DER WEISSE TOD
1.15 Uhr
Die Leitern hinunter kamen sie schneller voran, aber trotzdem waren es eine Menge Sprossen. Auch auf den Treppen ging es schneller; sie jagten im düsteren Licht der Notbeleuchtung durch das Treppenhaus, immer zwei, drei oder sogar vier Stufen auf einmal nehmend.
Dennoch kam es ihnen wie eine Ewigkeit vor, bis sie die Hauptaussichtsplattform wieder erreicht hatten.
Tane lief sofort zu der Tür, die zu den vielen Treppenhäusern im Hauptteil des Turms führte, aber Fatboy rief ihn zurück: »Komm mal her.«
Tane kehrte um. Fatboy stand an den Fenstern aus gehärtetem Glas, die das gesamte Deck umgaben, und starrte hinaus.
Tane folgte seinem Blick, und was er sah, verschlug ihm den Atem. Sein Herz begann zu rasen, und das Blut pochte in den Ohren. Seine Knie wollten nachgeben, und er musste sich auf das Geländer stützen.
Überall um ihn herum war die Welt weiß geworden.
Auckland lag unter einem Nebelmeer. Die gesamte Stadt – verschwunden. Alles, was sie im kalten Licht des Mondes sehen konnten, war die Oberseite einer riesigen Wattewolke. Steil unter ihnen drang ein rötliches Blinken durch den Nebel, und Tane erinnerte sich, dass dort mitten auf der Straße ein Löschzug der Feuerwehr stand.
»Haben wir ihnen genug Zeit gegeben?«, fragte Tane und schaute nach Süden.
»Ich denke schon«, antwortete Fatboy.
»Und was wird aus uns?«, fragte Tane mit schwacher, zittriger Stimme.
»Wir sind zu spät dran«, sagte Fatboy ruhig. »Für uns gibt es keinen Fluchtweg mehr. Es ist aus mit uns beiden.« Fatboy drehte sich zu ihm und schaute ihn an. »Aber nicht für Rebecca. Wenn sie es bis zum U-Boot geschafft hat, kann sie es auch bis zur Unterwasserhöhle schaffen. Und dann kann sie auch die Botschaften senden.«
»Nicht für Rebecca«, wiederholte Tane wie ein fernes Echo. Rebecca würde ein Leben ganz allein im U-Boot ertragen müssen, während über ihr die Welt verschwand. Und nur Rebecca würde die Botschaften in die Vergangenheit schicken.
Die Botschaften!
»Die Botschaften waren mit TR gezeichnet«, protestierte Tane schwach. »Tane und Rebecca! Nicht nur R!«
Fatboy starrte eine Weile schweigend auf den Nebel hinunter. »Wenn du Rebecca wärst, allein in einem U-Boot, und müsstest die Mitteilungen in die Vergangenheit an dich selbst und an deinen Kumpel Tane schicken«, sagte er langsam, »wie würdest du sie dann unterschreiben?«
Mit sinkendem Mut sah Tane ein, dass Fatboy recht hatte.
»Wir könnten doch einfach hier bleiben«, schlug er vor. »Abwarten, bis der Nebel weitertreibt.«
Fatboy schüttelte den Kopf und wies mit einer knappen Geste auf den Nebel. »Er steigt immer höher.«
Tane schaute seinen Bruder an. Schweigend. Und Fatboy erwiderte seinen Blick ohne jede Verlegenheit. Wie sehr ich mich doch in ihm getäuscht habe, dachte Tane, ich hätte ihm von Anfang an vertrauen sollen.
Fatboy sagte: »Du und Rebecca …«
»Nur gute Freunde …«, unterbrach ihn Tane schnell.
Fatboy lachte. »Sie mag dich, Tane, sie mag dich wirklich sehr. Das ist mehr als nur gute Freunde .«
»Nein, wirklich nicht. Wir sind nur einfach … Warum – was hat sie gesagt?«
»Nichts. Es ist nicht ihre Art, darüber zu sprechen. Aber ich kann es sehen.«
»Du täuschst dich«, sagte Tane.
»Nein, ich täusche mich nicht.« Fatboy schüttelte den Kopf. »Aber es wäre nicht richtig, wenn ich es dir jetzt nicht sagen würde. Gerade jetzt, wo wir …« Seine Stimme versagte, und sein Blick glitt wieder zum Nebel hinaus.
»Du hast mich immer beschützt«, sagte Tane heiser. »Ich hätte viel mehr …«
»Du hättest nichts anders machen sollen«, sagte Fatboy. »Ich wusste immer, wer du bist.«
Aber dieses Mal würde Fatboy ihn nicht beschützen können. Und er würde Fatboy nicht beschützen können. Hier konnten sie beide nichts mehr tun.
Tane schaute seinen Bruder an und bot ihm die Hand. Es war eigenartig, aber es schien genau richtig. Fatboy schüttelte sie, dann zog er Tane an sich, und sie pressten Nase und Stirn aneinander. Dreimal tauschten sie das traditionelle hongi. Einmal für den Menschen selbst, einmal für die Vorfahren, einmal für das Leben auf der Erde.
Das hongi war eine Begrüßung, aber beide wussten, dass es hier ein Abschied war.
Sie traten in den Treppenschacht und machten sich an den Abstieg.
1.16 Uhr
»Verdammt, aus dem Weg!«, schrie Rebecca schrill und rammte den Gang ein.
Der Jeep krachte gegen die Schranke. Glas splitterte.
»Stopp!«, brüllte der Wärter, wurde aber plötzlich unsicher, als er den Nebel noch näher heranrücken sah. Unentschlossen schwenkte er die Pistole zwischen Rebecca und dem Nebel hin und her.
Die kräftige Schrankenstange bog sich ein wenig durch.
Rebecca riss den Schalthebel auf Rückwärtsfahrt und setzte den Jeep ein paar Meter zurück.
»Stopp!«, schrie jetzt auch der zweite Wärter und hob die Waffe.
Sie ignorierte ihn und trat auf das Gaspedal. Der Jeep startete mit durchdrehenden Reifen und rammte die Schranke, die sich noch ein wenig stärker verbog. Rebecca ließ nicht locker; sie trat das Gaspedal noch weiter durch; die Reifen kreischten und begannen zu rauchen, und das Heck des Jeeps schwang hin und her, als wolle es seitlich ausbrechen, doch immer noch verhinderte die Schranke, dass Rebecca weiterfahren konnte.
Ein kurzer, trockener Knall, und die Windschutzscheibe zersplitterte. Xena und Rebecca schrien im Chor auf.
Rebecca warf sich über den Sitz, fand sofort den Türöffner und ließ sich aus dem Fahrzeug fallen. Sie packte Xenas Hand und schwang sie auf den Arm, dann lief sie auf die Hafenmauer zu, wobei sie instinktiv darauf achtete, den Jeep zwischen sich und den Wärtern zu halten, um sich so weit wie möglich zu entfernen, bevor sie wieder auf sie schossen.
Es funktionierte nur ein paar Sekunden lang. Wieder knallte es, und etwas pfiff an ihrem Ohr vorbei. Xena heulte auf.
Rebecca raste die Straße hinunter, die zu der kleinen Gebäudegruppe führte, die die Marinebasis bildete. Es waren alte Holzschuppen mit Wellblechdächern, die aus den Vierzigerjahren des letzten Jahrhunderts stammten oder vielleicht sogar noch älter waren.
Jetzt fielen keine Schüsse mehr. Als sie einen Blick zurück wagte, sah sie auch, warum. Die Wärterhütte und der Jeep waren bereits vom Nebel umhüllt, und wo der zweite Wärter gestanden hatte, stand jetzt eine weiße Makrophage, still und bewegungslos.
Der erste Wärter lag auf dem Boden. Er schien zu schreien, aber kein Ton war zu hören. Dutzende Antikörper bedeckten sein Gesicht, seine Arme und Beine.
Der Nebel rollte weiter über die dunklen Gebäude auf ihrer rechten Seite; Rebecca blieb daher keine andere Wahl mehr, als der Straße zu folgen.
Und dort lag es. An der Seite eines Landestegs vertäut. Das vertraute, beulenartige gelbe Gebilde, das sie Möbius getauft hatten. Sie musste nur noch hundert Meter über den Anlegesteg laufen.
Aber der Nebel wallte bereits um sie herum, und sie stolperte und stürzte. Xena schrie auf und rollte über den Teerbelag.
Rebecca versuchte sofort wieder aufzustehen, aber ein Bein schien nicht mehr richtig zu funktionieren. Verwirrt blickte sie nach unten und entdeckte ein gallertartiges Ding mit kurzen dünnen Tentakeln, das an ihrem Schenkel hing.
Sie schrie vor Entsetzen und Angst, dann vor Schmerz, als der Stich der nadelscharfen Fasern ihr geschocktes Gehirn erreichte.
Doch irgendwie kam sie wieder auf die Beine und stolperte weiter, das fast nutzlos gewordene Bein hinter sich herziehend.
»Komm schon, Xena!«, schrie sie, aber die kleine Schimpansin saß nur da und starrte sie ängstlich an. Jetzt spürte sie die Stiche auch im linken Arm, als sich zwei Antikörper daranhefteten, und schon wurde auch ihr Arm taub und nutzlos.
»Komm mit, wenn du willst!«, schrie sie Xena an. »Ich warte nicht auf dich!«
Sie wusste bereits, dass sie keine Chance mehr hatte, das U-Boot zu erreichen, aber wenn sie es wenigstens bis zum Rand des Stegs schaffte, wenn sie ins Hafenwasser …
Wieder knickte sie ein, kaum einen Meter vom Stegrand, vom rettenden Wasser entfernt, und sah, dass sich jetzt auch ein Antikörper an ihr gutes Bein geheftet hatte.
»Weg mit dir!«, schrie sie schrill und kroch weiter, so gut sie mit einem Arm und der restlichen Bewegungsfähigkeit des rechten Beins noch kriechen konnte.
Doch dann wirbelte der Nebel noch dichter um sie herum und eine Gestalt löste sich daraus, direkt vor ihr. Sie hob den Kopf. Eine Makrophage trat ihr in den Weg, groß und weiß im Licht des Mondes, und stellte sich zwischen sie und den Ozean. Wartete auf sie.
»Lass mich in Ruhe!«, schrie sie und kroch noch ein paar Zentimeter weiter.
Doch die Gestalt kam näher. Rebecca schrie noch einmal, ein letztes Mal, nur kam dieser Schrei gar nicht von ihr, es war nicht ihre Stimme, es war nicht einmal eine menschliche Stimme. Etwas Haariges, Braunes wirbelte heran, sie spürte kleine Füße auf ihrem Rücken, dann sprang auch schon Xena von Rebeccas Schultern direkt auf die Makrophage, klammerte sich um den Nacken der weißen Gestalt, riss sie im Schwung mit sich, sodass sie rückwärtstaumelte und das Gleichgewicht verlor, und dann stand keine Makrophage mehr vor Rebecca, und es schien Minuten zu dauern, bis sie das Aufplatschen der Körper hörte und Wasser aufspritzen sah.
»Xena!«, schrie sie, und der Nebel mit seinen geisterhaften Gestalten waberte um sie herum.