ES WEIHNACHTET SEHR
Samstag, 19. Dezember
Der Bursche war als Weihnachtsmann verkleidet, und nachdem er sich umgesehen hatte, kehrte sein Blick noch einmal wie beiläufig zu Rebecca zurück. Zu beiläufig.
»Komm, wir verschwinden«, sagte Rebecca zu Fatboy, der gerade die Seriennummern auf irgendwelchen elektronischen Bauteilen mit den Nummern auf seiner Liste abglich.
»Aber wir haben noch keine Kondensatoren!«, widersprach Fatboy, während er stirnrunzelnd mit dem Finger an einer Reihe kleiner Plastikbehälter auf dem Regal entlangfuhr.
»Ich will weg – sofort!«, zischte sie. Sie musste sich wirklich anstrengen, nicht ständig nervös zu dem Weihnachtsmann hinüberzublicken.
Draußen fuhr ein Streifenwagen mit heulender Sirene vorbei, und Rebecca zuckte unwillkürlich zusammen.
Für einen Weihnachtsmann hatte der Mann ein viel zu mageres Gesicht. Unglaubwürdig. Außerdem hatte er eine Narbe über einem Auge, die nicht einmal die aufgeklebten buschigen Augenbrauen verbergen konnten. Auf Rebecca jedenfalls wirkte er wie ein Spion im Weihnachtsmannkostüm. Oder wie ein verkleideter Killer. Oder ein Soldat.
Ihre Hände zitterten, als sie das Geschäft verließen.
Auf dem Weg zum Jeep kamen sie an einem Zeitschriftenladen vorbei, und Fatboy blieb abrupt stehen.
»Komm schon!«, drängte Rebecca gereizt.
»Superstar Rebecca! Hast es tatsächlich auf die Titelseite geschafft!«, sagte Fatboy nicht ohne Bewunderung, ging aber nicht weiter.
Rebecca folgte seinem Blick. Vor dem Laden waren die heutigen Tageszeitungen auf einem Metallständer ausgestellt.
»SUCHE NACH TEENAGERN FORTGESETZT«, schrien die Schlagzeilen ihr entgegen, daneben und darunter die Phantombilder von ihr und Tane.
Unwillkürlich fasste sie sich an den Kopf. Seit sie den Soldaten auf der Insel entkommen waren, hatte sie ihr Haar tiefschwarz gefärbt und trug jetzt immer eine Mütze. Es war Sommer; alle drei konnten Sonnenbrillen tragen, ohne aufzufallen. Eigentlich war sie überzeugt, dass sie sich hinreichend gut getarnt hatten, sodass wohl kaum die Gefahr bestand, dass irgendwelche Passanten auf der Straße sie erkennen würden. Aber was war, wenn jemand aus ihrer Klasse sie auf den Bildern wiedererkannte?
»Was machen wir jetzt?«, fragte sie schockiert und besorgt.
»Nichts«, antwortete Fatboy entschlossen. »Das hier ändert an unserer Sache rein gar nichts.«
Der Wrangler war ein Jeep mit offenem Verdeck; normalerweise bot so ein Gefährt für Jugendliche an einem sonnigen, warmen Tag eine Menge Spaß. Aber heute fühlte sich Rebecca darin wie auf einem Präsentierteller – sie saß höher als in normalen Autos und war damit auffälliger. Und es gab keine Möglichkeit, sich irgendwo zu verstecken.
Schweigend fuhren sie zum Ausgang und reihten sich in die Schlange vor der Ausfahrtschranke des Parkplatzes. Rebecca stützte das Gesicht in eine Hand und tat so, als ob sie müde sei, um sich gegen die neugierigen Blicke eines älteren Ehepaars zu schützen, das in einem alten Volvo auf der Parallelspur saß.
»Das ist echt das Schlimmste«, murmelte sie mehr zu sich selbst als zu Fatboy, »sich wie eine Kriminelle fühlen zu müssen. Wo wir doch gar nichts Verbotenes getan haben.«
Kaum waren sie in die Lincoln Road eingebogen, als sich auch schon ein Streifenwagen an ihre Hinterachse hängte. Fatboy bemerkte ihn zuerst. Er räusperte sich.
»Äh – dreh dich auf keinen Fall um, aber wir haben einen Streifenwagen direkt hinter uns.«
Rebecca wollte sich instinktiv umdrehen, beherrschte sich aber gerade noch rechtzeitig.
»Fährt nur zufällig in dieselbe Richtung«, murmelte sie, aber ihre Stimme klang zittrig.
»Ich biege in den Universal Drive ab. Mal sehen, ob sie uns folgen.«
Sie folgten.
»Was machen wir jetzt?«, fragte Rebecca nervös und ein bisschen schrill.
»Nichts. Und das Letzte, was wir jetzt brauchen, ist eine Panikattacke«, sagte Fatboy ruhig. »Wenn sie hinter uns her sind, werden sie uns stoppen. Wenn wir versuchen würden abzuhauen, würden sie sofort Verstärkung rufen und die Straßen sperren lassen.«
»Dann fahr doch einfach rechts ran«, schlug Rebecca vor. »Mal sehen, was dann passiert.«
Fatboy blinkte nach rechts und hielt hinter einem weißen Lieferwagen an. Rebecca hatte aufgehört zu atmen. Der Streifenwagen fuhr vorbei.
Fatboy starrte ihm nach. »Okay. Fahren wir zurück.« Er blinkte wieder und wendete den Jeep in einem engen Kreis. Sie fuhren in Richtung Lincoln Road zurück.
Ein paar Sekunden später. »Verdammt«, sagte Fatboy, als er in den Rückspiegel blickte.
Wieder musste sich Rebecca zusammenreißen, um nicht sofort zurückzuschauen. »Sie kommen auch zurück?«
»Entweder dieselben oder andere.«
»Fahr in die Tiefgarage unter dem Einkaufszentrum«, schlug Rebecca angespannt vor. »Wir können dann die Rolltreppen hinauffahren und durch die Hauptausgänge in die Fußgängerzone fliehen. Heute laufen dort bestimmt Hunderte Menschen herum. Wir könnten uns in die Menge mischen.«
»Gute Idee«, nickte Fatboy und wechselte die Fahrspur in Richtung des Einkaufszentrums. »Wir können uns auch trennen. Und jeder schlägt sich allein nach Hause durch.«
Ein grüner Ampelpfeil gab ihnen die Spur frei. Sie bogen in die saubere grüne Kunstlandschaft ein, die man rings um das Einkaufszentrum angelegt hatte. Sorgfältig in exakten Abständen gepflanzte Bäume leiteten die Autos durch die Zufahrtsstraße zur Tiefgarage. Der riesige Betonklotz des Zentrums überragte alle anderen Geschäfte und Häuser in der Gegend und schien sich über den mickrigen, schmalen natürlichen Bach zu mokieren, den die Planer und Architekten und Bulldozer gnädigerweise verschont hatten und der sich nun schüchtern an den gewaltigen Mauern des Zentrums vorbeischlängelte.
Rebecca riskierte einen Blick zurück – der Streifenwagen fuhr geradeaus weiter. Eine Sekunde später begann sein Blaulicht zu blinken, und die Sirene heulte auf. Der Wagen schoss davon, die Lincoln Road entlang – und entfernte sich rasch von ihnen.
Fatboy seufzte tief auf vor Erleichterung.
»Halt an!«, brachte Rebecca noch hervor, dann stieß sie auch schon die Beifahrertür auf und spuckte den gesamten Inhalt ihres Magens in den Bordstein.
Danach sagte sie überhaupt nichts mehr – blieb nur ein paar Augenblicke in derselben Haltung, halb aus dem Auto hängend, während ihr Körper von Krämpfen geschüttelt wurde. Schließlich wischte sie sich den Mund ab und setzte sich wieder aufrecht.
Fatboy legte ihr den Arm um die Schultern und versuchte, sie an sich zu ziehen. Aber sie wehrte ihn ab, krümmte sich in der Ecke der Beifahrertür zusammen und begann zu weinen.