25
Der Raum war unbewacht. Ich glaube, das deutete jeder von uns als schlechtes Zeichen, dennoch ergriffen wir nicht die Flucht. Wenn man uns eine Falle gestellt hatte, waren wir sowieso längst hineingetappt.
Brian war immer noch geknebelt und an die Wand gekettet. Sein Bauch war blutverkrustet. Sein Kopf hing herab, und mir krampfte sich das Herz zusammen, als ich die Brandwunden in seinen Achseln sah.
Mit Tränen in die Augen lief ich zu ihm. »Brian!«, rief ich, legte ihm die Hände auf die Brust und stellte erleichtert fest, dass ich seinen Herzschlag tasten konnte. Aus seiner tiefen Ohnmacht konnte ich ihn mit meiner Berührung jedoch nicht wecken.
Dom und ich hielten ihn aufrecht, während Adam ihn von seinen Ketten befreite. Sein Körper war schlaff wie ein nasser Sack.
»O Gott, was ist mit ihm?« Ich hatte mich von einer Sekunde auf die andere in ein zitterndes Nervenwrack verwandelt und konnte kaum einen klaren Gedanken fassen.
Dom fuhr mit dem Finger über Brians Armbeuge und entdeckte einen kleinen Bluterguss. »Sie haben ihn unter Drogen gesetzt«, sagte er. »Lasst uns so schnell wie möglich von hier verschwinden. Wir können später klären, was sie ihm verabreicht haben.«
Adam bückte sich, warf sich Brians reglosen Körper über die Schulter und ging Richtung Tür. Seinen Bewegungen war die Last kaum anzumerken.
Ich entdeckte Brians Kleider auf einem Haufen in der Ecke des Raums und hob sie auf. Es würde nicht besonders unauffällig aussehen, einen halbnackten, blutverschmierten Mann aus dem Club zu tragen. Allerdings hatten wir kaum die Zeit, ihm etwas anzuziehen.
Adam lief nicht in Richtung der Treppe, die zum Hauptraum des Clubs führte, sondern bog nach links ab, in die entgegengesetzte Richtung. Ich nahm an, dass wir zum »Notausgang« wollten. Ein paar von den Perversen, die sich in dem Gang die Show ansahen, drehten sich nach uns um und gaben überraschte Laute von sich, aber niemand folgte uns.
Adam hielt mir den kleinen Schlüssel hin, den Shae ihm gegeben hatte, und ich nahm ihn an mich. Wir bogen um eine Ecke und stürmten in einen anderen Raum, der von dem Gang abging. Dieser war ausgestattet wie das Behandlungszimmer eines Arztes, nur dass an den Fußbügeln, die von dem Untersuchungstisch abstanden, auch Fußfesseln angebracht waren. Ich schauderte und zwang mich, nicht genauer darüber nachzudenken.
»Hier!«, sagte Adam und zeigte auf einen geschlossenen Schrank.
Ich fragte nicht lange und schob schnell den Schlüssel ins Schloss, während Dominic gleichzeitig den Schrank seitlich packte und zur Seite zog.
Das ganze Teil schwang von der Wand weg, und dahinter kam ein geheimer Durchgang zum Vorschein. Ich sah Adam fragend an.
»Hier passieren illegale Dinge«, erklärte er. »Manchmal brauchen die Kunden einen geheimen Fluchtweg.«
Wenn das alles vorüber war, musste ich mich unbedingt mit Adam darüber unterhalten, ob es wirklich der Weisheit letzter Schluss war, Shae hier weiter ihren Geschäften nachgehen zu lassen.
Wir schlüpften in den Geheimgang und zogen die Tür hinter uns zu. Sofort verstummten die Schreie und mit ihnen auch all die anderen ekelhaften Geräusche – obwohl ich sie ehrlich gesagt so vollständig ausgeblendet hatte, dass sie mir erst wieder bewusst wurden, als die Tür zuging und sie plötzlich nicht mehr da waren.
Wir zögerten weiterzugehen und sahen einander beunruhigt an.
»Das war zu einfach«, sagte ich und sprach damit aus, was nur allzu offensichtlich war.
Adam und Dominic nickten. Dann sprach Adam aus, was nicht weniger offensichtlich war.
»Trotzdem können wir jetzt nicht mehr zurück. Wir haben keine andere Wahl, als weiterzugehen.« Er machte einen ersten Schritt den Gang hinab und sah mich über die Schulter hinweg an. »Bleib hinter uns.«
Ich ließ die beiden vorangehen. Mein Herz schlug so laut in meinen Ohren, dass ich kaum etwas anderes hören konnte. Wie viel Zeit war inzwischen vergangen? Hatte Shae schon angerufen? Mussten wir uns darüber überhaupt Sorgen machen?
All diese Fragen schwirrten wie aufgescheuchte Fliegen in meinem Kopf herum. Doch eine Antwort hatte ich auf keine davon.
Wir hatten mindestens schon einen Kilometer in dem unterirdischen Gang zurückgelegt, als wir schließlich eine Treppe erreichten, die nach oben führte. Ich betete zu Gott, dass es sich dabei um den Ausgang handelte.
Adam ging voran und nahm trotz Brians Gewicht mit jedem Schritt zwei Treppen auf einmal. Dominic folgte ihm dicht auf den Fersen, und ich bildete das Schlusslicht.
Ich hatte kaum den Fuß auf die Treppe gesetzt, als ich ein vertrautes Geräusch hörte. Den Knall eines Tasers.
Erst gab Adam einen grunzenden Laut von sich, dann Dominic einen kurzen Schrei – und schon kamen mir beide samt dem bewusstlosen Brian entgegengestürzt. Ich versuchte, schnell zur Seite zu springen. Doch Dominic riss mich um, und ich landete so hart auf dem Steiß, dass ich mir auf die Zunge biss.
Dominic versuchte, schnell wieder auf die Füße zu kommen. Da hörte ich ein gedämpftes Ploppen. Im selben Moment schrie Dominic ein zweites Mal auf und umklammerte seinen Oberschenkel, aus dem ein Strahl Blut schoss.
Ich blickte die Treppe hinauf und sah eine mit Maske und Kapuze vermummte Gestalt, die eine Pistole mit Schalldämpfer auf Dominics Kopf gerichtet hielt. Dahinter kamen zwei weitere maskierte Gestalten die Treppe hinunter. Eine davon hatte den Taser in der Hand.
Adam lag reglos am Boden. Brian lag halb auf ihm, immer noch ohnmächtig und reglos. Dominic hielt sich sein angeschossenes Bein und stöhnte vor Schmerzen.
»Wenn du versuchst wegzulaufen«, sagte die Gestalt mit der Pistole, deren Stimme ich sofort als Andrews erkannte, »töte ich die beiden Menschen.« Er richtete die Pistole auf Brian, und ich hätte beinahe aufgeschrien. Aber ich wollte nicht, dass er vor Schreck vielleicht abdrückte.
Er sah mich eindringlich an, und mir fiel auf, dass er aus irgendeinem Grund grüne Kontaktlinsen trug. Doch ich hatte keinerlei Zweifel, dass sich Andrew hinter der Maske verbarg, trotz der veränderten Augenfarbe.
»Steh langsam vom Boden auf«, befahl er mir, während ein weiterer Maskenmann die Treppe herunterkam. Somit umringten sie mich zu viert.
Ich war mir nicht sicher, ob ich mich auf den Beinen halten konnte, aber ich wollte nicht wissen, was Andrew tun würde, wenn ich ihm nicht gehorchte. Ich schaffte es, auf die Füße zu kommen, und stand meinem Bruder gegenüber. Oder Lughs Bruder – je nachdem, aus welchem Blickwinkel man es betrachtete.
»Tu, was ich sage, dann wird niemand verletzt«, erklärte Andrew.
Ich sah demonstrativ zu Brian, der bewusstlos und verstümmelt am Boden lag, dann zu Dominic, der sich sein blutendes Bein hielt. »Und wie nennst du das hier?«, fragte ich. Meine Stimme zitterte, aber trotzdem hatte ich das Gefühl, ziemlich tapfer zu klingen.
»Sie werden’s überleben«, sagte Andrew kühl. »Alle werden es überleben, wenn du gehorchst.«
Welchen Grund sollte ich haben, ihm zu glauben? Gar keinen – außer, dass es meine einzige Hoffnung war. Also wehrte ich mich nicht, als Maskenmann Nummer drei mich packte und mir Handschellen anlegte. Kaum hatte ich die Handschellen an, steckte Andrew die Pistole weg.
Natürlich war ich nicht so dumm zu glauben, es mit vier Männern aufnehmen zu können, von denen mindestens einer ein Dämon war. Selbst ohne die Hände auf den Rücken gefesselt zu haben, wäre das ziemlich aussichtslos gewesen. Doch an diesem Punkt hatte ich nichts mehr zu verlieren.
Ich trat dem Mann, der mir die Handschellen angelegt hatte, auf den Fuß und brachte ihn wenigstens dazu, einen gehörigen Fluch auszustoßen. Aber in dem Moment war Andrew auch schon bei mir und hatte mich gepackt. Ich versuchte vergeblich, mich aus seinem Griff zu befreien, während er mich die Treppe hinaufzerrte.