ABENDLIED
Sonntag, 15. November
Sonntag war ein guter Tag.
In der Nacht hatte sich Tane im Bett hin und her geworfen und von griechischen Ungeheuern geträumt, deren Zähne wie flammende Schwerter waren. Trotzdem war er um sechs Uhr aufgestanden, noch vor Sonnenaufgang, und hatte Rebecca, die im Gästezimmer übernachtet hatte, bereits hellwach vorgefunden. Sie redeten und redeten, bis seine Mutter aufstand und das Frühstück zubereitete. Die meiste Zeit sprachen sie über Geld. Was sie damit anfangen würden. Wofür sie es ausgeben würden.
Irgendwo schlummerten dunkle Gedanken, aber an diesem freundlichen Sonntagmorgen wollten sie sich lieber nicht damit beschäftigen. Tanes Mutter erzählten sie nichts von dem Jackpotgewinn, obwohl es ihnen sehr schwer fiel. Die Neuigkeit wollte einfach herausplatzen; es war, als hätten sie eine Literflasche Cola sehr schnell getrunken und müssten nun einen enormen Rülpser unterdrücken. Tane war nicht einmal sicher, warum sie die Sache geheim hielten. »Erzählt es niemandem«, hieß es in der Mitteilung. Aber galt das auch für seine eigene Mutter?
Bis neun Uhr hatten sie den größten Teil der zweiten Mitteilung entziffert. Professor Vic Green hatte sich als Frau entpuppt, Frau Professor Victoria Green, eine hoch angesehene Genetikerin. Der Website der Auckland University zufolge leitete sie derzeit ein privates Forschungslabor auf der Insel Motukiekie, die in der Bucht der Inseln lag.
Aber die größte Überraschung ergab sich bei den Silben SUB EON TLS, die sie neu ordneten: SUBEO NTLS.
»Ein U-Boot!« Tane riss die Augen auf. »Wir sollen ein U-Boot kaufen! Cool!«
»Aber warum, frage ich mich?«, grübelte Rebecca.
Subeo war eine britische Firma. Vor ein paar Jahren hatte das Unternehmen großes internationales Aufsehen erregt, als es ein neuartiges Wassergefährt vorstellte, den »ersten Unterwasser-Sportwagen der Welt«, wie sie es nannten. Subeo Gemini, wie sein richtiger Name lautete, war ein Zwei-Mann-U-Boot, das hauptsächlich ein Sportgerät war.
Später folgte die Subeo Aquarius, eine Drei-Mann-Version, die auch für kommerzielle Zwecke erfolgreich eingesetzt wurde. Aber das neueste Modell, die Subeo Nautilus, war noch nicht auf dem Markt. War Gemini eine Art Sportwagen und Aquarius eine Limousine, dann war die Nautilus ein Unterwasser-Wohnmobil. Sie konnte bis zu sechs Personen aufnehmen, also eine ganze Familie, und konnte monatelang unter Wasser bleiben. Als erstes Subeo-Modell war sie mit einem Dieselgenerator ausgestattet, mit dem die wasserdicht versiegelten Batterieblocks aufgeladen werden konnten, die die Hauptenergiequelle des U-Boots darstellten.
Tane überflog den dreiseitigen Ausdruck der Produktbeschreibung, die er heruntergeladen hatte – bis er am Schluss den Preis entdeckte.
»Heiliges Mondkalb!«, sagte er beeindruckt.
»Wo? Lass sehen!« Rebecca riss ihm die Blätter aus den Händen.
»Eineinhalb Millionen Pfund! Wie viel ist das in neuseeländischen Dollar?« Sie rief einen Währungskonverter im Internet auf. »Aber das … das sind mehr als vier Millionen Dollar!«
»Dann hätten wir gerade genug Geld, um das Ding zu kaufen, nachdem Fatboy seinen Anteil erhalten hat«, sagte Tane grimmig, als der wunderbare Gedanke, reich zu sein, vor seinen Augen buchstäblich verdampfte. »Bist du sicher, dass wir dieses Ding überhaupt kaufen müssen?«
Rebecca nickte. »Ich wünschte, ich wäre nicht so sicher. Es gibt einen bestimmten Grund, warum sie sich … oder wir uns … dermaßen viel Mühe machten, uns diese Mitteilungen über die Zeitengrenzen hinweg zu schicken. Ich weiß nicht, was der Grund ist, aber ich weiß, dass wir die Subeo Nautilus kaufen müssen, und wenn die Firma in England sitzt, wird es wohl besser sein, wenn wir sofort damit anfangen.«
Tane schaute sie nachdenklich an. Wenn sie ihr ganzes Geld für das U-Boot ausgaben, wovon sollte sich dann Rebecca ein neues Haus leisten können? Er öffnete schon den Mund, um ihr das klarzumachen, überlegte es sich aber noch einmal. Stattdessen seufzte er nur tief auf und machte sich daran, eine kurze E-Mail an Subeo zu schreiben, um sich nach näheren Einzelheiten zu erkundigen. Nach kurzem Zögern klickte er auf den Sende-Button und schickte die Nachricht in den Cyberspace.
»Wo zum Teufel steckt eigentlich Fatboy?«, wunderte er sich laut.
An diesem Abend unternahm Tane eine Klettertour durch die Baumwipfel. Rebecca war nach Hause gegangen, und von Fatboy fehlte nach wie vor jede Spur. Sein Vater hatte den Hochseil-Parcours eigenhändig gebaut; er bestand zwar nur aus dicken Seilen und einer hölzernen Plattform als Ausgangspunkt, war aber sicher, wenn auch an einigen Stellen ein wenig wackelig. Ein kräftiges Seil, das so dick war wie das Ankerseil eines Segelschiffs, bildete die Basis für die Füße, und in Schulterhöhe befanden sich rechts und links zwei etwas dünnere Seile als Handläufe.
Tane machte sich nicht die Mühe, das Türchen der Plattform zu öffnen; er schwang sich einfach drüber und balancierte die ersten paar Meter auf dem Fußseil wie ein Seiltänzer, ohne sich festzuhalten.
Er kam sehr oft hierher. Manchmal, weil ihm einfach danach war; an anderen Tagen schienen ihn die Abendlieder der einheimischen Vögel zu rufen.
Gegen Abend war eine leichte Brise aufgekommen, aber die Sonne war noch nicht hinter den Bergketten verschwunden, sodass es noch angenehm warm war. Die Blätter an den Bäumen, zwischen denen er hindurchging, raschelten leise, aber die Äste und die Seile blieben still. Und um ihn herum erklangen die Stimmen der Vögel in einem wunderbaren Chor. Er fiel in ihre Lieder ein, pfiff leise eine beliebige, unbestimmte Melodie vor sich hin, sorglose Töne, die in die höchsten Wipfel aufstiegen.
Auch sein Vater ging oft über den Pfad. Er meinte, ein Gang am Abend durch die Wipfel würde jedes Abendprogramm im Fernsehen in den Schatten stellen, und Tane fand das auch.
Seinen Vater hatte er seit ein paar Wochen nicht mehr gesehen – er befand sich auf einer seiner Buschtouren für ein neues Gemäldeprojekt. Das war an dem Tag gewesen, an dem Fatboy sein Moko vorgeführt hatte – irgendwie hatte er es geschafft, seine Mutter zu überreden, vorher nichts darüber zu verraten.
Fatboy war einfach ins Wohnzimmer spaziert und hatte erst dort den Motorradhelm abgenommen. Sein Vater hatte ihn zuerst überrascht angesehen, doch dann hatte er breit gelächelt, ein stolzes Glitzern in den Augen. Fatboy und sein Vater hatten Stirn und Nase zum hongi aneinandergepresst, der traditionellen Maori-Begrüßung. Dann hatte Dad seinen ältesten Sohn umarmt, und Fatboy, der in seiner Lederkleidung immer so betont cool auftretende Möchtegern-Rockstar, hatte ihn ebenfalls an sich gedrückt, ohne Verlegenheit und ohne westliches Rückenklopfen.
Als sich Tane jetzt wieder an diese Szene erinnerte, schüttelte er verwundert den Kopf. Er und sein Bruder hätten nicht unterschiedlicher sein können. Er, Tane, beschäftigte sich mit kryptischen Botschaften aus der Zukunft, und sein Bruder Fatboy lebte in der Vergangenheit.
Aber wo zum Teufel war Fatboy eigentlich? Er war nicht ans Telefon gegangen, und als sie versucht hatten, ihn auf seinem Handy zu erreichen, waren sie prompt in der Mailbox gelandet. Hatte er die Ziehung gar nicht gesehen? Wusste er überhaupt Bescheid? Vielleicht wusste er es längst, und vielleicht hatte er sich gerade deshalb nicht gemeldet!
Ein Tui landete auf dem Handseil, nicht weit von Tanes linker Hand entfernt. Weil das auffällige weiße Federnbüschel am Hals einem winzigen Pastorenkragen ähnelte, hatten die ersten europäischen Siedler den Vogel auch »Pfaffenvogel« genannt. Tane war regungslos stehen geblieben. Der Tui beäugte ihn einen Moment lang misstrauisch, dann plusterte er sein Federkleid auf und begann zu singen. Der Ruf des Tui war legendär, und die Vögel schienen jedes Mal eine andere Melodie zu singen. Dieser Vogel hier sang an diesem Abend ein langsames, rhythmisches Lied, das wie ein Wiegenlied klang.
Nach einer Weile verstummte der Vogel und schaute Tane Beifall heischend an, wobei er den Kopf ruckartig von einer Seite zur anderen drehte.
Tane hob langsam die Hand und streckte einen Finger aus, als Einladung für den Vogel, auf seinen Finger zu hüpfen. Der Tui wich einen Schritt auf dem Seil zurück. Ich habe keine Angst, schien er sagen zu wollen, aber ich bin auch nicht blöd. Dann wirbelte er plötzlich herum und verschwand zwischen den Ästen eines Macrocarpa-Baums, der in der Nähe stand.
Tane blieb, wo er war, und blickte über das Tal zu den Türmen und Dächern der Stadt hinüber.
Es wäre wirklich schade, wenn das alles zu Ende wäre. Aber er wusste, dass es so kommen musste. Eines Tages würden die Stadtplaner auch hier auftauchen, und ihnen würden Traktoren, Lastwagen und Planierraupen folgen. Schon hinter dem nächsten Hügelkamm konnte er im benachbarten Tal eine neue braune Narbe ausmachen – ein Areal, in dem die ersten Bautrupps bereits sämtliche Bäume gefällt und das Unterholz wegplaniert hatten, um die Fundamente für ein neues Hotel-und Konferenzzentrum zu legen.
Eines Tages würde auch dieser Wipfelpfad aus Seilen nur noch eine Erinnerung sein, von der er seinen Kindern und Enkelkindern erzählen konnte, und wahrscheinlich würden sie verlegen lachen, weil sie nicht sicher wären, ob sie ihm glauben sollten oder nicht.
Er ging weiter, bis er zu der Stelle kam, wo er neulich ein neues Nest mit jungen Graufächerschwänzen entdeckt hatte. Die Mutter war eifrig damit beschäftigt, Würmer in die hungrig aufgerissenen Schnäbel der Jungvögel zu stopfen, und bemerkte ihn nicht, als er sie eine Weile beobachtete.
Aber wo zum Teufel steckte Fatboy?