18
Während ich schlief, hatte ich keinerlei brillante Eingebungen. Und als ich Montagmorgen aufwachte, war ich genauso weit, was Ideen für unsere weitere Vorgehensweise betraf, wie Sonntagabend, als ich todmüde ins Bett gefallen war. Auch während ich lange und heiß duschte und drei Tassen fürchterlichen, mit Dosenmilch aufgegossenen Kaffee trank, fiel keine Lösung vom Himmel.
Meine ermittlerischen Fähigkeiten hielten sich in Grenzen. Wenn ich zu einem Fall hinzugezogen wurde, hatte man in der Regel den Dämon bereits festgenommen und verurteilt. Aber selbst wenn ich derartige Fähigkeiten gehabt hätte: Lugh hatte mich daran erinnert, auf wie wenige Ressourcen ich bei meinen Ermittlungen zurückgreifen konnte. Mein Haus und meine gesamte weltliche Habe waren vor ein paar Tagen in Flammen aufgegangen. Ich hatte noch nicht einmal angefangen, mich um dieses ganze Durcheinander zu kümmern. Vermutlich wollte ich erst sichergehen, dass ich die nächsten Tage überhaupt überleben würde, bevor ich damit anfing, mir eine neue Existenz aufzubauen.
All das ließ mir nicht gerade viele Möglichkeiten.
Außerdem hing eine Mordanklage wie das Schwert des Damokles über meinem Kopf. Ich meldete mich bei meiner Anwältin, um sie wissen zu lassen, dass ich noch in der Stadt war und mich nicht aus dem Staub gemacht hatte.
Nach dem Anruf bei meiner Anwältin versuchte ich, Brian zu erreichen. Ich probierte es in seiner Kanzlei, aber dort war er noch nicht eingetroffen. Ich hinterließ eine weitere Nachricht für ihn und gab für den Rückruf Vals Handynummer an. Natürlich war es nicht klug, ihm die Telefonnummer von jemandem zu geben, der gerade ermordet worden war, aber ich war zu paranoid, um ihm die Nummer des Hotels zu hinterlassen.
Immer noch keine brillanten Eingebungen.
Ich schaltete den Fernseher an, um für ein paar Hintergrundgeräusche zu sorgen und weniger, um mir ernsthaft irgendeine Sendung anzusehen, die um neun Uhr morgens über den Äther lief.
Wie der Zufall es wollte, erschien Adams attraktives Gesicht auf dem Bildschirm, kaum dass ich den Apparat eingeschaltet hatte. Sein Anblick schnürte mir die Kehle zu.
Er stand an einem Rednerpult, und vor ihm war ein ganzer Wald Mikrophone aufgebaut. Sondersendung, stand in der oberen linken Ecke des Bildschirms. Auf einem Infoband am unteren Bildschirmrand war die Schlagzeile zu lesen: Adam White, Leiter der Sondereinsatzkräfte, wegen Mordes beschuldigt.
Ich presste mir die Handballen gegen die Augen und wünschte, ich könnte alles ungeschehen machen.
»Nehmen Sie es Ihren Männern übel, dass sie der Anschuldigung nachgegangen sind?«, fragte einer der Reporter.
»Keineswegs«, sagte Adam. Seine tiefe Stimme und sein blendendes Aussehen brachten bestimmt gute Einschaltquoten. »Sie haben nur ihre Arbeit getan. Ich hätte es ihnen sogar übelgenommen, wenn sie der Anschuldigung nicht nachgegangen wären. Schließlich stehe ich nicht über dem Gesetz. Übel nehme ich die ganze Angelegenheit einzig der Person, die diese anonyme Anschuldigung vorgebracht hat.«
Er blickte mit seinen feurigen Karamellaugen in die Kamera und schien mir durch den Bildschirm hindurch geradewegs ins Gesicht zu sehen.
»Ich kann Ihnen versichern, dass der oder die Schuldige die volle Härte des Gesetzes zu spüren bekommen wird, falls wir mit unserer Fahndung Erfolg haben.«
Ich schluckte trocken. Mein Bauch sagte mir, dass es weniger die Härte des Gesetzes war, wegen der ich mir Sorgen machen musste, als vielmehr die von Adam.
Das Handy klingelte. Ich stellte den Fernseher stumm, konnte aber meine Augen nicht vom Bildschirm losreißen, während ich das Telefon aufklappte und innerlich betete, dass es Brian war.
»Hallo?«, sagte ich.
»Morgan, Morgan, wo hast du nur deinen Kopf, Mädchen?«
Ich sprang auf die Füße. »Was willst du, Andrew?«
»Lass uns mal resümieren, Schwesterherz. Du hast gestern mit Vals Handy die Polizei angerufen. Sie hat deine Behauptung überprüft und herausgefunden, dass es sich dabei lediglich um einen schlechten Scherz handelte. Adam White würde nichts lieber tun, als dich sofort zu verhaften. Und du schleppst dasselbe Handy nach wie vor mit dir rum. Muss ich dir eine Nachhilfestunde zum Thema moderne Kommunikationstechnik geben?«
Ich unterdrückte ein Stöhnen. Ja, ich war eine Vollidiotin. Aber ich hatte keine Übung darin, auf der Flucht zu sein. Natürlich war die Polizei in der Lage, das Handy zu orten.
Vielleicht machten sie sich in diesem Augenblick gerade bereit, das Hotel zu stürmen.
Ich fing sofort an, meine Habseligkeiten in die Einkaufstüten zu stopfen, und klemmte dabei das Handy zwischen Schulter und Ohr ein, um weiter telefonieren zu können. Eigentlich hätte ich sofort auflegen und abhauen sollen, aber ich konnte einfach nicht widerstehen.
»Warum rufst du an, Andrew? Was kümmert es dich, ob ich verhaftet werde?«
Er gluckste vergnügt. »Sagen wir einfach, es würde für alle Beteiligten nur unnötige Scherereien bedeuten, wenn du festgenommen wirst und deine Kaution widerrufen wird. Also sieh zu, dass du fortkommst, wo immer du dich gerade aufhalten magst, und wirf so schnell wie möglich dieses Handy weg. Und mach dir keine Sorgen, Schwesterchen – sollte ich dich brauchen, werde ich jederzeit in der Lage sein, dich zu finden.«
Er legte auf, was ganz gut so war, denn sonst hätte ich wahrscheinlich kostbare Zeit damit verschwendet, ihn mit Flüchen und Kraftausdrücken zu belegen.
Ich brauchte keine fünf Minuten, um aus dem Zimmer zu verschwinden, hielt es aber für klüger, das Handy mitzunehmen. Ich wollte die Polizei nicht zu meinem Zimmer führen, wo sie überall meine Fingerabdrücke finden würde und damit den Beweis, dass ich den Anruf getätigt hatte. Ich schaltete es aus und nahm die Batterie heraus, in der Hoffnung, das würde reichen, um eine Ortung durch die Polizei zu verhindern.
Gerade als ich im Taxi davonfuhr, bog ein Polizeiwagen auf den Parkplatz des Hotels ein. Ich hielt erschrocken den Atem an, doch der Wagen kam nicht mit quietschenden Reifen hinter uns hergejagt. Ich ließ mich zur Front Street bringen – die so heißt, weil ihre »Front« entlang dem Delaware River verläuft, der mitten durch Philadelphia fließt. Ich stieg aus, versuchte möglichst unauffällig meine Fingerabdrücke von dem Handy und der Batterie abzuwischen und warf dann beides in den Fluss.
Während ich ziellos am Ufer entlangwanderte und über meinen nächsten Schritt grübelte, bekam ich plötzlich stechende Kopfschmerzen. Ich massierte mir die Schläfen und sagte: »Lass das, Lugh. Du hast versprochen, mir vierundzwanzig Stunden zu geben.« Die Schmerzen verschwanden, hatten mich aber erfolgreich daran erinnert, dass mir nicht mehr viel Zeit blieb.
Ich fand ein Münztelefon, rief Brian an – und redete wieder nur mit seinem Voicemail-System. Ich sagte ihm, er solle die Nummer, die ich ihm zuvor genannt hatte, nicht beachten. Hätte er endlich einmal abgenommen, wäre ich wahrscheinlich in Freudentränen ausgebrochen. Ich sehnte mich so sehr nach ihm, wie ich es nie für möglich gehalten hätte.
Ich fuhr mit dem Bus zurück in die Innenstadt und kaufte mir ein Handy mit Prepaid-Karte. Ich hatte Angst, dass Adam und die Polizei über die technischen Mittel verfügen könnten, mich trotzdem anhand des Signals aufzuspüren. Aber mir vorzumachen, dass ich mit der ganzen Sache auch ohne fremde Hilfe fertigwerden konnte, wurde immer schwerer.
Ich war so verzweifelt, dass ich beinahe meine Mutter anrief, um sie um Hilfe zu bitten. Zum Glück funktionierten aber ein paar meiner Gehirnzellen noch. Meine Mutter behauptet zwar immer, mich trotz meiner zahlreichen Fehler zu lieben, ihren Goldjungen Andrew jedoch betet sie förmlich an. Sie würde mich schneller an ihn ausliefern, als ich gucken kann, und noch nicht einmal die Möglichkeit in Betracht ziehen, dass er vielleicht doch nicht der Dalai Lama, der liebe Herr Jesus und Mutter Teresa in einer Person war.
Gegen drei Uhr versuchte ich es erneut bei Brian. Und erreichte einmal mehr sein Voicemail-System. Aus irgendeinem Grund kam mir das komisch vor, also rief ich beim Empfang seiner Kanzlei an. Die Empfangsdame sagte mir, er sei den ganzen Tag noch nicht im Büro gewesen und hätte sich auch nicht krankgemeldet. Alle machten sich Sorgen um ihn.
Und ich mir auch. Ich versprach der Empfangsdame, zu seinem Apartmentgebäude zu gehen und mich zu vergewissern, dass er nicht ohnmächtig auf dem Boden seiner Wohnung lag – oder ihm womöglich noch Schlimmeres zugestoßen war.
Meine sämtlichen Schlüssel lagen unter dem Trümmerhaufen begraben, der einst mein Haus dargestellt hatte, aber ich verfügte über ein Bund Ersatzschlüssel, das ich in meinem Büro aufbewahrte. Es behagte mir nicht, einen Ort aufzusuchen, der für meine potenziellen Mörder so vorhersehbar war. Aber wie die Dinge standen, hatte ich keine große Wahl.
»He, Lugh?«, flüsterte ich beim Gehen und hoffte, die Leute würden denken, ich spräche mit dem Ohrteil meines Handys. »Wenn ich in die Nähe meines Büros komme, kannst du mir dann mitteilen, ob du irgendjemanden oder irgendetwas siehst, was mir Sorgen bereiten sollte?«
Die Antwort kam in Form eines kurzen, stechenden Schmerzes, der wie eine Nadel meinen rechten Augapfel zu durchstoßen schien. Reizend. Ich betrachtete das als ein Ja und gab mir Mühe, möglichst wenig über den beängstigenden Umstand nachzudenken, dass ich jetzt schon bei vollem Bewusstsein dazu in der Lage war, mich mit Lugh zu verständigen.
Während ich mich meinem Büro näherte, bekam ich keinen plötzlichen Migräneanfall. Was mich allerdings nicht davon abhielt, mich die ganze Zeit ängstlich umzusehen und vor meinem eigenen Schatten zu erschrecken, wann immer er mir ins Auge fiel.
Da ich sämtliche Schlüssel verloren hatte, musste ich erst jemanden von der Gebäudeverwaltung finden, um in mein Büro zu gelangen. Die Verzögerung machte mich zappelig, aber schließlich trieb ich jemanden auf, der in der Lage war, meine Bürotür zu öffnen.
Ich ging geradewegs zu meinem Schreibtisch und hatte bereits die oberste Schublade aufgerissen und das Bund mit Ersatzschlüsseln herausgeholt, als ich einen großen wattierten Umschlag bemerkte, der auf meinem Schreibtischstuhl lag.
Dort hätte eigentlich nichts liegen dürfen. Wenn ich nicht im Büro bin, landet meine Post normalerweise im Postraum im Erdgeschoss. Und außer den Angestellten der Gebäudeverwaltung verfügte niemand über einen Schlüssel zu meinem Raum.
Mit einem unguten Gefühl im Bauch leerte ich den Inhalt des Umschlags auf meinem Schreibtisch aus. Eine Videokassette sowie ein Zettel mit einer Nachricht fielen heraus.
Die Nachricht war kurz und sachlich: Morgan, sobald du dir dieses Band angesehen hast, ruf mich auf meinem Handy an. Andrew.
Es lässt sich mit Worten gar nicht beschreiben, wie gut ich darauf hätte verzichten können, mir anzusehen, was auf diesem Band war. Doch diese Option fiel leider aus.
Ich hatte keinen Videorekorder in meinem Büro. Aber Brians Wohnung lag nur ein paar Häuserblocks entfernt. Dort würde ich hoffentlich herausfinden, dass er krank im Bett lag und einfach nur zu faul war, der Kanzlei Bescheid zu sagen.
Als ich schließlich die Tür zu Brians Apartment aufschloss, zitterten mir die Knie, und ich hatte ein flaues Gefühl im Magen. Ich fragte mich, ob das die ersten Anzeichen eines drohenden Nervenzusammenbruchs waren, ermahnte mich dann aber, dass ich mir keinen Nervenzusammenbruch leisten konnte.
Brian war nicht zu Hause und hatte ungefähr eine Million Nachrichten auf seinem Anrufbeantworter. Die Wohnung sah aus, als sei er länger nicht mehr hier gewesen. Ich warf einen Blick auf die Kassette in meiner Hand und betete, dass es sich dabei nicht um das handelte, was ich glaubte.
Mit zitternden Händen schob ich die Kassette in Brians Videorekorder und drückte auf Play.
Einen Moment lang sah ich nur graues Gekräusel – und dann genau das Bild, das ich befürchtet hatte.
Seine Hände waren über dem Kopf an die Wand gekettet, und er hatte einen Ballknebel im Mund. Man hatte ihn bis auf seine weißen Schießer-Unterhosen ausgezogen und seine Knöchel aneinandergekettet.
Die Wand, an die er gekettet war, bestand aus vermoderten, grob behauenen Steinblöcken, zweifellos, um dem Raum die Atmosphäre eines Verlieses oder einer mittelalterlichen Folterkammer zu verleihen. Von den Wänden hingen weitere Ketten hinab. Die Kamera machte einen Schwenk und zeigte eine Peitschensammlung, mit der selbst Adams nicht mithalten konnte, dann eine Kohlenpfanne, aus der ein Satz glühender Eisen herausragte, dann etwas, das aussah wie eine Streckbank.
Als die Kamera zurück auf Brian schwenkte, war er nicht mehr allein. Vor ihm stand eine Gestalt in Umhang und Kapuze und ließ geschickt ein Skalpell durch die Finger wandern. Brian sah der Vorstellung mit weit aufgerissenen Augen und angsterfülltem Blick zu.
Ich schüttelte den Kopf und hielt mir den Mund zu, um nicht vor Schmerz und Entsetzen laut aufzuschreien.
Der Kapuzenmann lächelte in die Kamera und hörte auf, mit dem Skalpell zu spielen. Er machte einen Schritt auf Brian zu. Ich ahnte, was jetzt kommen würde, und versuchte, mich innerlich darauf vorzubereiten. Mein Kopf sagte mir, dass ich einfach das Band anhalten sollte, doch das konnte ich nicht.
Die Gestalt entfernte den Knebel aus Brians Mund, und er schnappte gierig nach Luft. Doch die Gestalt hatte ihn nicht aus Nächstenliebe von dem Knebel befreit. Sondern damit ich den Mann, den ich liebte, schreien hören konnte, während das Skalpell durch seinen Brustmuskel glitt.
Ich schrie ebenfalls und hoffte, dass ich mit der Hand über dem Mund den Schrei stark genug dämpfte, um zu verhindern, dass die Nachbarn die Polizei riefen. Blut floss an Brians Brust und Bauch hinab, lief über den Bund seiner Unterhose, durchtränkte den hellen weißen Stoff. Er hatte die Augen zusammengekniffen und versuchte mit zusammengebissenen Zähnen, keinen Laut mehr von sich zu geben. Doch als sein Peiniger einen weiteren Schnitt setzte, entfuhr ihm trotzdem wieder ein Schrei.
Ich wollte am liebsten in den Fernseher hineinspringen, auf magische Weise Zeit und Raum überwinden, um Brian zu retten. Das Gefühl der Ohnmacht lastete mir wie ein erdrückendes Gewicht auf Brust und Schultern.
Der Folterknecht wendete das Gesicht erneut der Kamera zu. Doch alles, was ich im Schatten der Kapuze erkennen konnte, waren seine blauen Augen und dunklen großen Pupillen sowie seine zum Lächeln geschürzten Lippen. Er hatte Spaß an der Sache. Mir wurde übel, aber ich riss mich am Riemen. Gleich konnte ich mir in Ruhe die Seele aus dem Leib kotzen. Aber erst musste ich das hier zu Ende ansehen.
»Das war nur ein kleiner Vorgeschmack«, sagte der Mann mit digital verfremdeter Stimme. Im Hintergrund kam ein zweiter Kapuzenmann ins Bild und drückte Brian den Knebel wieder in den Mund.
»Kooperiere, dann wird er keine weiteren Schmerzen erleiden müssen. Wie du sehen kannst, tragen wir Kapuzen, damit er unsere Gesichter nicht erkennen kann. Folgst du unseren Anweisungen, gibt es für uns keinen Grund, ihn nicht wieder freizulassen.«
Das Bild verwandelte sich wieder in graues Gekräusel. Es war vorbei.
Ich rannte ins Badezimmer und erreichte es gerade rechtzeitig.
Nicht krank zu sein und trotzdem zwei Tage am Stück zu spucken, war ein neues Erlebnis für mich. Keins, das ich gerne wiederholen möchte.
Meine Gedanken rebellierten immer wieder gegen die Bilder in meinem Kopf und schrien: »Genug! Es reicht! Hört endlich auf damit!« Vorübergehend fürchtete ich ernsthaft um meinen Verstand. Wut stieg in mir auf, und einen Moment lang dachte ich, das könnte mir helfen, wieder einen klaren Kopf zu bekommen. Aber dafür saß der Schock einfach zu tief.
Sie hatten Brian. Sie hatten Brian weh getan! Ich hatte verzweifelt versucht, ihn zu schützen, und das war dabei herausgekommen. Ich wollte laut schreien, alles zu Kleinholz schlagen, mich zusammenrollen wie ein Säugling und sterben.
Doch mit alldem wäre Brian nicht geholfen gewesen. Ich musste ihn da rausholen. Es war zu spät, um ihn gänzlich vor Schaden zu bewahren, aber retten würde ich ihn auf jeden Fall. Oder bei dem Versuch umkommen.
Ich hatte den leisen Verdacht, dass Letzteres wahrscheinlicher war.
Nachdem ich mich einigermaßen gefangen hatte, griff ich mir das Telefon und setzte mich auf einen Stuhl. Ich war mir nicht sicher, ob ich mich auf den Beinen würde halten können, wenn ich diesen Anruf im Stehen erledigte.
Ich wählte Andrews Handynummer und empfand dabei mehr Hass für ihn als jemals für irgendeinen anderen Menschen auf der Welt. Bisher hatte ich es nicht für möglich gehalten, dass man jemanden so sehr hassen kann.
Er ging beim zweiten Klingeln dran.
»Wenn ich dich jemals in die Finger kriege«, erwiderte ich auf seine fröhliche Begrüßung, »dann kastrier ich dich mit einem Buttermesser.«
»Amüsante Vorstellung. Aber ich hab meine Zweifel, dass dein Bruder Andrew viel Freude daran hätte.«
Ich unterdrückte ein Schluchzen. »Andrew hat dich in diese Welt eingeladen, du Mistkerl, also kann er auch mit dir zusammen zur Hölle fahren. Wo ist Brian?«
Raphael lachte. »Denkst du tatsächlich, wir würden es dir so einfach machen?«
»Reiz mich nicht, Raphael. Es ist mir egal, ob ich dafür von den Toten auferstehen muss, aber ich werd dich für das alles büßen lassen.«
»Möchtest du über die Bedingungen von Brians Freilassung reden oder lieber weiter mit Beleidigungen um dich werfen? Ich habe jede Menge Zeit, also nur zu. Ich finde das sehr unterhaltsam.«
Ein Stechen raste durch meinen Kopf, das mich laut den Atem einziehen ließ. Der Schmerz verschwand augenblicklich wieder. Ich hatte das Gefühl, das Lugh ihn unbeabsichtigt verursacht hatte, weil Raphaels Art ihn genauso auf die Palme brachte wie mich. Wenn es nach mir ging, würde ihm jedoch keiner von uns beiden die Befriedigung geben, sich das anmerken zu lassen.
»Alles in Ordnung bei dir?«, fragte Raphael mit gespielter Besorgnis in der Stimme.
Ich suchte nach einer schlauen, schlagfertigen Antwort, die ihm beweisen würde, dass ich keine Angst vor ihm hatte. Hätte ich nicht so viel Angst vor ihm gehabt, wäre mir vielleicht eine eingefallen.
»Sag mir einfach, was ich tun muss, damit du ihn freilässt.«
»Das ist ganz einfach, Morgan. Ein schlichter Tausch. Du gegen deinen Freund.«
Nichts anderes hatte ich erwartet. Trotzdem zog sich vor Angst mein Magen zusammen. »Du willst, dass ich mich dir ausliefere, damit du mich zu Asche verbrennen kannst?«
Er antwortete mit sanfter Stimme. »Keine sehr verlockende Option, ich weiß. Aber die Alternative wäre, ihn in unserer Gewalt zu lassen. Dann schicken wir dir jeden Tag ein neues Video. Ich werde persönlich Regie führen und sichergehen, dass er immer gerade nur so stark verletzt wird, dass er nicht stirbt. Wenn seine Qualen nicht ausreichen, um dich nach ein oder zwei Wochen umzustimmen, können wir das Repertoire um sexuelle Belästigung erweitern. Vielleicht änderst du dann deine Meinung.«
»Du verdammter –« Er beendete die Verbindung. Mit vor Angst und Wut zitternden Händen drückte ich die Wiederwahltaste. Diesmal ging er schon beim ersten Klingeln dran.
»Ab sofort wirst du etwas mehr Respekt zeigen, wenn wir uns unterhalten. Dieser kleine Wutausbruch wird Brian eine weitere Runde Spaß und Spiel in unserem Verlies einbringen.«
»Raphael …«
»Morgen kriegst du ein weiteres Video. Du wirst es bestimmt sehr unterhaltsam finden.«
»Bitte …«
»Wenn vierundzwanzig Stunden vergangen sind, darfst du mich wieder anrufen, und dann werden wir uns auf zivilisierte Weise darüber unterhalten, wie der Austausch stattfinden soll.«
Er legte erneut auf. Als ich diesmal die Wiederwahltaste drückte, wurde der Anruf direkt zu seiner Mailbox weitergeleitet.