23
Kaum fiel die schwere Tür hinter uns ins Schloss, war von der dröhnenden Musik nichts mehr zu hören. Nur noch das schreckliche Geräusch menschlicher Schreie drang zu uns nach oben. Die anderen stiegen ohne zu zögern vor mir die Stufen hinab, doch ich konnte plötzlich meine Füße nicht mehr dazu bringen, sich auch nur einen Millimeter zu bewegen, und verharrte am Kopf der Treppe.
Das einzige Licht kam von echten Fackeln, die mit Hilfe schmiedeeiserner Halter an den Wänden angebracht waren, und Letztere bestanden aus genau denselben grobbehauenen Steinblöcken, wie sie in jenem abscheulichen Video zu sehen gewesen waren. Die Stufen der Treppe waren schief und krumm und in der Mitte stark abgelaufen, als hätten diese Kellerräume schon lange vor dem Rest des Clubs existiert. Vielleicht war es tatsächlich so.
Dominic warf einen Blick über die Schulter und bemerkte mein Zögern. Während vor ihm Shae und Adam unbeirrt weiter hinabstiegen, blieb er stehen und streckte mir die Hand entgegen.
Ich schluckte meine Angst so gut es ging hinunter und zwang mich, erst eine Stufe hinabzusteigen, dann eine weitere. Ich hatte weiche Knie, und dass die Stufen so schiel und meine Absätze so hoch waren, machte die Sache nicht gerade einfacher. Ich war so zittrig, dass ich tatsächlich Dominics Hand ergriff. Sie fühlte sich klamm an, und ich war mir nicht hundertprozentig sicher, wer hier wem Mut machen sollte.
Der Keller lag tiefer unter der Erde als jeder andere Keller, in dem ich jemals gewesen war, und je tiefer wir hinabstiegen, desto lauter und deutlicher wurden die Geräusche. Schreie hallten von den alten Steinmauern wider, doch es gab auch andere Laute. Das Knallen einer Peitsche. Fleisch, das auf anderes Fleisch klatschte. Und viel Gestöhne, das nicht in jedem Fall von Schmerzen herrührte.
Ich wollte die letzten paar Stufen nicht hinuntersteigen, wollte den Keller nicht sehen, den Adam und Dom mir beschrieben hatten.
Doch ich hatte keine Wahl.
Die Treppe führte zu einem langen breiten Gang hinab, von dem rechts und links Türen abgingen. Entlang der Mitte waren gepolsterte Bänke aufgestellt, wie man sie oft in Museen findet. Nur setzte man sich auf diese nicht, um sich berühmte Kunstwerke anzusehen.
Sämtliche Zimmer dieser Höllengrube waren zum Gang hin mit einem großen Panoramafenster versehen, wie die Schauräume in einem Naturkundemuseum. Allerdings waren die hier gezeigten Szenen nicht besonders »natürlich«, wenn Sie verstehen, was ich meine.
Gleich vor dem ersten dieser Fenster hatte sich eine Gruppe aus Schaulustigen gebildet. Einige hatten sich auf die Bänke gesetzt, andere knieten auf dem Boden, aber alle sahen mit gierigen, lustvollen Augen zu, was sich hinter dem Fenster abspielte. Aus dem Zimmer waren hohe, von einer Frau stammende Schreie zu hören. Bei jedem Schrei schien die Gruppe enger zusammenzurücken. Einzelne Zuschauer streckten ihre Hände aus und begannen an anderen herumzufummeln, bis alle zu einer formlosen Masse verschmolzen, die nichts Menschliches mehr an sich hatte. Allerdings waren ja auch viele von ihnen keine Menschen.
Es überraschte mich nicht, dass Shae und Adam vor dem Fenster stehenblieben, auch wenn ich mir inständig wünschte, sie würden einfach weitergehen. Was auch immer in jenem Zimmer vor sich ging, ich wollte es nicht sehen. Ich schluckte trocken. Dominic drückte beruhigend meine Hand. Dann stellten wir uns gemeinsam vor das Fenster, hielten uns dabei allerdings ziemlich im Hintergrund. Hätte uns jemand genauer beobachtet, hätte er sich vielleicht gefragt, was zwei solche Weicheier hier zu suchen hatten. Aber dafür waren alle zu sehr im Bann dessen, was sich auf der anderen Seite der Glasscheibe abspielte.
Ich wollte immer noch nicht hinsehen, doch das Spektakel zog automatisch meinen Blick auf sich.
Der Raum hinter dem Fenster war hergerichtet wie ein Klassenzimmer. Auf einer Seite standen mehrere Reihen ungemütlich aussehender Stühle mit Schreibtischen, auf der anderen hing eine große Tafel an der Wand. Vor der Tafel stand ein großer Lehrerschreibtisch, der mit Büchern und Papieren bedeckt war.
Ich blickte gerade rechtzeitig zu dem Tisch hinüber, um zu sehen, wie ein großer, etwa 40 Jahre alter Mann eine zierliche Frau darüberlegte. So, wie sie sich wehrte und um sich trat, dachte ich einen Moment lang, ihr Widerstand sei echt. Dann wurden meine Gefühle jedoch wieder von meinem Verstand eingeholt, und ich begriff, dass alles nur gespielt war.
Die Frau trug einen karierten Bundfaltenrock und ein gestärktes weißes Buttondown-Hemd, genau wie eine brave kleine Schülerin, und dazu die entsprechenden Kniestrümpfe und Lackschuhe. Hätte ich nicht schon anhand ihrer albernen Kostümierung gemerkt, dass sie schauspielert, wäre es mir spätestens aufgefallen, als sich durch ihr Gezappel ihr Rock hochschob und sich herausstellte, dass sie drunter nichts anhatte.
Der »Lehrer« schob die Bücher und Papiere beiseite, umfasste dann mit einer seiner fleischigen Hände die Handgelenke seiner »Schülerin« und drückte sie über ihrem Kopf auf den Tisch nieder. Ein regelmäßiges Klickgeräusch verriet mir, dass sich jemand aus dem Publikum einen runterholte. Ich biss die Zähne zusammen und zwang mich, meinen Blick nicht wandern zu lassen. Schon dem widerlichen Schauspiel hinter der Scheibe beiwohnen zu müssen war schlimm genug. Ich hatte keine Lust, mir auch noch die Orgie anzusehen, zu der es die Zuschauer anregte.
Genau in dem Moment, als mir dieser Gedanke durch den Kopf ging, konnte ich mich aber nicht davon abhalten, in Adams Richtung zu sehen.
Er sah der Szene mit ausdrucksloser Miene zu, wirkte weder erregt noch angewidert. Auf dem Gesicht von Shae jedoch, die sich bei Adam eingehakt hatte, war deutlich abzulesen, wie viel Vergnügen ihr diese vorgetäuschte Vergewaltigung einer Minderjährigen bereitete. Ich ließ den Blick abwärts gleiten und sah aufatmend, dass keinerlei entlarvende Beule an Adams Hose zu erkennen war. Dass ich darüber so erleichtert war, überraschte mich jedoch – schließlich wusste ich längst über seine unschönen Vorlieben Bescheid. Ich hatte seine Grausamkeit am eigenen Leib zu spüren bekommen. Warum sollte ich also froh darüber sein, dass ihn dieses Schauspiel nicht im Geringsten anturnte? Was zum Teufel scherte mich das?
Ich blickte zu Dominic hinüber und stellte fest, dass er die Augen auf den Fußboden gerichtet hielt. Ein Schweißtropfen lief an seiner Schläfe hinab, und er sah nicht einfach nur blass aus, sondern buchstäblich grün. Wie hatte er es nur ausgehalten, wenn er früher mit Adam hierhergekommen war?
Er konnte mir die Frage wohl am Gesicht ablesen, denn er beugte sich zu mir herab und flüsterte mir leise ins Ohr:
»Mir war dieser Ort schon immer zuwider«, gestand er. »Aber Saul hat mich abgeschirmt. Er sorgte dafür, dass ich nichts zu sehen bekam, was mich irgendwie verstören könnte.«
Ich verkniff mir meine Antwort nicht. »Aber er hatte kein Problem damit, dich hier in aller Öffentlichkeit ›auftreten‹ zu lassen, obwohl er wusste, dass du das nicht magst.«
Dominic schüttelte den Kopf. »Er hat mich nie dazu gezwungen. Ich erklärte mich einverstanden herzukommen, und er versprach, mich abzuschirmen, wenn er etwas tun wollte, was ich nicht mochte.« Ein leichtes Lächeln umspielte seine Mundwinkel. »Ich hatte eine Menge Spaß hier, wenn Adam die Vorhänge schloss.«
Erstmals bemerkte ich die schwarzen Vorhänge, die auf der Innenseite des Fensters hingen. Ich musste mir auf die Zunge beißen, um nicht irgendetwas zu sagen, was ich bereuen würde. Was genau meinte Dominic damit, wenn er sagte, Saul habe ihn »abgeschirmt«? In meiner Vorstellung sah ich, wie der Dämon diesen Körper aufs Widerlichste missbrauchte, während Dominic selbst sich in seliger Unwissenheit wiegte, und musste ein Schaudern unterdrücken. Nie und nimmer konnte ich mir vorstellen, jemandem genug zu vertrauen, um derartig die Kontrolle über mich abzugeben.
Doms Blick huschte kurz zu Shae hinüber. »Shae und Saul haben einander nie besonders gemocht. Sie hielt es für ein Zeichen von Schwäche, dass er so viel Rücksicht auf mich nahm.« Dominic schluckte mühsam, so dass man deutlich sehen konnte, wie sein Adamsapfel auf und ab hüpfte. »Ich glaube, sie ist nur deshalb zu uns an den Tisch gekommen, weil sie genau wusste, was sich hier unten gerade abspielte und welche Wirkung es auf mich haben würde.«
Oh, pfui Deibel! Ich hatte sie ohnehin schon nicht gemocht. Doch jetzt verachtete ich sie. Wie konnte ihr Adam nur erlauben, weiter ihren Geschäften nachzugehen? Klar, ich hab schon verstanden, wie das mit Spitzeln funktioniert, und weiß, dass sie manchmal ein notwendiges Übel sind. Aber es muss doch Grenzen geben, wie groß das Übel sein darf!
Die Szene, die ich so unauffällig zu ignorieren versuchte, erreichte jetzt sozusagen ihren Höhepunkt, und die Schreie des »Schulmädchens« nahmen einen anderen Ton an. Das Stöhnen und Seufzen der Zuschauer verriet mir, dass einige von ihnen den Gipfel mit ihr zusammen erklommen.
Als Shae sich umdrehte, um Dominic und mich anzusehen, war es mir unmöglich, meinen Ekel zu verbergen. Dom versuchte es erst gar nicht. Shae legte flüchtig einen Finger auf die Oberlippe, dann hakte sie sich wieder bei Adam ein und führte ihn weiter den Gang hinab.
Alles in mir verlangte danach, so schnell wie möglich wieder die Treppe hinaufzurennen. Stattdessen folgte ich den beiden ins Herz der Finsternis.
Hinter einem der Fenster, an denen wir vorbeikamen, waren die Vorhänge zugezogen. Dominic beugte sich unauffällig zu mir hinüber.
»Das ist die mittelalterliche Folterkammer«, flüsterte er.
Mein Herz machte einen Satz, und ich musste mich zwingen, weiterzugehen und so zu tun, als sei an dem Raum nichts Besonderes. Ich spitzte die Ohren, hörte jedoch keine Schreie aus dem Zimmer dringen. Ich betete, dass sie Brian in Ruhe ließen, und wünschte mir, wir könnten diesen kleinen Ausflug irgendwie beschleunigen.
Shae und Adam blieben vor einer der Türen stehen, und Shae kramte ein Schlüsselbund aus ihrer Tasche hervor.
Dominic stieß einen leisen Fluch aus.
Wie man sich leicht vorstellen kann, gefiel mir diese Reaktion überhaupt nicht.
Adam versperrte mit seinem massigen Körper den Eingang und starrte Shae wortlos ins Gesicht. Ich riskierte einen Blick durch das Fenster und versuchte, so gut ich konnte, eine gleichgültige Miene zu behalten.
Dieser Raum war bei weitem nicht so aufwendig ausstaffiert wie das Klassenzimmer. Sein Zweck war deswegen jedoch keineswegs weniger offensichtlich.
In der Mitte des Raumes stand ein gepolsterter, höhenverstellbarer Tisch, wie man ihn im Behandlungszimmer eines Arztes findet. Allerdings waren an den Tischbeinen breite Lederschnallen angebracht.
An einer der Wände hing ein umfangreiches Sortiment an Peitschen und Schlagpaddeln. Es erinnerte an Adams schwarzes Zimmer, wirkte aber noch abstoßender, weil es sozusagen für den öffentlichen Gebrauch bestimmt war. Ich betrachtete die Fesseln an den Tischbeinen und brauchte nicht lange, um zu begreifen, in welcher Position das Opfer an den Tisch gefesselt wurde.
»Danke, dass du uns den Raum umsonst benutzen lässt«, sagte Adam zu Shae, immer noch mit dem gleichen nichtssagenden Ausdruck im Gesicht.
»Oh, die Freude liegt ganz auf meiner Seite.« Ihr Grinsen war wölfisch und widerlich.
Die beiden starrten einander weiter an. Keiner von beiden gab nach, keiner sagte ein weiteres Wort. Ich blickte zu Dominic hinüber und sah, wie seine Backenmuskeln arbeiteten. Ich hatte den Verdacht, dass die Aussicht, sich allein mit Adam ein bisschen in diesem Raum zu »vergnügen«, durchaus seinen Reiz für ihn gehabt hätte. Aber nicht auf diese Weise.
Es war Adam, der schließlich als Erster den Blick abwendete, was mich überraschte.
»Ich werde den Vorhang zuziehen«, sagte er. »Wenn du willst, kannst du dein Gratisangebot gerne widerrufen, aber …«
Shae lächelte ihn an. »Lass uns am besten drinnen weiterreden«, sagte sie und wies auf das Zimmer.
»Shae …«
»Drinnen, Adam. Ich weiß, warum ihr hier seid, und ich denke nicht, dass wir uns im Gang darüber unterhalten sollten, oder?«
Ich traute meinen Ohren kaum.
Noch nie hatte ich gesehen, dass Adam unsicher wirkte, doch jetzt tat er es. Hätte ich mich nicht gefühlt, als habe mir gerade jemand eine Faust in den Magen gerammt, hätte ich bestimmt großen Spaß an dem Anblick gehabt. Shae stemmte die Hände in die Seiten und zog die Augenbrauen hoch.
»Lass uns hören, was sie zu sagen hat«, schlug Dominic vor. Er sah aus, als sei er außer sich vor Angst, und ich wünschte mir, ich hätte ihn nie in diesen Schlamassel mit reingezogen.
»Na gut«, sagte Adam, doch ich merkte, dass ihm die Sache nicht gefiel.
Dicht gefolgt von Shae betrat er das Zimmer. Dominic wollte den beiden ebenfalls folgen, doch ich hielt ihn am Ärmel fest.
»Dominic –«, sagte ich, aber er ließ mich nicht weiterreden.
»Was auch immer mir passiert: Ich habe mich freiwillig darauf eingelassen. Das kann man von deinem Brian nicht behaupten.«
Bei dem Gedanken, dass er bereit war, sich für einen Mann zu opfern, den er noch nicht einmal kannte, traten mir Tränen in die Augen. Natürlich war er auch bereit gewesen, einem Dämon als Wirt zu dienen und dadurch vielen Menschen das Leben zu retten, die er nicht kannte. Irgendwie lag es wohl in seiner Natur. Früher hätte ich ihn dafür verhöhnt. Doch jetzt begriff ich, wie selbstlos und heldenhaft sein Verhalten war, und wünschte mir, ich könnte all die bösen Dinge zurücknehmen, die ich zu ihm gesagt hatte.
Ich begnügte mich damit, unauffällig seine Hand zu drücken. »Du bist ein guter Mensch, Dominic.«
Er lächelte düster. »Warte, bis ich mich tatsächlich auf irgendetwas eingelassen habe, bevor du mich mit Dank überschüttest.«
Das klang vernünftig.
Ich atmete noch einmal tief ein, versuchte, die ekelhalten Geräusche auszublenden, die immer noch durch den Gang hallten, und betrat Shaes Spielzimmer. Dominic folgte mir und drückte die Tür hinter sich zu. Adam, er und ich standen gemeinsam Shae gegenüber, die ein zuhöchst selbstzufriedenes Lächeln im Gesicht trug.
»Wie wunderbar es ist, den Spieß einmal umdrehen zu können«, sagte sie und sah Adam dabei an. »All die Jahre hast du mir gedroht und mich gezwungen, das zu tun, was du wolltest. Aber jetzt bin ich an der Reihe.«
»Shae …«
»Halt’s Maul, Adam.« Ihr Lächeln war so lieblich wie das eines Haifischs. »Würde ich dich nicht so mögen, hätte ich sofort zum Telefon gegriffen, als ich hörte, dass ihr hier seid. Was für ein Dummkopf du doch bist – geradewegs in diese Falle zu tappen.«
Wenn ich bisher der Meinung gewesen war, dass mein Puls raste, dann erfuhr ich jetzt, was Rasen wirklich bedeutet. Wenn das hier eine Falle war, war ich so gut wie tot. Adam brauchte keine Waffe, um mich zu töten, und sobald er dachte, Lugh sei in Gefahr, würde er es ohne zu zögern tun. Ich dankte Gott, dass Adam mir nicht schon längst das Genick gebrochen hatte. Doch er blickte noch nicht einmal in meine Richtung.
»Ich bin ein Dummkopf?«, fragte Adam ungläubig. »Du lässt zu, dass ein Mensch hier festgehalten und gefoltert wird, und glaubst, dass ich ein Dummkopf bin?«
Sie zuckte mit den Achseln. »Ich gebe zu, dass ich ein gewisses Risiko eingegangen bin. Aber man hat mich gut für dieses Risiko bezahlt. Du kennst mich ja – Geld ist ein überzeugendes Argument.«
Bisher hatte ich mein Temperament im Zaum halten können, doch jetzt war es kurz davor, mit mir durchzugehen.
Adam kannte mich inzwischen wohl ganz gut. Denn bevor