21
»DAS BRENNT.« SCOLLY rieb sich den Arm.
»Dann hör auf, es noch zu verschlimmern, und sprich gefälligst leise«, knurrte Yimt und rieb sich ebenfalls den Oberarm.
Sie standen zwischen den Weidenkörben des Zwerges in der Gasse und warteten auf Hrem, der sich einen Moment später durch die Öffnung des Geheimgangs hinter dem großen Weidenkorb zwängte und sich seinen Tschako auf den Kopf stülpte.
Alwyn beugte seinen Oberarm und stellte fest, dass die Tätowierung auf dem Bizeps ihn überhaupt nicht beeinträchtigte. Es war seine erste. Er hatte sich immer ausgemalt, dass er sich, wenn er jemals den Mut für eine Tätowierung aufbringen würde, für etwas Männliches entscheiden würde, wie ein Schwert oder den Namen einer besonderen Frau oder vielleicht sogar diese gekreuzten Musketen, die Griz erwähnt hatte. Aber eine schwarze Eichel war ihm niemals in den Sinn gekommen.
»Was glaubst du, Korporal? Könnten wir noch für eine Weile zum Blauen Skorpion zurückkehren?«, erkundigte sich Teeter.
Yimt blieb einen Moment stehen, als müsste er darüber scharf nachdenken. Dann schlug er gegen den Schaft seines Schmetterbogens. »Ich sage es euch nicht gern, aber wir müssen zum Lager zurückkehren und den Major über das informieren, was hier vorgeht«, erwiderte Yimt.
Teeter scharrte mürrisch im Staub und sah Yimt flehentlich an. »So viel wissen wir doch eigentlich gar nicht, stimmt’s?«
»Aber es hilft nichts, wir müssen Meldung erstatten.« Yimt sah die Soldaten seines Zuges an, als wartete er auf weitere Einwände.
Es überraschte Alwyn nicht sonderlich, dass die Männer stumm blieben. Keiner von ihnen hatte große Lust, in die Wüste zu marschieren, doch je schneller sie dorthin kamen, desto früher fanden sie vielleicht einen Weg, den Schwur zu lösen. Alwyn schüttelte sein Holzbein, was ihm einen schmerzhaften Stich einbrachte. Die Wirkung der Getränke und des Tabaks ließ nach, ebenso die Hochstimmung, die er bei Nafeesah empfunden hatte. Erneut würden sie ins Ungewisse aufbrechen und gegen Kräfte kämpfen müssen, die versuchen würden, sie umzubringen, oder gar Schlimmeres. Er sah sich in der dunklen Gasse um und packte seine Muskete etwas fester. Alwyn versuchte sich an eine Zeit zu erinnern, als er noch nicht gewusst hatte, dass es etwas Schlimmeres gab als den Tod.
»Sagtest du nicht, es würde hier nachts kalt werden?« Zwitty öffnete beiläufig die Deckel einiger Weidenkörbe und warf einen neugierigen Blick hinein. »Ich finde es ganz angenehm so.«
»Erst einmal bist du viel zu betrunken, um den Wind zu spüren.« Yimt trat zu dem Soldaten und schlug ihm mit dem Schmetterbogen einen Deckel aus der Hand. »Außerdem sind wir in einer Stadt an der Küste. Warte, bis wir die offene Wüste erreicht haben. Dann wirst du schon sehen, ob du die Nacht immer noch für warm hältst.«
»Wie spät ist es?« Teeter blickte zum Himmel hinauf.
»Mitternacht, vielleicht ein bisschen später«, antwortete Hrem. »Korporal, hast du eine Taschenuhr?«
Yimt lachte. »Sehe ich aus, als hätte ich einen Goldbarren unter meinem Kilt? Diese Apparate kosten eine Menge Geld. Außerdem brauche ich keine, die mir sagt, wie spät es ist.« Er sah ebenfalls zum Himmel hoch. »Denn es ist spät.«
»Sehr hilfreich«, meinte Inkermon, lehnte sich schwankend an einen Weidenkorb und sah ebenfalls zum Himmel hoch.
»Warum seht ihr alle nach oben?«, wollte Scolly wissen.
Alwyn blickte hinauf. »Der Himmel sieht ein bisschen blau aus, findet ihr nicht? Und er fühlt sich auch anders an.«
»Wie anders?« Yimt drohte Zwitty mit dem Finger und ging dann zu Alwyn.
»Ich weiß nicht genau, aber er fühlt sich nicht mehr so an wie vorhin, bevor wir in den Tunnel gegangen sind«, erwiderte Alwyn. Ein diffuses Unbehagen durchströmte ihn. »Du glaubst doch nicht, dass es der Stern ist, oder? Ich kann es nicht erklären, aber etwas ist anders. Du hast recht, ich glaube, wir müssen ins Lager zurückgehen.«
Inkermon stieß sich von dem Weidenkorb ab und trat in die Gasse. »Das spielt keine Rolle. Ihr wisst doch, was das bedeutet, habe ich recht?« Er hatte seine Uniformjacke ausgezogen und den Ärmel seines Unterhemds hochgerollt, während er behutsam mit dem Finger über die Umrisse der Eichel strich. »Das bedeutet, dass wir wirklich von ihr gezeichnet sind. Unsere Seelen sind verloren. Das fühlt ihr doch. Unsere Seelen sind dem Untergang geweiht …« Er rang nach Luft und begann zu schluchzen.
Yimt ging zu ihm und legte ihm eine Hand auf die Schulter. Mit der anderen Hand schlug er auf Inkermons neue Tätowierung. Inkermon hörte auf zu weinen und schrie auf.
»Sei gefälligst leise, du Trunkenbold, oder soll halb Nazalla hören, dass du wie ein Baby jammerst?«
Inkermon verstummte. Alwyn erwartete eine wütende Erwiderung, aber der ehemalige Bauer ging einfach nur zu einer Mauer, rutschte mit dem Rücken daran herunter und legte den Kopf auf die Knie.
Yimt nahm seinen Tschako ab, kratzte ein paarmal seinen Kopf und setzte den Helm wieder auf. »Hört zu, unsere Seelen sind völlig in Ordnung«, meinte er dann. »Wir haben uns diese Tätowierungen freiwillig machen lassen. Gut, ich gebe zu, es ist etwas unheimlich, dass diese Eichelmarkierung bereits dort war, aber so ist es eben mit der Magie. Wir sind schließlich durch einen Schwur gebunden. Es wäre eine viel größere Überraschung gewesen, wenn diese magische Feder des Zwergs einen Welpen oder ein Bouquet blutiger Blumen zutage gefördert hätte, oder etwa nicht? Und vergessen wir nicht, dass wir einige Veränderungen daran vorgenommen haben. Ich glaube nicht, dass die Schattenherrscherin diese Veränderungen schätzen würde.«
Alwyn betrachtete Inkermons nackten Arm genauer. Es war tatsächlich sehr unwahrscheinlich, dass die Schattenherrscherin begeistert wäre, wenn sie sehen würde, dass ein Bajonett mitten in der Eichel steckte und darüber die Worte: Aeri Mekah – »In das Feuer« – sowie darunter: »Und geradewegs der Hölle entstiegen!« eintätowiert waren.
Yimt deutete zum Himmel und schnippte mit den Fingern, um die Aufmerksamkeit seiner Leute auf sich zu ziehen. »Was ich sagen will: Lasst euch niemals davon beherrschen. Weder von dem Schwur noch vom Nachleben oder von beidem. Wir waren schon oft genug in der Klemme und sind wieder herausgekommen. Wir werden auch einen Weg finden, das hier zu überstehen.«
»Aber was fühlt Ally dann?«, erkundigte sich Zwitty. »Wir wissen schließlich alle, dass irgendetwas vor sich geht, wenn er unruhig wird.«
Yimt zuckte mit den Schultern. »Vielleicht braut sich ja ein großer Sandsturm zusammen. Es gibt hier Stürme, die absolute Monster sind. Der Wind ist stark genug, um euch das Fleisch von den Knochen zu reißen.«
»Entzückend«, meinte Hrem. »Mein Bedarf an den Wonnen von Nazalla ist jedenfalls ziemlich gedeckt. Wenn wir zum Lager zurückmüssen, dann sollten wir allmählich losgehen. Je länger wir hier herumstehen, desto wahrscheinlicher ist es, dass wir Ärger anziehen. Wenn wir schon in die Wüste müssen, dann könnten wir vorher wenigstens noch ein paar Stunden schlafen.«
»Hier spricht ein Mann, der noch einen klaren Kopf hat«, sagte Yimt. »Also gut, Hrem, hilf Inkermon hoch. Dann machen wir uns auf den Weg und setzen noch ein paar Räder der Geschichte in Bewegung.«
»Ich höre etwas.« Scolly nahm seine Muskete von der Schulter und deutete auf das andere Ende der Gasse.
Alwyn drehte den Kopf in die Richtung und lauschte. »Es klingt wie eine Kutsche. Und sie fährt verdammt schnell.«
Yimt hob seinen Schmetterbogen und spannte die Hähne. »Das klingt nicht normal, jedenfalls nicht um diese nächtliche Stunde. Wacht auf, werdet nüchtern, aber bleibt ruhig. Folgt mir, und seid bereit.«
»Bereit wofür?«, wollte Alwyn wissen und wischte sich die feuchte Handfläche an seinem Kilt ab.
»Für alles«, gab Yimt zurück, als er zum Ende der Gasse ging.
Sein Zug folgte dicht hinter ihm. Ohne stehen zu bleiben trat Yimt mitten auf die Straße hinaus. Alwyn erkannte augenblicklich Mistress Synjyns Brindos und entspannte sich. »Was für eine Erleichterung, Korporal.«
Yimt senkte seinen Schmetterbogen und seufzte. »Irgendwie glaube ich, Ally, dass es das nicht ist.« Er winkte Mistress Synjyn zu. Die Räder des Planwagens knirschten auf den Pflastersteinen, als die Brindos zum Stehen kamen. Eine Staubwolke hüllte die Soldaten ein. Alwyn wandte den Kopf ab und hustete. Als er wieder hinsah, waren Mistress Tekoy und Mistress Rote Eule bereits vom Wagen gesprungen.
»Alwyn vom Imperium, was tust du um diese Zeit hier? Das ist kein angemessenes Verhalten, junger Mann. Du musst dein Bein ausruhen, wenn es eine Chance haben soll, richtig anzuwachsen«, tadelte ihn Mistress Rote Eule.
Leises Gelächter hallte von den umliegenden Gebäuden hinter Alwyn, aber er wollte sich nicht umdrehen und herausfinden, wer da lachte. Er spürte, wie er rot anlief. Ich bin kein Kind mehr, dachte er. »Mir geht es gut«, erklärte er nachdrücklich. Er sah die überraschten Mienen auf den Gesichtern um ihn herum, aber er konnte sich nicht zurückhalten. »Genau genommen habe ich herausgefunden, was Kester auf dieser letzten Insel angegriffen hat. Ich habe uns eine Karte von der Wüste besorgt, und ich habe eine Ahnung, wo wir den Angreifer finden können. Ich weiß vielleicht nicht, was für einen jungen Mann angemessen ist, aber dafür weiß ich, was für einen Stählernen Elfen angebracht ist.«
Eine Weile herrschte Schweigen. Schließlich hustete Rallie und beugte sich über die Seite des Kutschbocks. »Darf ich sie sehen?« Sie streckte die Hand aus. »Ich meine die Karte, die Sie so eindrucksvoll besorgt haben.«
Yimt sah Alwyn an und richtete den Blick dann auf Rallie. »Noch bin ich hier der Korporal«, erklärte er, während er die Landkarte aus seiner Jacke zog und sie ihr gab. »Du bist wohl ein bisschen hastig aufgebrochen, stimmt’s? Hast du ein bestimmtes Ziel, oder führst du nur die Brindos ein bisschen Gassi?«
Rallie zog an ihrer Zigarre, bis das Ende rot aufglühte, und ignorierte Yimts Frage. Dann beugte sie sich über die Karte und studierte sie im Schein der Glut. »Sag mir, Korporal, wie bist du … Verzeihung, wie ist Soldat Renwar an diese Karte gekommen?«
Yimt warf erneut einen Blick auf Alwyn, bevor er Rallie antwortete. »Wir haben einen Zwerg getroffen, und zwar einen der vierunddreißig Überlebenden von Frilliks Drift. Als er erfuhr, dass wir in die Wüste wollten, hat er das hier ausgegraben. Ich würde sagen, das war verdammt nett von ihm.«
Rallie betrachtete weiter die Karte. »Tatsächlich? Was macht er denn hier?«
»Er ist aus dem aktiven Dienst ausgeschieden«, erklärte Yimt. »Vermutlich ist er wegen der Wärme hierhergekommen. In den Bergen ist es im Winter sehr kalt.«
»Das stimmt«, antwortete Rallie. »Nun, das hier war tatsächlich sehr nett von ihm. Diese Karte ist weit genauer als jede Karte von den Südlichen Einöden, die der Prinz zur Verfügung hat. Ich vermute, dass dieser Zwerg wohl auch so eine Art Forscher ist.«
»Griz? Nein. Er handelt mit Weidenkörben auf dem Markt. Wahrscheinlich treibt er nebenbei auch noch ein bisschen Schwarzhandel, wenn ich das richtig gesehen habe, aber er ist so zuverlässig wie eine Tonne Blei«, meinte Yimt.
Rallie richtete sich auf und nahm die Zigarre aus dem Mund. »Griz Jahrfel?«
Yimt nickte. »Aye, genau der«, sagte er gedehnt. »Du kennst ihn?«
Alwyn überlegte, ob in Yimts Stimme eine Spur von Eifersucht mitgeklungen hatte. Bis jetzt war er der einzige Zwerg in Rallies Leben gewesen, abgesehen von ihrem Herausgeber in Celwyn, aber davon wusste Yimt nichts.
»Ich muss vor etlichen Jahren und mehrere Ozeane von hier entfernt einmal irgendwo auf ihn gestoßen sein«, erwiderte sie. Etwas hastig, fand Alwyn. »Jedenfalls scheinen wir beide in dieselbe Richtung zu wollen, hiernach zu urteilen jedenfalls. Ich kann mir nicht vorstellen, dass das ein Zufall ist.«
»Dahin wollt ihr also? In die Wüste, nur ihr drei?«, erkundigte sich Yimt.
»Korporal. Die Ereignisse überschlagen sich wieder. Tyul und Jurwan haben irgendwann heute Abend das Schiff verlassen und verfolgen jemanden oder etwas in die Wüste.« Bevor sie weitersprach, warf sie einen kurzen Blick in den Himmel. »Da außerdem die Rückkehr eines Sterns unmittelbar bevorsteht, hat das natürlich unsere Neugier angestachelt. Noch bemerkenswerter ist jedoch, dass alle Pfade offensichtlich geradewegs hierhin führen.« Sie deutete mit dem Finger auf ein Gebiet, das südwestlich von Suhundams Hügel lag. Alwyn spähte über Yimts Schulter, um besser sehen zu können.
»Die Knochenschlucht. Wahrhaft entzückend«, erklärte Yimt. »Vermutlich ein Aussichtspunkt mit Picknickmöglichkeit. Ich bin sicher, dass dort nichts Unerfreuliches oder etwas auch nur annähernd Entsetzliches passiert ist.«
Alwyn sah zu Scolly hinüber und wartete auf die unausweichliche Frage nach einem Picknick. Aber Scolly kratzte nur die Stelle auf seinem Oberarm, ohne etwas zu sagen. Möglicherweise hatte sogar Scolly mitbekommen, dass Yimts Bemerkung sarkastisch gemeint war. Hören die Wunder denn niemals auf?, fragte sich Alwyn.
Die anderen Soldaten drängten sich um sie. »Das gefällt mir überhaupt nicht«, sagte Teeter. »Wer nennt denn eine Schlucht so? Warum sagen sie nicht einfach ›Verdammt schrecklicher Ort, an dem Monster leben‹?«
»Keiner hat etwas von Monstern gesagt«, erwiderte Yimt.
»Das ist auch nicht nötig, denn sie scheinen heutzutage ohnehin unangekündigt aufzutauchen«, konterte Teeter.
»Umso mehr Grund, die Augen aufzuhalten«, sagte Yimt und scheuchte sie alle von dem Planwagen weg. Alwyn wollte ebenfalls gehen, aber Yimt bedeutete ihm zu bleiben. Im Fenster eines Hauses an der Straße flackerte ein Licht auf. »Versteht ihr, was ich meine? Verteilt euch, und passt auf.« Yimt sprang auf den Wagen, um die Karte genauer zu studieren, streckte dann eine Hand aus und half Alwyn ebenfalls hinauf. »Teeter hatte nicht ganz unrecht. Die Lage wird wirklich ein bisschen speziell. Ally hat vorhin etwas gespürt, und ehrlich gesagt glaube ich, ich habe auch etwas gemerkt.« Er warf einen Blick zum Himmel. »Das blaue Licht da oben hat etwas zu bedeuten, richtig?«
Rallie legte den Kopf schief. »Interessant. Wir drei haben es ebenfalls gespürt. Ich würde vermuten, dass es nicht mehr allzu lange dauert, bis der größte Teil von Nazalla es bemerkt hat. Es kehrt tatsächlich ein weiterer Stern zurück.«
Yimt stieß einen leisen Pfiff aus. »Also geht es wieder von vorne los. Gut, ich benachrichtige das Regiment, und die anderen bleiben hier bei euch, bis sie kommen. Dann marschieren wir los.«
Rallie schüttelte bereits den Kopf, bevor er zu Ende gesprochen hatte. »Nein. Wir haben keine Zeit zu verlieren. Der Stern kommt jetzt zurück. Wir müssen sofort dorthin. Das Regiment muss nachkommen, so schnell es kann.«
Jetzt schüttelte Yimt seinen Kopf. »Oh nein. Ich lasse dich nicht allein dorthin fahren, das ist viel zu gefährlich. Wir alle haben gesehen, was passiert, wenn ein Stern zurückkehrt.«
Alwyn wurde von einer Bewegung auf der Straße hinter dem Planwagen abgelenkt. Immer mehr Lichter leuchteten in Fenstern auf, und mittlerweile waren etliche Leute auf die Straße gekommen. Einige standen sogar auf den Dächern ihrer Häuser, und sie alle blickten in den Himmel.
»Wir haben Gesellschaft bekommen«, sagte Alwyn und zupfte an Yimts Ärmel.
Der Zwerg stieß einen leisen Fluch aus und sah Rallie an. »Du lebst und atmest doch dieses politische Zeug – was wird hier gleich passieren?«
Rallie warf einen Blick über die Schulter. »Ganz einfach. Das Imperium ist mit einer gewaltigen Streitmacht aufgetaucht, und in derselben Nacht kehrt das Juwel der Wüste zurück, der Leitstern der Südlichen Einöden. Wer würde das nicht als eine Verwerfung der Imperialen Absichten interpretieren?«
Das Wort »Verwerfung« war neu für Alwyn, aber er verstand seine Bedeutung. »Die Menschen werden sich aufregen, stimmt’s?«
Rallie lächelte traurig. »Veränderungen gehen niemals reibungslos vonstatten. Einige werden außer sich vor Freude sein, die meisten jedoch werden Angst haben, sich dann aufregen und schließlich wütend werden. Sie haben gesehen, wie es in Elfkyna war. Diesmal wird es noch schlimmer werden. Die Welt, wie die Menschen sie kannten, verändert sich unter ihren Füßen und über ihren Köpfen. Wäre es nur eine einfache Sache wie die, dass das Imperium seine Bürger vor einer uralten Macht wie der von Kaman Rhal oder der Schattenherrscherin schützt, dann blieben die Verhältnisse mehr oder weniger stabil… aber die Rückkehr der Sterne verändert alles.«
»Wieso besitzen sie eine solche Macht?«, erkundigte sich Alwyn. Für ihn war die Macht der Magie vergleichbar mit der Macht einer Kanone. »Wie können sie den Verstand der Leute so stark beeinflussen?«
Rallie nahm die Zigarre aus dem Mund und wedelte damit durch die Luft. »Das tun sie nicht, jedenfalls nicht direkt. Das, was die Sterne repräsentieren, ist so mächtig. Denken Sie an die Uniform, die Sie tragen. Darunter sind Sie ein Mann wie jeder andere, jedenfalls gilt das für die meisten Menschen. Aber wenn Sie eine Uniform tragen, verwandeln Sie sich in die glänzende, scharfe Spitze eines sehr langen Bajonetts, das jemand weit entfernt in Calahr schwenkt. Und Sie waren seit vielen hundert Jahren diese Spitze eines Bajonetts, das an die Gurgel vieler Völker gehalten wurde. Jetzt kehrt ein Stern zurück, und zwar einer, dem Sie, als Symbol des Imperiums, nur wenig Respekt erwiesen haben. Dieser Stern verspricht viele Möglichkeiten.«
»Das ist ja alles schön und gut«, sagte Yimt, »aber ich lasse dich trotzdem nicht alleine da hinausfahren.«
»Ich fürchte, wir könnten nicht einmal zurückfahren, wenn wir es wollten«, mischte sich Mistress Rote Eule ein. Ein Schein wie von künstlichem Tageslicht legte sich über Nazalla, als jetzt Tausende von Menschen gleichzeitig Laternen entzündeten und auf die Straße kamen. Von weit her hörte man laute Stimmen, und Alwyn versuchte zu verstehen, was sie sagten.
»Ich verstehe die Sprache nicht, aber es klingt wirklich nicht sonderlich beruhigend«, erklärte er. Die Stimmen klangen wütend, ein Gefühl, das er nur zu gut kannte, und sie wurden immer lauter. Die Menschen von Nazalla würden offenbar nicht zulassen, dass das Imperium ihren Stern stahl.
»Ich verstehe sie«, meinte Rallie, »und Sie haben recht, es klingt nicht gut.«
»Also gut, machen wir uns auf den Weg. Schafft eure Hintern auf den Wagen, sofort«, befahl Yimt. »Wir brechen auf.«
Mittlerweile hatte eine kleine Gruppe von Menschen etwa zwanzig Meter vor dem Wagen eine Kette auf der Straße gebildet. Sie redeten leise miteinander, während sie die Soldaten argwöhnisch beobachteten. Alwyn sah zwar keine Waffen in ihren Händen, aber es war sehr gut möglich, dass sie sie in ihren weiten Roben versteckt hatten. Während sie warteten, wurde die Gruppe immer größer und ihr Gemurmel lauter. Je mehr ihre Zahl wuchs, desto größer wurde auch ihr Mut. Das konnte nicht gut enden. Schon bald würde die Straße von Menschen so verstopft sein, dass sie mit dem Wagen gar nicht mehr hindurch kamen.
»Hört zu«, sagte Yimt. »Kommt ja nicht auf die dumme Idee, einen Schuss abzufeuern. Sie sind noch nicht so weit, das Imperium offen anzugreifen … noch nicht. Versuchen wir, vorsichtig wieder zu verschwinden, ohne ihnen einen Vorwand dafür zu geben. Bleibt ruhig, schreit nicht herum, und macht keine plötzlichen Bewegungen, und bei allem, was euch heilig ist, kein Frostfeuer!«
Inkermon wollte sein Bajonett herausziehen, aber Yimt bedeutete ihm, es zu lassen. »Keine Bajonette. Wenn wir aus Versehen jemanden erstechen, wird uns das nicht gerade nützlich sein. Im Moment sind wir einer gegen drei, also lasst uns einen klaren Kopf behalten, dann kommen wir hier unbehelligt heraus.«
»Ihr dürft uns unseren Stern nicht wegnehmen!«
Alwyn versuchte herauszufinden, wer das gerufen hatte, aber es war unmöglich. Er sah nur, dass viele Leute nickten. Etliche hoben ihre Fäuste. Es fühlte sich an wie der erste Tropfen vor einem Regenguss. Die Luft summte vor Energie. Jeden Moment konnte ein Sturm losbrechen.
»Verschwindet zurück nach Calahr, und lasst uns in Ruhe!«
»Das können wir nicht. Wir müssen in die Wüste, um …«
Yimt schlug Scolly auf den Rücken. »Hast du nicht gehört, was ich gesagt habe?«, zischte er. »Wir versuchen, einen Aufstand zu verhindern!«
»Es stimmt also doch!«, schrie jemand. »Sie sind hier, um uns den Stern wegzunehmen! Wir müssen sie aufhalten!«
»Es wird Zeit zu verschwinden«, stellte Rallie fest. »Ich würde vorschlagen, dass ihr euch gut festhaltet. Visyna, bist du so gut und machst uns ein bisschen Licht?«
Die Stimmen um sie herum wurden lauter, während die Anzahl der Leute wuchs. Bis jetzt war noch kein Stein geflogen, aber Alwyn sah viele geballte Fäuste. Die Wut eines ganzen Volkes kochte in Nazalla über, und sie befanden sich mittendrin.
Visyna kletterte auf den Planwagen und stellte sich auf die mit Leinwand bedeckten Käfige, wo sie begann, mit den Händen Muster in die Luft zu zeichnen. »Ich halte Sie fest«, erklärte Alwyn, während er zu ihr nach hinten kletterte.
»Danke, Alwyn, aber das geht nicht. Die Macht in Ihnen ist … sie verträgt sich nicht mit meiner. Chayii wird mich stützen.« Alwyn wollte widersprechen, doch er begriff, dass sie recht hatte. Er bezweifelte, dass sich irgendetwas in der Welt mit der Macht vertrug, über die die Stählernen Elfen jetzt verfügten. Er setzte sich auf den Wagen und richtete seine Muskete nach vorne.
Das Gemurmel der Menge wurde immer lauter, vereinzelt hörte man Schreie. Die Leute forderten nicht mehr einfach nur, dass sie nach Hause gingen. Alwyn sah, wie mehr als nur ein Mann mit seinem Finger über seine Gurgel fuhr und dann auf ihn deutete. Die Bedeutung dieser Geste war unmissverständlich.
Ein blendendes, weißes Licht flammte plötzlich ein paar hundert Meter weiter entfernt im Westen auf. Es schwebte etwa dreißig Meter über dem Boden und war so hell, dass man nicht hineinblicken konnte. Jubelnde Schreie brandeten aus der Menge auf: »Der Stern, das Juwel der Wüste!« Im nächsten Moment drehten sich die Bürger von Nazalla um und rannten wie von Sinnen darauf zu.
»Das ist mein Stichwort«, erklärte Rallie und klatschte mit den Zügeln. Der Wagen zog an, als die Brindos reagierten. Zwar versperrten immer noch Leute die Straße vor ihnen, aber ihre Aufmerksamkeit war jetzt auf den »Stern« gerichtet. Der Wagen mit den furchteinflößend aussehenden Zugtieren war nur insofern interessant, als sie sich bemühten, ihm aus dem Weg zu gehen.
Rallie trieb die Brindos unaufhörlich an, während sie durch die schmalen Straßen von Nazalla donnerten. Der Wind auf Alwyns Gesicht fühlte sich wundervoll an, aber es fiel ihm schwer, das Gefühl zu genießen, weil er vollauf damit beschäftigt war, den Tschako auf seinem Kopf und sich selbst auf dem Wagen zu halten, als dieser schwankend über die Pflastersteine polterte.
»Ich kann es nicht mehr länger aufrechterhalten!«, schrie Visyna.
Alwyn drehte sich um und blickte zu ihr hoch. Sie wob immer noch Muster in die Luft, aber jedes Mal, wenn der Wagen schwankte, erschütterte er das Muster, und der »Stern«, den sie geschaffen hatte, flackerte. Das drohende Gemurmel der Menge auf den Straßen ließ ahnen, dass die Leute ebenfalls allmählich Zweifel bekamen.
»Nur noch eine kleine Weile!«, schrie Rallie und klatschte erneut mit den Zügeln. Die Brindos fielen in einen vollen Galopp.
Alwyn gab den Versuch auf, so zu tun, als würde er die Gegend im Auge behalten, und klammerte sich einfach nur aus Leibeskräften an der Leinwand fest. Gebäude und Gruppen von Menschen zuckten verschwommen an ihm vorbei. Das Licht von Visynas »Stern« flackerte und erlosch. Im selben Moment brüllte die Menge auf.
Die Blicke der Leute richteten sich zielstrebig auf den Wagen und seine Passagiere. Plötzlich lösten sich die angestaute Wut und der Widerwille eines Volkes, das von einem fremden Herrscher regiert wurde, wie ein Gesteinsbrocken, der lange am Rand einer Felswand balanciert war.
Immer mehr Stimmen meldeten sich zu Wort, und die Wut wuchs. Dieses Land gehöre dem Volk, das darin lebt, nicht den Fremden von jenseits des Meeres, schrien sie. Die Soldaten auf dem Wagen waren die Speerspitze und die Macht hinter der beleidigenden und drohenden Proklamation des Prinzen. Wenn sie den Prinzen nicht angreifen konnten, würden sie sich zumindest an seinen Soldaten rächen, die sich in ihre Mitte gewagt hatten.
Ein Ziegelstein, vielleicht war es auch ein Pflasterstein, prallte von der Seite des Planwagens ab. Die Sreex kreischten und schrien, und Jir grollte drohend. Alwyn hob vorsichtig den Kopf und sah, wie die Leute auf sie deuteten. Im Licht der Laternen, die etliche Bewohner Nazallas bei sich trugen, sah er, wie andere hinter ihnen Pflastersteine aus der Straße rissen.
»Noch sind wir nicht durch!«, schrie Rallie und trieb die Brindos weiter an. »Wir brauchen unbedingt eine Ablenkung, damit wir es schaffen.«
»Ally, kannst du irgendetwas tun?« Yimt deutete nach vorn, wo eine weitere Menschenansammlung ihnen den Weg verstellte. Dahinter konnte Alwyn die offene Wüste sehen.
»Was denn?«, erkundigte sich Alwyn. »Ich will niemanden verletzen!«
»Mach es wie Mistress Tekoy, und biete ihnen ein Lichtspiel!«
Alwyn schüttelte den Kopf, als ihm klar wurde, dass Yimt ihn gar nicht sehen konnte. »Ich habe die Magie noch nie so benutzt. Ich weiß nicht, wie das geht!«
Immer mehr Menschen rotteten sich zusammen, um ihnen den Fluchtweg abzuschneiden. Dann prallte eine brennende Fackel von der Seite des Planwagens ab. Ihre Funken sprühten über die Menschenmenge. Einige Leute schrien. Vor ihnen waren andere dabei, einen Karren quer über die Straße zu ziehen. Wenn sie es schafften, ihn richtig zu platzieren, kamen die Brindos nicht mehr an ihm vorbei.
»Niemand von uns kann die Magie so beherrschen wie du. Du hast gesehen, was mit Zwitty passiert ist. Unternimm etwas, sonst müssen wir schießen!«, schrie Yimt.
Alwyn sah, wie Yimt seinen Schmetterbogen anlegte, als der Planwagen über einen zerbrochenen Topf in der Mitte der Straße holperte und gefährlich schwankte. Die Mauer eines Gebäudes neigte sich Alwyn entgegen und wich dann wieder zurück.
»Okay, ich versuche es!«, schrie er und ließ sich auf Hände und Knie sinken. Hrem streckte eine Hand aus und hielt ihn fest. »Danke.« Alwyn richtete sich auf und streckte die Hände vor sich aus. Frostfeuer flammte in seinen Handflächen auf, aber er wusste bereits, dass er es nicht schleudern konnte.
Dann erinnerte er sich an Nafeesahs Gemach.
Meri, ich brauche deine Hilfe!, rief Alwyn.
Die Schatten der Toten erschienen sofort; sie glitten als Schattenspiele über die Mauern der Gebäude und hielten mit dem Planwagen Schritt, als dieser auf die Menschenmenge zuraste. Alwyn konzentrierte sich auf die Macht. Der Atem der Brindos warf weiße Wolken, und Frost funkelte überall dort, wo ihre Hufe den Boden berührten. Im Inneren des Wagens brüllte Jir, und die Sreex kreischten vor Entsetzen. Mistress Tekoy und Mistress Rote Eule schrien ebenfalls auf, aber Alwyn konnte nicht mehr aufhören.
Schwarzes Eis zuckte von den Wagenrädern auf die Straße und bereitete sich auf den Wänden der Gebäude aus, an denen sie vorbeifuhren. Alwyn erschauerte und deutete nach vorn. Die Schatten zuckten vor den Wagen und bildeten eine Reihe vor der Menge, die ihren Weg blockierte. Schwerter, die von eisigen Flammen umhüllt waren, wurden zum Angriff gezückt. Dann setzten sich die Schatten in Bewegung.
Die ersten Leute aus der Menschenmenge schrien auf und liefen weg. Diejenigen, die den Karren zogen, gaben ihren Versuch auf und verschwanden ebenfalls. Einige wenige jedoch wollten nicht weichen.
Nein!
Die Schwerter der Toten hackten in die Menge und schlugen jeden nieder, der ihnen in die Quere kam. Frostfeuer loderte in der Luft, bis ein Wall aus schimmernden schwarzen Flammen sich über die gesamte Straße erstreckte.
Die Brindos kreischten, als sie die Phalanx der Schatten und Flammen erreichten und sie durchbrachen. Der ganze Planwagen ächzte und quietschte, als würden tausend Nägel über eine Tafel kratzen. Alwyns Brille überzog sich mit Eis, und seine Lungen brannten vor Kälte.
Die Schatten explodierten, als wären Alwyn und seine Gefährten durch einen schwarzen Spiegel gefahren.
Er wurde nach hinten geschleudert und wäre vom Wagen gefallen, hätte Hrem ihn nicht festgehalten.
Der Planwagen fuhr weiter. Alwyn konnte nur erkennen, dass sie die Menge hinter sich gelassen hatten; und es waren auch keine Gebäude mehr neben ihnen.
Sie hatten es geschafft, aber um welchen Preis?