RETTET DIE WALE

Sonntag, 27. September

Am folgenden Tag, dem Tag der Demonstration, wurde Rebecca verhaftet.

Der japanische Premierminister besuchte Auckland. Tane war sich nicht sicher, was er hier wollte. Ein Wirtschaftsgipfel oder ein internationaler Kongress, eigentlich war es ihm auch egal.

Die Demo war für den Vormittag angesetzt. Sie sollte durch das Zentrum gehen und genau dann vor dem Hotel enden, wenn der Premierminister vom Flughafen dort eintraf.

Tane packte sein Plakat mit beiden Händen und hielt es hoch, um seine Unterstützung für die Sache zu demonstrieren.

Demos machten ihm Spaß. Außerdem konnte er Rebecca unmöglich allein demonstrieren lassen. Er hatte sie auch auf die Anti-Atom-Demo und auf die Demo gegen Gentechnik begleitet. Nur bei der Demo zum Klimawandel war er erkältet gewesen und hatte nicht mitgehen können.

Wahrscheinlich hatte es auch einmal eine Zeit gegeben, als Rebecca nicht für alle möglichen Themen auf die Straße gegangen war, aber das war wahrscheinlich im Kindergarten gewesen, und Tane konnte sich nicht mehr daran erinnern.

Sie marschierten an der Spitze des Demonstrationszugs. In vorderster Front sozusagen.

Hinter ihnen begannen die Demonstranten, einen Protestsong zu skandieren: »Ichi, ni, san, shi … tötet keine Wale, leben sollen sie. Ichi, ni, san, shi …«

»Was soll dieses Nieseknie«, fragte er Rebecca, als die Demonstranten kurz einmal Luft holten.

Sie verdrehte ihre Augen. »Es heißt eins, zwei, drei, vier auf Japanisch. Das ist wegen …«

»Ja, ja, ich hab’s schon geschnallt«, sagte Tane, als der Spruch wieder angestimmt wurde.

»Ichi, ni, san, shi … tötet keine Wale, leben sollen sie!«

»Danke, dass du mitgekommen bist, Tane«, sagte Rebecca nach einer Weile.

»Jemand muss doch die Wale retten!«, sagte Tane begeistert und fuchtelte mit seinem Plakat herum, wobei er versehentlich einem großen Mann mit kahl geschorenem Kopf und Lederjacke eins überzog.

»Entschuldigung«, sagte Tane.

Der Mann gab ihm mit einem Grinsen zu verstehen, dass er es ihm nicht übel nahm.

Hinter ihnen lief eine große Gruppe von Demonstranten, die in sackähnliche Umhänge gekleidet waren und rochen, als hätten sie sich seit einer Woche nicht mehr gewaschen. Vielleicht lehnten sie das Duschen genauso ab wie den Walfang.

Die Demonstration war offiziell genehmigt, deshalb wurden sämtliche Kreuzungen entlang der Strecke von Polizeiautos mit Blaulicht frei gehalten, bis der Demonstrationszug vorübergezogen war. Und nur wenige Meter vor Tane und Rebecca fuhr ein weiteres Polizeiauto voraus.

Passanten entlang der Straße winkten und riefen ihnen zustimmend zu oder starrten neugierig auf die Menschenmenge, die die ganze Straßenbreite einnahm und sich weit nach hinten erstreckte. Tane schätzte die Teilnehmerzahl auf etwa tausend, obwohl er eigentlich kein Experte für Menschenmengenschätzung war. Aber er staunte doch, dass sich hier so viele Menschen für einen Meeressäuger engagierten, der in seinen Augen letztlich ein Riesenfisch war.

Die Demonstration begann unten am Kai und führte über die Hobson Street zum Skycity-Casino-Komplex mit seinem gewaltigen, über dreihundert Meter hohen Sky Tower.

Unmittelbar vor dem Casino bogen sie rechts in die Victoria Street ein und blieben an der Einmündung zur Federal Street stehen, wo sich das Hotel der japanischen Delegation befand.

Ein Sturm der Zustimmung erhob sich aus der Menge, als das Banner an der Fassade des City-Hotels in ihr Blickfeld kam: ein riesiges Bild von einem Wal, der über die Slipanlage eines japanischen Walfängers gezogen wird, und darüber die Worte »Nur für die Forschung?«

Rebecca sah Tane an und grinste stolz. Er ballte seine Hand und boxte in die Luft. Genau in diesem Augenblick wurde eine Fensterputzergondel zu dem Banner hinabgelassen.

Hölzerne Straßensperren hinderten die Demonstranten am Weitergehen. Sie mussten warten, blockierten aber singend und Sprüche skandierend die Straße.

Kurz darauf fuhr der Konvoi des Premierministers vor. Zuerst kam ein Polizeiauto, dann ein schwarzer Van, in dem sich vermutlich Sicherheitsleute befanden. Ihm folgte eine lange schwarze Mercedeslimousine.

Als sich die Polizisten zu einer lebenden Barrikade aufreihten, wurden die Protestrufe der Demonstranten lauter. Hinter der blauen Polizeilinie sah Tane die schlanke Gestalt des japanischen Premierministers, dem ein breitschultriger Bodyguard die Tür der Limousine aufhielt.

Mehrere staatliche Würdenträger standen zur Begrüßung vor dem Hoteleingang. Tane erkannte keinen von ihnen.

Rebecca hob die Arme über den Kopf, legte die Hände aneinander und spreizte die Finger ab. Tane brauchte eine Weile, bis er begriff, was das bedeuten sollte: Ihre Arme und Hände ahmten die Schwanzflosse eines Wals nach. Er ließ sein Plakat auf den Boden fallen und machte es ihr nach. Und stellte fest, dass der große Bikertyp neben ihm es ebenfalls nachmachte.

Das Singen und Skandieren hinter ihm verebbte. Er drehte sich um und sah, dass alle Demonstranten ihre Plakate auf den Boden gelegt hatten und sich entlang der Straße ein ruhiges, friedliches Meer aus symbolischen Walschwanzflossen bewegte.

Diese Geste schien ihr Anliegen mehr als alles Rufen und Schreien zu bekräftigen.

Und damit hätte die Demonstration ein friedliches Ende finden können, hätte der Premierminister sich beim Aussteigen nicht zu den Demonstranten umgedreht und ihnen fröhlich zugewinkt.

Vielleicht wollte er nur freundlich sein. Vielleicht winkte er jemandem zu, den er kannte. Jedenfalls war es das Schlimmste, was er tun konnte, nachdem sich die Menge zwanzig Minuten lang singend und skandierend aufgeheizt hatte. Das stille Wedeln der Schwanzflossen schien nun nichts weiter als die Ruhe vor dem Sturm gewesen zu sein.

Ein wütendes Gebrüll wie von einem waidwunden Tier stieg aus tausend Kehlen empor, und plötzlich lagen die hölzernen Barrikaden am Boden, niedergetrampelt unter dem Ansturm von Demonstranten. Die Polizisten hakten sich unter und rückten gegen die Angreifer vor. Dahinter stehende Polizisten zogen ihre Schlagstöcke und warteten.

Der japanische Premierminister und die Würdenträger eilten auf das Hotel zu. Im Angesicht des wilden Tiers, das auf sie zustürmte, war jeder Gedanke an das Protokoll vergessen.

Tane wollte sich nach hinten zurückfallen lassen, um aus der Frontlinie zu kommen, aber die vorandrängende Menge hinter ihm machte das unmöglich und schob ihn einfach vor sich her. Er wurde direkt gegen einen großen, bärtigen Polizisten mit Mundgeruch gepresst. Der Druck von hinten war so stark, dass ihm die Luft aus den Lungen gequetscht wurde. Eine panikartige Platzangst ergriff ihn.

Doch die schmale blaue Linie hielt. Den Polizisten gelang es, die Demonstranten in sicherem Abstand zu halten. Alle, bis auf eine, wie Tane plötzlich entdeckte. Durch eine Lücke in der blauen Linie huschte eine kleine, flinke Gestalt. Er nahm halb verschwommen eine schnelle Bewegung war: Rebecca duckte sich wie ein stürmender Rugbyspieler und flitzte zwischen den großen, schwerfälligen Polizisten hindurch, und schon hatte sie sich der japanischen Delegation bis auf wenige Schritte genähert.

Beinahe hätte sie es geschafft. Sie schrie irgendetwas über Wale und Mörder, dann wurde sie von einem der kräftigen, dunkel gekleideten Männer ergriffen und auf den Boden gezwungen.

In diesem Augenblick wurde der Polizeikordon an mehreren Stellen durchbrochen, und der Zorn der Menge erreichte seinen Höhepunkt. Plötzlich waren überall Demonstranten, und manche prügelten mit ihren selbst gebastelten Plakaten auf die Polizisten ein.

Der bärtige Polizist wandte sich rasch von Tane ab, dem es nun gelang, sich auf die Seite zu schlagen. Rebecca hatte er aus den Augen verloren. Er musste erst einmal selbst wieder zu Atem kommen, um dann so schnell wie möglich der anstürmenden Menge aus dem Weg zu gehen.

Zwischen den Betonpfeilern des Sky Tower fand er ein geschütztes Plätzchen, wo er sich erschöpft auf den Boden sinken ließ.

 

Schließlich musste sogar die Bereitschaftspolizei anrücken, um die Federal Street zu räumen. Über einhundert Personen wurden verhaftet, die meisten aber ohne Anklage wieder auf freien Fuß gesetzt, nachdem sie in der nahe gelegenen Polizeiwache erkennungsdienstlich behandelt worden waren.

Volle vier Stunden lang wartete Tane vor der Polizeiwache, bis Rebecca endlich erschien, zerschrammt und zerzaust, aber ungebrochen, gefolgt von ihrer Mutter, die unsicher und verwirrt aussah.

»Das war schrecklich«, erzählte Rebecca. »Sie haben uns fotografiert, unsere Fingerabdrücke genommen und uns in winzigen Zellen zusammengepfercht, während sie überlegten, was sie mit uns anstellen sollten.«

»Ich habe noch versucht, zu dir durchzukommen«, sagte Tane, obwohl das eigentlich nicht stimmte, aber es erschien ihm eine passende Bemerkung zu sein.

»Du hättest doch nichts tun können«, sagte Rebecca. »Es hat keine drei Sekunden gedauert, bis ich im Polizeiwagen saß.«

Sie massierte sich die Handgelenke, und Tane bemerkte die roten Abdrücke.

»Das ist so gemein«, sagte sie wütend. »Die sind doch die Verbrecher, die die Wale abschlachten und es als Forschung ausgeben. Aber wir landen in der Verbrecherdatei!«

»Mach dir darüber keine Sorgen«, beruhigte Tane sie. »Du fällst noch unter das Jugendstrafrecht. An dem Tag, an dem du achtzehn wirst, müssen sie deine Einträge löschen. Das habe ich irgendwo gelesen.«

Sie schwieg.

»Wirklich«, beharrte er, um sie zu beruhigen. »Das ist nichts. Das hat überhaupt nichts zu bedeuten.«

Er irrte sich, denn später stellte sich heraus, dass Rebeccas Verhaftung sehr wohl etwas zu bedeuten hatte.

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