26
Der Treppenaufgang mündete auf ein Parkdeck. Meine Kidnapper zogen vorsorglich ihre Kapuzen vom Kopf, bevor sie es betraten. Aber so früh am Morgen hielt sich ohnehin keine Menschenseele dort auf. Ich überlegte, ob ich um Hilfe schreien sollte, doch Andrew zerrte mich in Richtung eines schwarzen Geländewagens, der nur ein paar Meter entfernt stand. Selbst wenn mich jemand hören sollte -was an sich schon unwahrscheinlich war –, war er längst mit mir davongebraust, bevor Hilfe eintreffen konnte.
Andrew schob mich auf den Rücksitz und klemmte mich zwischen sich und einem seiner Gehilfen ein. Er nahm ihm den Taser ab, richtete das Gerät auf mich und lächelte freundlich.
»Nur für den Fall, dass Lugh auf dumme Gedanken kommt«, sagte er.
Ich versuchte, mir nicht auszumalen, was sie mit mir vorhatten. Und ich wollte mir auch nicht vorstellen, wie es Brian, Adam und Dominic wohl gerade erging. Das Überfallkommando hatte sie zwar am Leben gelassen, aber sie befanden sich nach wie vor auf feindlichem Territorium.
Eine Träne lief über meine Wange, und ich konnte sie nicht einmal wegwischen. Ich biss die Zähne zusammen und ermahnte mich, stark zu bleiben. Hinter meinem rechten Auge pochte es schmerzhaft. Anscheinend hatte Lugh doch ein paar dumme Gedanken, da aber Andrew mit einem Taser bewaffnet war, war er genauso machtlos wie ich selbst. Das hielt ihn allerdings nicht davon ab, sein Glück trotzdem zu versuchen, und innerlich verfluchte ich ihn dafür. Bald würde ich ohnehin jede Menge Schmerzen aushalten müssen. Da musste er mir nicht jetzt schon welche bereiten.
Noch eine Träne lief mir über die Wange. Diesmal wurde sie von Andrew bemerkt.
»Wir werden es so schnell über die Bühne bringen wie möglich«, versicherte er mir.
»Fick dich!«, erwiderte ich – was allerdings taffer geklungen hätte, wenn ich danach nicht angefangen hätte, vor mich hinzuschniefen wie ein Kleinkind.
Er redete weiter, als habe er mich nicht gehört. »Und deinen Freunden wird nichts passieren. Sie können uns nicht identifizieren, also sind sie keine Bedrohung für uns. Wir haben keinen Grund, sie umzubringen.«
Außer, dass zumindest Adam mit Sicherheit Andrews Stimme erkannt hatte. Andrew schien mir den Gedanken vom Gesicht abzulesen.
»Dein Freund von der Polizei mag meine Stimme erkannt haben, aber das hat nicht genug Beweiskraft, um mich zu verhaften, und schon gar nicht, um mich vor Gericht zu verurteilen. Schließlich hat er nicht mehr von meinem Gesicht gesehen als meine hübschen grünen Augen.«
»Und was ist mit Shae? Sie haben alle gesehen.«
Andrew zuckte mit den Achseln. »Sie ist ein geldgieriges Miststück, aber keine Mörderin. Übrigens wusste sie nicht, dass sie euch direkt in unsere Arme treibt. Was für eine Abmachung ihr auch mit ihr getroffen habt, sie hat versucht, sich daran zu halten. Ihr seid nur alle unglaublich berechenbar. Es war ein Kinderspiel, euch abzufangen.«
Diese Aussage würdigte ich keiner Antwort. Stattdessen gab ich mich der winzigen Hoffnung hin, dass den Jungs vielleicht wirklich nichts passieren würde. Ich erinnerte mich daran, dass Val sich darüber ausgelassen hatte, wie nützlich die Dämonen für die Menschheit wären und so weiter. Wenigstens glaubten die Menschen, die an dem Komplott beteiligt waren, dass sie für eine gute Sache eintraten – so falsch dieser Glaube auch sein mochte. Wahrscheinlich wäre es in der Tat schwieriger für sie, an der Illusion festzuhalten, dass sie die Guten in diesem Spiel waren, wenn sie irgendwelche Leute abschlachteten, die keine echte Bedrohung für sie darstellten.
Wir fuhren erst Richtung Süden, dann Richtung Westen und ließen die Stadt hinter uns. Ich hatte keine Ahnung, wo ich hingebracht wurde, doch als wir schließlich in das Brandywine Valley hinabfuhren, nahm ich an, dass wir uns allmählich unserem Ziel näherten. Im Brandywine Valley liegen viele Bauernhöfe und Weingüter. Das Tal ist landschaftlich sehr schön und ein tolles Ziel für einen beschaulichen Sonntagsausflug. Leider machte es einem die malerische Landschaft aber auch ziemlich leicht, einen Ort zu finden, wo man ungestört jemanden bei lebendigem Leib verbrennen konnte.
Wir erreichten schließlich das Gelände eines Großbauernhofs und fuhren auf einer Schotterstraße zu den Wirtschaftsgebäuden. Hier parkten bereits mehrere Autos.
Die Fahrt hatte so lange gedauert, dass mein Adrenalinspiegel sich etwas gesenkt hatte, doch jetzt begann er wieder zu steigen. Mein Herz hämmerte wie verrückt, und mein Mund war so trocken, dass ich kaum schlucken konnte. Lugh fing abermals an, meinen Schädel von innen zu piesacken, und ich fuhr gequält zusammen. Aber selbst wenn ich gewusst hätte, wie ich ihn die Kontrolle hätte übernehmen lassen können: Was konnte er schon groß tun, wenn Andrew jederzeit in der Lage war, mit seinem Taser Wackelpudding aus ihm zu machen?
Meine hohen Absätze verstanden sich nicht sehr gut mit dem Schotter auf dem großen Parkplatz. Kaum setzte ich einen Fuß aus dem Auto, stolperte ich und wäre sogar hingefallen, wenn Andrew mich nicht festgehalten hätte.
»Mir gefällt übrigens dein neuer Look«, sagte er, während er mich vor sich her schob und uns zwischen den geparkten Autos hindurchsteuerte. »Aber du musst noch üben, wie man auf Absätzen läuft. Das sieht ziemlich unbeholfen aus.«
Ich versuchte, seinen Fuß mit einem meiner Pfennigabsätze zu durchbohren, verfehlte aber mein Ziel. Er rächte sich, indem er mir mit dem Handrücken ins Gesicht schlug. Ich fiel mit dem Hosenboden zuerst auf den Schotter und sah Sternchen. Ich schmeckte Blut, sammelte das bisschen Spucke, das ich im Mund hatte, und spuckte in seine Richtung. Allerdings traf ich ihn nicht, und er lächelte über meinen kläglichen Versuch.
Er zog mich wieder auf die Füße. »Ich hatte gehofft, ich könnte Lugh dazu bringen, rauszukommen und zu spielen«, sagte er, während wir weiterliefen.
Ich sah jetzt, wohin es ging. Er führte mich hinter eine riesige Scheune, wo sieben oder acht Leute um eine Konstruktion herumstanden, die wohl das moderne Gegenstück eines Scheiterhaufens darstellen sollte – ein Basketballkorb, dessen Fuß in einen Betonsockel eingelassen war und unter dem man Stroh, Reisig und Holzscheite angehäuft hatte. Wieder stolperte ich. Ein stechender Schmerz fuhr mir ins rechte Auge, und ich stöhnte gequält auf.
»Du sollest ihn reinlassen, Morgan«, sagte Andrew, während er mich weiter in Richtung des Scheiterhaufens zerrte. »Er kann dich nicht retten, aber er kann dich gegen die Schmerzen schützen.«
Einer der Männer, die sich um den Scheiterhaufen versammelt hatten, löste sich von der Gruppe und kam auf uns zu. Zuerst vermochte ich in der Dunkelheit sein Gesicht nicht zu sehen. Doch als er näherkam, konnte ich seine Züge ausmachen.
Ich muss ziemlich verdattert geguckt haben, denn vor mir stand Jeremy Wyatt – Gründer und oberster Fanatiker von Gottes Zorn – und lachte mich aus. Ich schüttelte verblüfft den Kopf und versuchte vergeblich, mir darüber klarzuwerden, was vor sich ging.
Warum sollte ein Mann, der dafür eintrat, sämtliche Dämonen bei lebendigem Leibe zu verbrennen, sich an einem Komplott beteiligen, durch das Lugh gestürzt werden sollte und bei dessen Erfolg Dämonen in Zukunft das Recht hätten, Menschen auch gegen deren Willen in Besitz zu nehmen? Sicher, Gottes Zorn hing dem Glauben an, dass Dämonen nicht von Menschen Besitz ergreifen konnten, wenn es sich bei diesen nicht ohnehin schon um nichtswürdige Sünder handelte, aber trotzdem …
»Überrascht, mich zu sehen, Ms Kingsley?«, fragte er und lachte dabei immer noch über meinen entgeisterten Gesichtsausdruck.
Seine Augen schienen im Dunkeln zu leuchten, und plötzlich begannen die Teile des Puzzles zusammenzupassen. »Haben Sie von Anfang an in Jeremy Wyatts Körper gesteckt, oder sind Sie ein Neuankömmling?«, fragte ich. Es machte wohl keinen großen Unterschied mehr, aber wenn ich ihn zum Reden bringen konnte, würde das wenigstens die kleine Hexenverbrennung etwas hinauszögern, die man hier für mich vorbereitet hatte.
Er lächelte, als bereite ihm meine Scharfsinnigkeit Vergnügen. »Es ist jetzt fast schon zwei Jahre her, dass Jeremy und ich uns zusammengetan haben.«
Was immer noch lange nach dem Zeitpunkt war, zu dem der fanatische Bastard seinen kleinen militanten Verein gegründet hatte. »Dann ist Jeremy doch auch nur ein armer Sünder, wie wir alle«, sagte ich. Anscheinend besaßen diese Dämonen einen ausgeprägten Sinn für Ironie und ergriffen gerne Besitz von Menschen, denen es besonders zuwider war, ihnen als Wirt zu dienen.
»Gäbe es einen besseren Weg, um die Zustände zu unseren Gunsten zu beeinflussen?«
Das kapierte ich zunächst nicht – Angst sorgt nicht gerade für einen klaren Verstand. Doch dann begriff ich. »Gottes Zorn verübt seine Anschläge nicht willkürlich auf irgendwelche Dämonenwirte. Ihr habt es auf Menschen abgesehen, die Dämonen in sich haben, die Lugh unterstützen!« Wie Dominic.
»Richtig geraten. Genau deswegen habe ich mir Jeremy als Wirt ausgesucht.« Er lachte. »Seine rechtgläubigen Anhänger wären bestimmt begeistert, wenn sie wüssten, für welche Sache sie in Wirklichkeit eintreten. Aber sobald Lugh keine politische Agitation mehr betreiben kann, werden all diese Morde vielleicht unnötig. Es bricht mir das Herz, Mitglieder meiner eigenen Rasse umzubringen, aber es muss leider sein.«
Offenbar war Lugh damit ganz und gar nicht einverstanden. Der Schmerz in meinem Kopf wurde so stark, dass ich auf die Knie sank.
»Versucht er herauszukommen?«, fragte Wyatt Andrew, während ich vor Schmerz mit den Zähnen knirschte und mich zu erinnern versuchte, wie man atmete.
»Sieht so aus. Aber Morgan ist zu blöde, um es zuzulassen.«
Ich warf ihm einen giftigen Blick zu und sah dann auf den Taser, den er auf mich gerichtet hielt. Vielleicht war es doch besser, Lugh ans Steuer zu lassen und nur ein passiver Passagier in meinem Körper zu sein, während man mich verbrannte. Andrews Taser bedeutete, dass Lugh mich nicht retten konnte, aber wie Andrew gesagt hatte, konnte er wenigstens dafür sorgen, dass ich keine Schmerzen spürte. Ich war mir ziemlich sicher, dass er das für mich tun würde.
Doch ich hatte keine Ahnung, wie ich ihn »reinlassen« sollte, selbst wenn ich wollte.
Wyatt zog mich auf die Füße und zerrte mich in Richtung Scheiterhaufen. Der Schmerz in meinem Kopf ließ nicht nach. Innerlich flehte ich Lugh an aufzuhören, doch er gehorchte mir nicht. Ich kniff die Augen zusammen und versuchte, die Qualen irgendwie auszuhalten. Vielleicht war es ja sogar eine Erleichterung, bei lebendigem Leibe verbrannt zu werden, wenn dadurch endlich diese höllischen Kopfschmerzen aufhörten.
Die Schmerzen waren so stark, dass ich kaum merkte, wie man mich in die Mitte des übelriechenden Feuerholzes zerrte. Man löste mir nicht die Handschellen, sondern führte einfach nur ein Stück Kette darunter durch und befestigte diese dann an dem Metallring des Basketballkorbs.
Lugh ließ mich einen Moment lang in Frieden – vielleicht einfach nur, damit ich kurz verschnaufen konnte. Wyatt ging von dem Pfahl weg und forderte einen seiner Lakaien auf, mich mit Feuerzeugbenzin zu bespritzen. Mein Atem verwandelte sich in ein flaches, panisches Hecheln, und die Dämpfe brachten mich zum Husten.
»Du bist wirklich ein Dummkopf, Morgan«, sagte Andrew. Ich blickte auf und knurrte ihn an, doch davon ließ er sich natürlich nicht beeindrucken. »Warum solltest du leiden und für Lughs Sünden büßen?«
»Halt’s Maul, Raphael«, fuhr ihn Wyatt an. »Was hast du vor? Sie so lange zu reizen, bis sie ihn reinlässt?«
Raphael lachte. »Um die Wahrheit zu sagen, ja. Morgan ist mir scheißegal. Auf Lugh kommt es mir an, und nichts würde mir mehr Befriedigung verschaffen, als ihn fluchen zu hören, weil ich derjenige bin, der unser kleines Spielchen am Ende gewinnt.«
»Er ist aber viel gefährlicher als sie. Also verkneif es dir gefälligst.«
»Er wäre gefährlich, wenn ich ihn nicht tasern könnte. So wie die Dinge stehen, wäre er hilflos wie ein Neugeborenes. Seine Hilflosigkeit würde mir großes Vergnügen bereiten.«
Er lächelte mich mit einem unangenehmen Haifischgrinsen an, und Lugh legte sich noch einmal voll ins Zeug. Noch nie hatte ich solche Schmerzen gespürt. Ich ging fest davon aus, jeden Moment ohnmächtig zu werden. Die Ränder meines Blickfelds verschwammen. Raphael sagte etwas, doch das Blut rauschte so laut in meinen Ohren, dass ich nichts mehr hören konnte.
Ich merkte, wie sich etwas in mir verlagerte. Es war keine körperliche Empfindung, jedenfalls nicht ganz. Ich kann es nicht besser beschreiben, als dass es sich anfühlte, als gingen in meinem Kopf mehrere Türen gleichzeitig einen Spalt weit auf.
Ich ließ mich auf diese Empfindung ein, schloss die Augen und setzte dieselbe Visualisierungstechnik ein, die ich auch beim Austreiben eines Dämons verwendete. Nur statt einer Windböe, die den Dämon hinwegbläst, stellte ich mir jetzt vor, wie ich die Türen in meinem Kopf weit aufstieß, um Lugh hereinzulassen.
Plötzlich war der Schmerz in meinem Kopf vollständig verschwunden. Nicht einmal mehr ein schwacher Nachhall war übrig. Ich hob den Kopf und starrte Raphael an, aber das war nicht mehr ich, die durch diese Augen blickte.
Raphael grinste entzückt. »Willkommen, Bruder. Wo zum Teufel hast du gesteckt?«
Lugh gab ein schreckliches Knurren von sich, von dem ich nicht gedacht hätte, dass meine Kehle es hervorbringen könnte. Raphaels Freude schien noch zu wachsen. Lugh begann, an den Fesseln zu zerren, und ich erwartete, dass Raphael ihn jeden Moment tasern würde.
Doch das passierte nicht.
Mit einem ehrerbietigen Nicken in Lughs Richtung wendete sich Andrew zu Wyatt um – und feuerte aus nächster Nähe den Taser auf ihn ab.