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Topeka, Kansas. Dämonen-Hauptstadt der Welt. Nein, das ist nun doch übertrieben. Dämonen – zumindest die illegalen – leben lieber in Großstädten. Größere Anonymität. Mehr Beute. Ab und zu taucht ein Dämon aber auch an einem Ort auf, wo man ihn beim besten Willen nicht erwarten würde. Wie zum Beispiel in Topeka.
Ich reiste mit dem Flugzeug nach Kansas City, das knapp jenseits der Staatsgrenze von Kansas im Bundesstaat Missouri liegt, und musste mir dann einen Wagen mieten, um die eineinhalbstündige Fahrt nach Topeka zurückzulegen. Ich wohne zwar in einer Vorstadt, aber tief im Herzen bin ich ein Großstadt-Mädchen. Eineinhalb Stunden lang auf einsamen Landstraßen durchs Nirgendwo zu fahren kommt meiner Vorstellung von der Hölle ziemlich nahe. Aber es wurde noch besser: Niemand hatte sich die Mühe gemacht, Kansas mitzuteilen, dass es bereits Frühling war – also schneite es wie im tiefsten Winter.
Wie oft ich in meinem Leben bei Schnee Auto gefahren bin, lässt sich mühelos an einer Hand abzählen. Hätte ich nicht gewusst, dass man möglicherweise ein elfjähriges Mädchen bei lebendigem Leib verbrennen würde, wenn ich meinen Termin nicht einhielt, ich hätte das Unwetter wahrscheinlich in Kansas City ausgesessen.
Das Tempolimit lag bei 70 Meilen pro Stunde, aber ich fuhr nur halb so schnell und hielt dabei mit zusammengekniffenen Augen nach Kühen Ausschau, die sich in dem Schneesturm auf die Fahrbahn verirrt hatten. Na gut, die Einheimischen hätten das Ganze vielleicht nicht unbedingt als »Schneesturm« bezeichnet. Aber so etwas ist schließlich immer eine Frage der Sichtweise.
Wie mein eigener Heimatstaat Pennsylvania gehört auch Kansas zu jener Zahl von zehn US-Bundesstaaten, in denen es erlaubt ist, Menschen, die von einem illegalen Dämon besessen sind, hinzurichten. Ich rief vom Flughafen aus an, um Bescheid zu geben, dass ich mich verspäten würde. Ich traute meinen Augen kaum, als ich sah, dass die Vorwahl für Topeka 666 lautet. Da hatte das Schicksal mal wieder einen ausgeprägten Sinn für Ironie bewiesen. Zum Glück hatte es niemand besonders eilig damit, ein niedliches kleines Mädchen dem Flammentod zu übergeben – obwohl angeblich ein Dämon von ihm Besitz ergriffen hatte, der für den Tod von drei Menschen verantwortlich war. Also erklärte man sich bereit, meine Ankunft abzuwarten, bevor man irgendwelche weiteren Schritte unternahm.
Das Dämonen-Sicherungscenter – zu dem auch ein Hinrichtungsraum gehörte – lag im Keller des Gerichtsgebäudes von Topeka und wurde von mehr Wachpersonal beaufsichtigt, als die meisten Hochsicherheitsgefängnisse aufbieten können. Keinen Schimmer, wofür die vielen bewaffneten Wachleute gut sein sollten. Was würden sie schon groß machen, wenn einem Dämon der Ausbruch gelang: seinen Will erschießen? Sicher, kurzfristig wäre das eine Lösung, weil der Dämon dann keinen Körper mehr hatte, dessen er sich bedienen konnte. Gelang es ihm jedoch, auf einen anderen Wirt überzuspringen, stände das Wörtchen Rache mit Sicherheit ganz oben auf seiner Wunschliste. Die einzige Methode, einen Dämon zu töten, besteht darin, ihn mit einem Exorzismus aus dem Körper seines Wirts auszutreiben oder den Wirt bei lebendigem Leibe zu verbrennen. Hübsche Vorstellung, nicht wahr?
Ich hatte mich mit den Fakten zum Fall der kleinen Lisa Walker während des Flugs vertraut gemacht. Ihre Eltern hatten mit ihr einen Wochenendausflug nach New York unternommen. Sie sahen sich ein Broadway-Musical an, und danach wurde Lisa vor dem Eingang des Theaters von irgendeinem Gangster, der auf der Flucht vor der Polizei war, über den Haufen gerannt. Nach dem ersten Schreck hatte die Familie in dem Vorfall wahrscheinlich sogar so etwas wie ein aufregendes kleines Abenteuer gesehen – zu Hause in Topeka passierten einem solche Sachen schließlich nicht gerade jeden Tag.
Erst als die Walkers wieder in ihre Heimatstadt zurückgekehrt waren, merkten sie, dass mit ihrer Tochter etwas nicht stimmte. Sie fing zwar nicht an, mit rotierendem Kopf Erbsensuppe durchs Zimmer zu spucken wie das besessene Mädchen in dem Film Der Exorzist. Trotzdem war sie nicht mehr dieselbe. Die Eltern merkten es an Kleinigkeiten in Lisas Verhalten. Sie war öfter trotzig, drückte sich plötzlich viel erwachsener aus und hatte manchmal einen Blick in den Augen, der nicht ihrem Alter entsprach. Die Eltern baten einen Priester, sich ihre Tochter anzusehen, und dieser kam sofort zu dem Schluss, das Mädchen sei besessen.
Ich persönlich hätte Zweifel an diesem Urteil gehabt. Dämonen bevorzugen für gewöhnlich robuste Erwachsene als Wirtskörper und nisten sich nicht in zart gebaute elfjährige Mädchen ein. Und gleichgültig, welche Autorität sie in dieser Hinsicht beanspruchen, für gewöhnlich besitzen Priester nicht die notwendigen Qualifikationen, um bei einem Menschen den Zustand der Besessenheit festzustellen. Ein paar von ihnen sind natürlich sensitiv begabt und haben die Fähigkeit, die Aura eines Menschen zu erkennen. Aber anders als bei einem Exorzisten gehört diese Fähigkeit nicht zu ihren beruflichen Voraussetzungen.
Wenn ich also nicht von der Besessenheit des Mädchens überzeugt war, warum hatte ich mir dann die Mühe gemacht, bis hierher ins hinterste Kansas zu fahren, um einen Exorzismus durchzuführen? Ganz einfach: Weil das Gericht es so angeordnet hatte und die Eltern sich mit der Prozedur einverstanden erklärt hatten – und weil man das arme Mädchen grillen würde, wenn es nicht gelingen sollte, es mit Hilfe eines Exorzisten von seinem Dämon zu befreien. Die Eltern hatten nach dem Besten der Branche verlangt und konnten sich mein Honorar leisten. Also kurvte ich jetzt durch dieses winterliche Kaff und fror mir den Hintern ab.
Ich musste zwei Kontrollstellen passieren, bevor ich überhaupt in die Nähe des Sicherungscenters gelangte. Wäre ich etwas seriöser gekleidet gewesen, hätte man mich wahrscheinlicher schneller durchgewunken. Aber hätte ich bei der Arbeit Kostüme und Hosenanzüge tragen wollen, wäre ich Anwältin geworden. Meine Arbeitskleidung bestand aus knallengen Hüftjeans, einem nicht weniger eng sitzenden Pulli und einem Paar supercooler Schaftstiefel mit schmal zulaufenden Spitzen.
Der Direktor der Topeka-Sicherungseinheit hieß Frank Jenkins, ein kleiner rundlicher Typ, der auf den ersten Blick eigentlich ganz nett wirkte. Er trat durch eine stahlverstärkte Tür zu mir heraus und lächelte freundlich – bis er mich genauer in Augenschein genommen hatte. Dann wich das Lächeln einem finsteren, missbilligenden Blick.
Ich setzte mein freundlichstes Lächeln auf und streckte die Hand aus. »Morgan Kingsley«, sagte ich betont munter und aufgeräumt. »Sie müssen Mr Jenkins sein.«
Er schüttelte meine Hand und nickte wenig erfreut.
»Sie sind wohl auf dem schnellsten Wege hierher und haben es nicht mehr ins Hotel geschafft«, sagte er, ohne dass sein Blick sich aufhellte.
Das stimmte – allerdings hätte ich mir auch nichts anderes angezogen, wenn ich bereits im Hotel gewesen wäre. »Ich hielt es für das Beste, wenn wir die Sache so schnell wie möglich hinter uns bringen«, sagte ich. Auch das entsprach der Wahrheit. Kaum vorstellbar, was die Eltern des Mädchens gerade durchmachten. Ganz abgesehen von der Kleinen selbst: gefangen in einem Körper, der ihr nicht mehr gehorchte, eine hilflose Mitreisende auf der Amoktour eines wild gewordenen Dämons.
Man nahm an, dass der Körper des New Yorker Gangsters von einem illegalen Dämon besessen gewesen war, der drei Menschen ermordet hatte und sich auf der Flucht vor der Polizei befand. Als er mit Lisa zusammenstieß, glaubte er einen perfekten Weg gefunden zu haben, um seinen Verfolgern zu entkommen. Er wollte den Körper des kleinen Mädchens als unverdächtiges Transportmittel benutzen, um unbemerkt über die New Yorker Stadtgrenze zu gelangen, und sich dann später einen neuen, für seine Zwecke besser geeigneten Körper suchen. Die Polizei hatte es schließlich doch noch geschafft, den flüchtenden Gangster zu fassen. Aber da war sein Gehirn schon nur noch Brei gewesen.
»Also, dann wollen wir’s mal angehen«, sagte Jenkins, immer noch mit demselben finsteren Blick wie eben. Mit meinen 1,75 Meter war ich fast einen Kopf größer als er. Und ich bekam langsam das Gefühl, dass ihm das nicht sonderlich gefiel. Eigentlich schien ihm überhaupt nichts an mir zu passen. Wahrscheinlich roch ich für seinen Geschmack einen Tick zu sehr nach Großstadt.
Ohne ein weiteres Wort führte er mich durch die Stahltür und mitten ins Herz des Sicherungscenters.
Warum war ein kleines Kaff wie Topeka, wo in den vorhergehenden fünf Jahren nicht mehr als zwei illegale Dämonen aufgetaucht waren, mit einem eigenen Sicherungscenter ausgestattet? Die Antwort war einfach: Weil die Menschen in Kansas nicht viel für Dämonen übrig hatten – egal, ob es sich dabei um legale oder illegale handelte. Hier gab es so viele Anhänger des biblischen Glaubens, wonach Dämonen Abgesandte des Satans sind, dass die Hinrichtung von Besessenen noch immer nicht für ungesetzlich erklärt worden war. Und die Bevölkerung wollte für den Fall gewappnet sein, dass sich die Chance auftat, die Welt von solch einer Missgeburt zu befreien.
Was hieß das für mich? Es bedeutete, dass das Personal in dem Center zwar speziell für seine Aufgabe geschult war, aber über nur wenig bis gar keine praktische Erfahrung verfügte. Anzeichen dafür sah ich auf meinem Weg zum Hinrichtungsraum jedenfalls reichlich.
»Mr Jenkins«, sagte ich, als wir vor der Tür zum Hinrichtungsraum Halt machten und er den Nummerncode eintippte. »Warum tragen Ihre Leute bei der Bewachung eines illegalen Dämons keine Handschuhe?« Ein körperloser Dämon braucht das ausdrückliche Einverständnis eines Menschen, um von ihm Besitz zu ergreifen. Ein Dämon, der jedoch bereits einen Wirt gefunden hat, vermag durch bloßen Hautkontakt von einem Menschen auf den anderen überzuspringen. Versucht man, einen illegalen Dämon in Schach zu halten, sollte deshalb im Umkreis von hundert Metern kein Mensch mehr Haut zeigen als unbedingt nötig.
Jenkins sah mich ärgerlich an – jetzt hatte ich auch den letzten Rest Sympathie verspielt. »Ich kann Ihnen versichern, dass wir diesen Dämon vollkommen unter Kontrolle haben, Ms Kingsley.«
Ich hätte ihn ohne weiteres an die vielen Fälle erinnern können, bei denen ein Dämon, den man angeblich »unter Kontrolle« hatte, seinen Bewachern entkommen war und großen Schaden angerichtet hatte. Aber das verkniff ich mir lieber. Der Chef der örtlichen Sicherungseinheit schien mir momentan nicht sehr offen für konstruktive Kritik zu sein.
Die Tür gab ein paar Klick- und Knarrgeräusche von sich, dann schob Jenkins sie auf. Dabei zischte sie leise, als sei der Raum dahinter luftdicht verschlossen gewesen.
Schon dass die Wachleute keine Handschuhe trugen, war mir unprofessionell vorgekommen. Aber ich hatte keine Ahnung, wie unprofessionell es hier zuging – bis ich den Hinrichtungsraum betrat.
Man hatte Lisa Walker auf einen Stahltisch gefesselt. Der Tisch hatte Rollen an den Füßen und stand mit dem Fußende direkt vor zwei schweren Schwingtüren aus Metall, hinter denen die Brennkammer des Hinrichtungsraums lag. So hatte die arme Kleine ständig den Brennofen vor Augen, in dem man sie bei lebendigem Leibe braten würde, falls es mir nicht gelang, sie von ihrem Dämon zu befreien.
Vom vielen Weinen waren die Wimpern und feinen blonden Haare des Mädchens ganz verklebt. Es zitterte vor Angst am ganzen Leib, und sein Anblick versetzte mir einen so heftigen Stich, dass ich mich zwingen musste, nicht laut aufzustöhnen. Ich ermahnte mich, dass dort auf dem Tisch möglicherweise ein Dämon lag, der das Aussehen eines zutiefst verstörten kleinen Mädchens auf Oscarreife Weise nachahmte. Wodurch ich mich kaum besser fühlte.
Selbst wenn das Kind nicht besessen war: Von dieser traumatischen Erfahrung würde es sich vermutlich nie wieder erholen. War es tatsächlich besessen, dann stellte dieser Vorfall einen neuen Tiefpunkt im Verhalten der dämonischen Rasse dar.
Aber es war nicht Lisa Walkers Anblick, der mich am meisten entsetzte, sondern dass am anderen Ende des Raumes ihre Eltern saßen – eng zusammengerückt wie zwei Schiffbrüchige auf einer Bank. Mrs Walker konnte kaum noch aus den Augen gucken, so verquollen waren sie vom vielen Weinen. Und auch Mr Walkers Gesicht war blass und angespannt.
Ich drehte mich wütend zu Jenkins um. »Sie wollen die Eltern zusehen lassen? Sind Sie übergeschnappt?«
Ein Exorzismus ist kein schöner Anblick. Für gewöhnlich geht es dabei nicht ohne Jammern und Schreien ab. Für welches der Dämon sorgt, nicht ich. Außerdem ist es in 75 bis 80 Prozent der Fälle so, dass der Wirt die Prozedur nicht überlebt – oder wenn doch, dann nur als im Wachkoma vor sich hindämmernde Kreatur. Bisher hatte noch niemand eine verlässliche Methode gefunden, um vorherzusagen, welcher Wirt das Verfahren einigermaßen unbeschadet überstehen würde und welcher nicht.
»Das Mädchen ist schließlich die Tochter der beiden«, sagte Jenkins und plusterte sich zu seiner vollen, nicht gerade beeindruckenden Größe auf. »Außerdem müssen sie die Einwilligungserklärung unterschreiben, wenn Sie scheitern.«
Ich sah auf Lisa Walker hinab und spürte, wie sich ein dicker Kloß in meinem Hals bildete. Ich verabscheue Dämonen. Für die legalen habe ich kaum mehr übrig als für die illegalen. Aber meine Einwilligung geben, ein elf Jahre altes Mädchen bei lebendigem Leibe zu verbrennen, um einem Dämon den Garaus zu machen – ich glaube, dazu wäre nicht einmal ich in der Lage gewesen. Besonders wenn es sich bei dem Mädchen um meine eigene Tochter handelt!
»Die Erklärung hätten Sie sich genauso gut vorher unterschreiben lassen können«, zischte ich. Meine Sympathie für Jenkins war jetzt auf dem gleichen Niveau angekommen wie seine für mich.
»Trotzdem«, beharrte er. »Abschied nehmen würden die beiden so oder so wollen.«
Ich blickte zu den Eltern hinüber, die noch kein einziges Wort an mich gerichtet hatten. Sie schafften es nicht einmal, mich anzusehen. Nicht dass ich es ihnen verdenken konnte. Plötzlich wünschte ich mir doch, etwas seriöser gekleidet zu sein. Meine Jeans und mein Pulli wirkten bestimmt nicht gerade vertrauenerweckend auf die beiden.
Doch wenn ich sie jetzt weiter warten ließ, würde ich alles nur noch schlimmer machen. Also setzte ich meine Tasche ab und zog den langen Ledermantel aus. Ich sah mich nach einem Platz um, wo ich den Mantel hinlegen könnte, entdeckte aber keinen, und Jenkins machte keine Anstalten, ihn mir abzunehmen. Das war kindisch von ihm, aber schließlich hatte ich ihn und seine Einrichtung kritisiert. An seiner Stelle hätte ich mich wahrscheinlich genauso albern verhalten.
Ich legte den Mantel auf den weißen Kachelboden – der so blitzblank aussah, als könnte man davon essen – und zog dann den Reißverschluss meiner Tasche auf. Ein erstickter Seufzer aus Mrs Walkers Richtung ließ mich zusammenzucken. Im Laufe meiner Karriere war ich nur dreimal an der Austreibung eines Dämons gescheitert. Aber in keinem dieser Fälle war ich in einem Hinrichtungsstaat zu Werke gegangen -und in keinem hatte sich der Dämon im Körper eines kleinen Mädchens eingenistet. Sollte ich diesmal scheitern, wäre das in mehr als einer Hinsicht eine Katastrophe …
Der Hinrichtungsraum war so leer und kahl, dass ich die Kerzen nirgendwo anders aufstellen konnte als auf dem Boden. Ich hätte Jenkins bitten können, mir ein paar Tische herbeizuschaffen, aber eigentlich war es egal, wo die Kerzen standen – und jeder im Raum wäre bestimmt froh, wenn ich so schnell wie möglich mit meinem Zauber beginnen würde.
Jeder Exorzist hat eine eigene Zeremonie, die ihm hilft, sich in Trance zu versetzen. Manche dieser Zeremonien können ziemlich aufwendig sein und beinhalten spezielle Gewänder, Gesänge, Weihrauch – das ganze pseudomagische Brimborium. Meine Zeremonie ist hingegen denkbar einfach. Ich verteile Duftkerzen mit Vanillearoma im Raum und schalte das Licht aus. Dann gehe ich zu dem besessenen Menschen, lasse meine Hände ungefähr zwanzig Zentimeter über seinem Körper schweben und schließe die Augen.
Normalerweise muss ich nur einmal tief Luft holen, um in Trance zu lallen. Doch an diesem Tag fiel es mir schwerer als sonst. Jenkins hatte angefangen, nervös an dem kleinen Plastikausweis an seiner Brust herumzuspielen. Das dadurch entstehende Geräusch war nicht besonders laut, aber nervtötend. Außerdem konnte ich hören, wie am anderen Ende des Raums Mrs Walker leise vor sich hin schniefte. Ich stellte mir vor, wie die kleine Lisa Walker auf ihrem Tisch in den Brennofen geschoben wurde. In meinem Kopf konnte ich sie bereits schreien hören.
Abermals sog ich tief die nach Vanille duftende Luft ein und rief mir die Tatsache ins Gedächtnis, dass heutzutage niemand mehr in einer Brennkammer hingerichtet wurde, ohne vorher betäubt zu werden – also wären gar keine Schreie zu hören. Viel erträglicher wurde die Vorstellung dadurch allerdings nicht.
Noch nie hatte ein so großer Erfolgsdruck auf mir gelastet, und ich merkte, wie sich leise Panik in mir breitmachte.
In dem Moment begann Lisa Walker zu reden.
»Was macht ihr mit mir?«, fragte sie mit zittriger Kleinmädchenstimme. »Mami – was ist los?«
Ich verlor auch das letzte bisschen Konzentration und öffnete die Augen. Lisa blickte mich aus rotgeränderten, kornblumenblauen Augen an. Sie sah aus wie das Innbild kindlicher Unschuld. Doch was sie gesagt hatte, und wie sie es gesagt hatte, schien mir etwas zu deutlich darauf abzuzielen, mein Mitleid zu erregen. Ich sah sie mir genau an und erkannte, wie sich hinter ihren Augen etwas regte. Etwas, das keineswegs unschuldig und kindlich war. In dem Moment wusste ich, dass die Diagnose stimmte: Dieses kleine Mädchen war von einem Dämon besessen. Von einem Dämon, der keine Skrupel hatte, den Körper eines Kindes zu benutzen wie einen Wegwerfartikel. Sobald er einen besseren Wirt fand, würde er aus Lisas Körper herausschlüpfen – und sich einen Dreck darum scheren, dass er sie vielleicht um den Verstand gebracht hatte oder sogar ums Leben.
Ich lächelte zynisch. »Großer Fehler«, flüsterte ich und betete, dass Lisas Eltern mich nicht hören konnten. »Du hättest besser den Mund gehalten.«
Lisas kindlicher Schmollmund öffnete sich verblüfft. Ich schloss meine Augen und fiel umgehend in Trance. Die Wut machte es einfacher. Aus der Ferne hörte ich die Kleinmädchenstimme jammern und mich und Lisas Mutter um Hilfe anflehen. Aber ich war zu weit weg, um mehr als einzelne Wortfetzen zu verstehen.
Wenn ich in Trance bin, sehe ich die Welt mit anderen Augen – mit Augen, die einer anderen Dimension angehören. Alles wirkt anders. Einfacher. Ich kann keine Gegenstände mehr wahrnehmen, sondern nur noch Lebewesen, und diese als verschwommene, in einer der vier Grundfarben leuchtende Umrisse. Menschen nehmen unter diesem »Blick aus dem Jenseits«, wie ich ihn manchmal nenne, eine blaue Färbung an. Jenkins zum Beispiel leuchtete in dunklem, gleichmäßigem Blau, wie ein Mensch, der ruhig und ausgeglichen ist. Sollte ihm diese Situation irgendwie an die Nieren gehen, konnte ich es nicht erkennen. Lisas Eltern hingegen waren vollkommen mit den Nerven fertig. Ihre Auren schimmerten in jedem Blauton, den man sich nur vorstellen konnte.
Die Aura auf dem Tisch unter meinen Händen jedoch schimmerte blutrot. Es war die Aura eines Dämons – und sie war so übermächtig und intensiv, dass darunter nicht der geringste Blauton mehr auszumachen war. Die Aura wand sich verzweifelt hin und her, und ich begriff, dass der dazugehörige Körper versuchte, sich aus seinen Fesseln zu befreien. Der Dämon hatte den Ernst der Lage erkannt und unternahm einen Fluchtversuch. Ich betete, dass die Wachen nicht zu zimperlich gewesen waren, als sie der kleinen Lisa die Fesseln anlegten. Manche Dämonen verfügen über so übermenschliche Kräfte, dass sie Stahl verbiegen können. Aber das wussten hoffentlich selbst unerfahrene Wachleute.
Ich hörte das Geräusch ächzenden Metalls. Panik stieg in mir auf. Der Bursche war ganz schön stark. Und verzweifelt. Hinter mir schrie jemand erschrocken auf. Der gelbe Farbton der Angst mischte sich in das Blau der Menschen um mich herum und ließ sie beinah grün erscheinen.
Ebenso wie jeder Exorzist eine eigene Zeremonie hat, um sich in Trance zu versetzen, besitzt auch jeder ein eigenes Vorstellungsbild, das ihm dabei hilft, einen Dämon aus dem Körper eines Menschen auszutreiben. Mein Vorstellungsbild ist Wind.
Ich stellte mir vor, wie ein Windstoß von der Stärke eines Wirbelsturms die rote Aura unter meinen Händen erfasst. Für jeden dahergelaufenen Durchschnittsdämon wäre das vollkommen ausreichend gewesen. Aber dieser Bastard war zäh. Die Aura schwankte nicht einmal, und von weither hallte verächtliches Gelächter.
Wieder nahm ich erschrockene Schreie um mich herum wahr, und wieder ächzten die Stahlfesseln unter den Ausbruchsversuchen des Dämons. Das Herz schlug mir bis zum Hals, und so starke Angst stieg in mir auf, dass ich mich nur noch mit Mühe konzentrieren konnte.
Bei keinem der drei Dämonen, die sich meinen Austreibungsversuchen erfolgreich widersetzt hatten, hatte auch nur ansatzweise die Gefahr bestanden, dass sich der Dämon von seinen Fesseln befreit – wofür ich ehrlich dankbar war. Ich mochte die Geißel und Plage der Dämonen dieser Welt sein – aber auch ich war keineswegs scharf darauf, im selben Raum mit einem freilaufenden Dämon gefangen zu sein, der dringend einen neuen Wirt sucht.
Die Angst, die von Jenkins und den Walkers ausging, zerrte an meinen Nerven, stärker noch als meine eigene Angst. Die drei schaukelten sich gegenseitig in ihrer Panik hoch. Ich betete, dass Jenkins keine Dummheit beging – wie zum Beispiel die Tür nach draußen zu öffnen, um sich in Sicherheit zu bringen.
Kaum hatte ich den Gedanken formuliert, da tat er genau das. Meine Konzentration riss wie ein überdehntes Gummiband, und ich wachte gerade rechtzeitig aus meiner Trance auf, um sehen zu können, wie Jenkins die Walkers aus dem Zimmer schob und dann selbst durch die Tür verschwand.
Wenigstens war er geistesgegenwärtig genug, sie hinter sich zuzuziehen. Der Dämon auf freiem Fuß in den Gängen des Sicherheitscenters, umgeben von diesen grünschnäbligen, bis an die Zähne bewaffneten Wachleuten – dieses Szenario wollte ich mir gar nicht erst ausmalen.
Als ich auf den Tisch hinuntersah, blieb mir fast das Herz stehen.
Lisas dünne Ärmchen und Beinchen wurden von dicken, am Tisch festgeschraubten Stahlklammern gehalten, und auch über ihrem Bauch lag eine große Stahlklammer. Zwar war es ihr noch nicht gelungen, sich aus ihren Fesseln zu befreien, aber sie hatte so stark daran gezerrt, dass sich der Stahltisch verzogen hatte. Blut troff von ihren Knöcheln und Handgelenken – dem Dämon war es offensichtlich egal, wie er diesen wehrlosen kleinen Körper zurichtete. Lisa entblößte die Zähne und fauchte wie eine Katze. Wieder ächzte das Metall.
Ich holte mühsam Luft und schloss die Augen. Wenn ich mich nicht beeilte, würde dieses Ding seine Fesseln sprengen. Und dann konnte es passieren, dass ich selbst zum unfreiwilligen Wirt eines illegalen Dämons wurde.
Schweiß lief mir den Rücken hinunter. Ich versuchte mich zu beruhigen. Mein Leben hing davon ab.
Mich wieder in Trance zurückzuversetzen, fiel mir leichter als erwartet. Erstaunlich, wozu man in der Lage ist, wenn es um Leben und Tod geht. Wieder versuchte ich, die Aura des Dämons mit einem starken Windstoß wegzufegen. Sie erzitterte kurz, blieb aber an ihrem Platz.
Das Metall schien mittlerweile nicht mehr nur zu quietschen und zu ächzen, sondern schon lauthals zu schreien. Ich spürte einen beinah übermächtigen Drang, die Augen zu öffnen und nachzusehen, wie weit dieses Ding mit seinen Befreiungsversuchen bereits gekommen war. Aber ich schaffte es, mich zusammenzureißen.
Eine kleine, zartgliedrige Hand griff nach mir und umschloss meinen Unterarm mit der Kraft einer Schraubzwinge. Doch zwischen der Hand und meinem Arm lag zum Glück der Ärmel meines Pullis – es bestand also kein direkter Hautkontakt.
Ich zwang mich, nicht laut aufzuschreien, und ließ einen weiteren Windstoß auf die Aura niedersausen. Der Dämon quetschte meinen Arm so brutal zusammen, dass ich die blauen Flecken förmlich entstehen sah. Doch irgendwie gelang es mir, in Trance zu bleiben.
Mir brannte die Lunge, und mein Herz raste. Ich hatte so viel Angst, dass ich sie förmlich auf der Zunge schmecken konnte. Aber ich durfte die Angst nicht überhandnehmen lassen – sonst war es aus mit mir.
Ich versuchte meine ganze Kraft zu bündeln, um einen letzten Anlauf zu unternehmen. Wieder schrie das Metall laut auf, und ich wurde von einer zweiten Hand gepackt.
Fast hätte ich die Beherrschung verloren und zu früh meinen nächsten Windstoß auf den Dämon losgelassen. Aber mir blieb nur noch dieser eine Versuch. Gelang es mir nicht, ausreichend Kraft in diesen letzten Stoß zu legen, war ich geliefert. Also unterdrückte ich meine spontane Reaktion und hielt die Konzentration noch ein paar Sekunden länger.
Ich spürte, wie der Stoff an meinem Ärmel riss und Lisas kleine Hand meine nackte Haut berührte.
Ich schrie lauter als jemals zuvor in meinem Leben, gepackt von übermächtiger Furcht und Abscheu. Das war immer meine schlimmste Angst gewesen. Ein Dämon, der in meinen Körper eindringt, sich meiner bemächtigt und alles zerstört, was meine Persönlichkeit ausmacht – ohne mich wirklich zu töten …
Ich ließ meine ganze gesammelte Energie auf den Dämon los, auch wenn ich wusste, dass es eigentlich schon zu spät war. Dämonen brauchen noch nicht einmal die Zeit eines Wimpernschlags, um von einem Körper auf den anderen überzuspringen. In dem Moment, als der Dämon mich berührte, war es bereits um mich geschehen.
Die blutrote Aura schoss meinen Arm hinauf. Doch im Bruchteil einer Sekunde, bevor ich meinen letzten Windstoß abfeuerte, wich sie wieder zurück.
Ich hatte meine ganze Kraft in diesen letzten Stoß gelegt. Die Aura zerbarst in Millionen winzige Farbpunkte – und war verschwunden.
Ich öffnete die Augen und konnte kaum fassen, dass ich tatsächlich noch ich selbst war.
Der Boden schwankte unter meinen Füßen, und meine Beine knickten weg. Alles lief wie in Zeitlupe ab. Trotzdem schaffte ich es nicht rechtzeitig, den Sturz mit den Händen abzufangen. Ich schlug hart mit dem Kopf auf dem kalten Kachelboden auf, und um mich herum wurde es schwarz.