft ihnen da raus!«, befahl Korporal Arkhorn, während Konowa sich hochrappelte. Vulhber und Renwar verließen mehr oder weniger auf eigenen Füßen das Meer, aber Harkon rührte sich nicht und musste geschleppt werden. Sie legten ihn auf den Sand, richteten sich dann hastig auf und traten zurück. Es sah aus, als würde Soldat Harkon schlafen.
»Er ist tot«, stellte Alwyn fest.
Konowa wollte wegsehen, doch dann blieb sein Blick wie gebannt an dem Mann hängen. Im Licht des Morgengrauens sah es aus, als werfe der Soldat gar keinen Schatten mehr. Konowa verwünschte die Streiche, die seine Augen ihm spielten, und konzentrierte sich wieder auf das, was real war.
»Was für eine Missgeburt ist das denn jetzt schon wieder?«, fragte ein Soldat. Konowa drehte sich herum, um den Sprecher zu identifizieren.
»Wage es ja nicht, uns wieder mit diesem Schöpfer-Retter-Mist zu kommen, Inkermon!« Yimt zeigte mit seinem gespannten Schmetterbogen auf den Soldaten. »Das ist jetzt nicht der richtige Moment.«
Aber Inkermon ließ sich nicht einschüchtern. »Begreift ihr das denn nicht? Das hier ist eine Prüfung, ein Mittel, durch das der Mensch die Rechtschaffenheit seiner Seele bestimmen kann. Die Sterne kehren alle zurück und erwecken das Böse zum Leben, das vor langer Zeit verbannt worden ist. Wir sind in einem magischen, dunklen Netz gefangen und werden von einer verführerischen Macht in Versuchung geführt. Wir haben gesündigt und müssen Buße tun. Büßt und rettet euch selbst.«
»Es ist im Wasser verschwunden, als wir hergekommen sind.« Renwar schüttelte die Hände der Soldaten ab, die ihn stützten, und trat vor Konowa. Inkermon schien noch mehr sagen zu wollen, aber die beiden Läufe von Yimts Armbrust deuteten direkt auf seinen Bauch. »Harkon war der Erste, der hier ankam, und im selben Moment hat sein Schatten Feuer gefangen.«
»Was ist im Wasser verschwunden?«
Renwar schüttelte den Kopf. »Ich habe es nicht erkennen können, aber es war groß. Ich glaube, es hatte sich im Sand eingegraben und war gezwungen zu verschwinden, als wir kamen.« Er deutete auf eine Stelle ein paar Meter entfernt.
Verblüfft bemerkte Konowa, dass er es nicht gesehen hatte. Es war eine große Mulde im Sand, vielleicht sechs Meter lang und über einen Meter breit. Von dort schienen Schleifspuren zum Meer zu führen, aber der Sand war so aufgewühlt, dass Konowa es nicht mit Sicherheit sagen konnte. Hatte er die Präsenz dieses Wesens gespürt, als sie sich der Insel näherten? Konowa wollte sich gerade umdrehen, als er noch andere Löcher im Sand bemerkte. Sie waren kleiner und ausgefranster am Rand, und in ihrer Mitte lagen Aschehaufen. Hier waren Sarka Har – Blutbäume – verbrannt worden, aber nicht von den Stählernen Elfen. Diese Bäume mussten schon vor Tagen verbrannt worden sein. Er streckte eine Hand aus und berührte die Asche. Sie hatte dieselbe Temperatur wie der Sand ringsum. Die Asche eines kürzlich verbrannten Sarka Har wäre immer noch eiskalt.
»Siehst du wieder Gespenster, Renwar?« Die Frage eines anderen Soldaten lenkte Konowas Aufmerksamkeit auf sich. Der Mann hatte ein verschlagenes Gesicht und stand etwas von den anderen Soldaten entfernt.
»Zwitty.« Die Missbilligung in Konowas Stimme war unüberhörbar. Zwittys Wunsch nach Distanz hatte durchaus einen Sinn. Konowa erinnerte sich noch an die sehnsüchtige Gleichgültigkeit, mit der dieser Soldat einen Krieger der Elfkynan in Luuguth Jor getötet hatte.
Zwitty nahm Haltung an. »Jawohl, Sir. Ich habe nur die Tatsache kommentiert, dass der junge Renwar dazu neigt, Dinge zu sehen, die wir anderen nicht sehen können.«
»Das ist ein Haufen Müll, und das weißt du auch ganz genau!«, knurrte Arkhorn. »Ally sieht nichts, was wir anderen nicht sehen könnten. Nur sieht er es ein wenig früher als wir. Es ist wirklich merkwürdig, dass der Junge glaubt, eine Riesenschlange gesehen zu haben, aber wenn er sagt, dass etwas ins Wasser gekrochen ist, habe ich für meinen Teil nicht vor, später dort herumzuschwimmen.«
Die Soldaten traten wie ein Mann ein paar Schritte von der Wasserlinie weg. Konowa hatte es sich zur Gewohnheit gemacht, den Stählernen Elfen nach jedem Angriff auf eine Insel ein bisschen Zeit zur Entspannung zu gewähren, und darin waren ein Bad im Meer und anschließendes Kochen am Strand eingeschlossen. Heute Abend würde mit dieser Tradition sicherlich gebrochen werden.
»Ich habe fünf ihrer Elfen auf der Insel gespürt.« Konowa wechselte nachdrücklich das Thema.
»Und ich habe fünf Elfen gezählt, die wieder zu ihr zurückgekehrt sind«, antwortete Arkhorn. »Die Goldmünzen des Prinzen werden schimmeln, bevor wir einen dieser Dreckskerle finden, der bereit ist, mit uns zu plaudern.«
Beim Gedanken an den Prinzen von Calahr meldete sich ein stechender Schmerz hinter Konowas Augen. Er würde erneut und zum x-ten Mal erklären müssen, warum es den Stählernen Elfen nicht gelungen war, einen ihrer Dunkelelfen lebendig zu fangen. Doch sie würden genug von diesen Elfen auf ihrem Berg finden, sobald sie dort ankamen, und dann konnte der Prinz nach Herzenslust mit ihnen plaudern, jedenfalls so lange, wie er nicht von ihnen zerrissen wurde.
Mit beidem wäre Konowa zufrieden.
»Wir rücken ab und gehen zu den Booten. Und zwar sofort. Nehmt den Leichnam des Soldaten mit«, sagte Konowa, obwohl er wusste, dass die Soldaten den Drill kannten. Seine Männer standen jedoch da, vollkommen gelähmt von dem Schock über das, was sie soeben gesehen hatten.
»Kester, Herr Major«, sagte Musketier Renwar. »Sein Name war Kester Harkon.«
Konowa biss sich auf die Zunge, um eine scharfe Antwort zu unterdrücken. Was denn, glaubten sie etwa, es wäre ihm gleichgültig?
Eine hohe, durchdringende Stimme drang schneidend an Konowas Ohr.
»Mit Verlaub, Herr Major, aber was war das? Was konnte sie so verbrennen?«, wollte Zwitty wissen.
Konowa musterte die Gesichter seiner Leute. Sie konnten ihn kaum noch mehr verabscheuen. »Ich weiß es nicht. Was auch immer es war, jetzt ist es verschwunden, und wir folgen seinem Beispiel. Korporal, lassen Sie die Männer abrücken. Sofort.«
Während Arkhorn Befehle bellte, trat Konowa dichter zu der Stelle, an der Renwar … etwas gesehen hatte. Fragen häuften sich auf Fragen.
Konowa starrte eine Zeitlang in den Sand, aber er erhielt keine Antwort. Nur seine üble Vorahnung verstärkte sich. Er drehte sich herum und folgte seinen Leuten zu den Booten zurück.
Weit draußen auf dem Meer glitt ein dunkler Schatten dicht unter der Wasseroberfläche dahin. Er hob lautlos und ohne auch nur eine einzige Welle zu schlagen den Kopf gerade so weit aus den Fluten, dass er einen Blick auf Konowas Rücken werfen konnte, als der Elf davonging. Die Kreatur blinzelte nicht einmal, als sie wieder ins Wasser sank und im nächsten Moment verschwunden war.