SCHÖNE BESCHERUNG
Freitag, 25. Dezember
Es war halb zehn am Morgen des ersten Weihnachtstags.
»Komme gleich!«, rief Tanes Mutter aus der Küche, wo sie noch die letzten Überreste des Frühstücks wegräumte.
Alle hatten geholfen, den Frühstückstisch abzuräumen – des Champagnerfrühstücks, das an Weihnachten im Williams-Haushalt zu den heiligen Traditionen gehörte.
Rebecca verbrachte zum ersten Mal den Weihnachtsmorgen in Tanes Haus. Den Nachmittag wollten Tane und Fatboy bei ihr zu Hause verbringen und das Fest mit ihrer Mutter feiern.
Tane kam es seltsam vor, dass sie Weihnachten so völlig normal feierten, nach allem, was um sie herum vorging – Quarantänezonen, Entführungen, landesweite Fahndung und so weiter –, aber noch seltsamer wäre es ihm vorgekommen, wenn sie Weihnachten überhaupt nicht gefeiert hätten, und bestimmt hätte es bohrende Fragen von Seiten seiner Eltern ausgelöst, wenn er und Fatboy sich an diesem Tag nicht hätten blicken lassen.
Endlich schlenderte Tanes Mutter aus dem Esszimmer herein und setzte sich in einen Sessel.
»Es kann losgehen«, erklärte sie. »Wer ist der oder die Jüngste?«
Noch so eine Williams-Tradition. Der Jüngste übernahm die Rolle des Weihnachtsmanns: Er durfte den anderen die Geschenke aushändigen, wobei er mit der ältesten Person beginnen musste. Da dieses Mal keine Großeltern und auch keine jüngeren Cousins oder Cousinen anwesend waren, war Tanes Dad der Älteste und Tane der Jüngste. Rebecca war zwar am selben Tag geboren wie er, aber am Vormittag; Tane war erst am Abend auf die Welt gekommen.
Tane gab keine Antwort; er beobachtete fasziniert eine Spinne. Sie war sehr groß. Nicht so groß wie eine Avondale-Spinne oder eine Vogelspinne, aber doch groß genug, um richtig Angst einjagen zu können. Sie war braun mit länglichem Körper und dicken gegliederten Beinen. Und sie hatte in der Ecke eines der großen Aussichtsfenster ein höchst kompliziertes Netz gewoben, ein eng geflochtenes Netz, das fast wie eine Honigwabe aussah und aus mehreren übereinanderliegenden Schichten bestand.
Aber die Spinne zitterte am ganzen Leib. Tane hatte so etwas bei einer Spinne noch nie gesehen. Ein hauchdünner weißer Faden lag quer über ihrem braunen Körper. Die Spinne kämpfte sich ab, und plötzlich wurde ihm klar, was geschehen war: Sie saß in ihrem eigenen Netz gefangen.
»Tane ist der Jüngste«, erklärte Rebecca fröhlich. Weder Sorgen noch Ängste ließ sie sich anmerken, obwohl sie von ihnen zutiefst aufgewühlt wurde.
Tane durchsuchte den Haufen bunt eingepackter Geschenke, bis er eines fand, auf dem der Name seines Vaters stand.
»Frohe Weihnachten«, sagte er und machte großes Aufhebens beim Überreichen des Geschenks. Sein Vater grinste und riss es ihm schließlich blitzschnell aus der Hand. Er las den Anhänger und entfernte dann schwungvoll das Geschenkpapier. Ein Buch, der jüngste Thriller von John Grisham, von Dads Onkel in Wellington.
Dad lachte laut auf, ohne erkennbaren Grund. Einfach nur so, aus Freude, weil heute Weihnachten war.
Wenn er wüsste!
Tane suchte bereits nach dem nächsten Geschenk – für seine Mutter. Aber in Gedanken war er weit weg und übersah mehrmals Geschenke, die für sie bestimmt waren.
Dann fand er eines von Fatboy für Rebecca, danach eines von Rebecca für Fatboy.
Fatboys Geschenk für Rebecca war eine silberne Halskette. Tane schaute zwar nicht sehr genau hin, aber sie sah teuer aus. Schließlich hatten sie noch über eine Million Dollar auf dem Konto ihres Trusts, auf die sich täglich Zinsen anhäuften, welche Rolle spielte also das Geld? Allein der Gedanke zählte, und er hoffte, dass es Rebecca klar würde, wie sorgfältig er selbst das Schachspiel für sie ausgesucht hatte.
Aber sie hatte sein Geschenk immer noch nicht aufgemacht, sparte es bis zuletzt auf, wahrscheinlich weil es das größte ihrer Geschenke war. Oder vielleicht, hoffte er, weil es von ihm kam.
Er öffnete ihr Geschenk sehr langsam. Es war sehr fein, sehr weiblich eingepackt; das Papier war hauchdünn, vielschichtig und bunt und mit einem glitzernden Band umwunden. Das passte eigentlich gar nicht zu ihr. Vielleicht hatte sie es im Laden einpacken lassen, dachte Tane. Unter dem Papier kam eine weiße Pappschachtel zutage. Er hob vorsichtig den Deckel an und blickte auf den Inhalt hinunter.
Ein Tagebuch, wie geschaffen für die Aufzeichnungen eines Schriftstellers, in Leder gebunden. Daneben lag ein silberner Kugelschreiber, auf dem die Worte »Freunde für immer« eingraviert waren.
Er umarmte Rebecca, und eine eigenartige wohlige Wärme durchlief ihn, von den Haarspitzen bis zu den Zehen.
Seine Eltern hatten ihm und Fatboy die gleichen Geschenke gegeben, wie ihm klar wurde, als er sein Geschenk öffnete. Fatboy hatte seines gerade aufgemacht – ein echter, handgefertigter Patu pounamu, eine Häuptlingskeule aus Jade, fast dreißig Zentimeter lang, mit einem Lederband durch eine Öse am schmalen Ende; die traditionellen Symbole ihres Stammes waren darauf eingraviert.
»Passt doch ganz gut zum Moko, meinst du nicht?«, sagte Fatboy stolz.
Tane legte sein Patu pounamu vorsichtig zur Seite; ihm war klar, dass ihn seine Eltern aufmerksam beobachteten. Er rang sich ein Lächeln ab und gab sich Mühe, es möglichst echt wirken zu lassen.
»Danke, Mum, Dad … es ist wirklich prima!«
Rebecca kam herüber und setzte sich neben ihn, als sie sein Geschenk auspackte. Das Schachspiel. Tane kreuzte hinter seinem Rücken die Finger.
Es war ein absoluter Hit.
Rebecca schrie praktisch auf vor Freude, als sie die letzten Reste des Geschenkpapiers entfernte. Sie hob die Holzschatulle aus der Plastikhülle, nahm die Figuren nacheinander aus dem grünen Samtsäckchen und staunte, wie fein sie gearbeitet waren.
Den König, der als Michelangelos David dargestellt war, hielt sie hoch und zeigte ihn den anderen. »Schaut mal«, rief sie, »man kann jeden einzelnen Muskel auf seinem Bauch sehen! Und was für ein süßes kleines Pimmelchen!«
Sie brüllten vor Lachen.
»Danke, Tane«, sagte Rebecca und umarmte ihn voller Wärme.
Tane bekam nicht zu sehen, was Rebecca Fatboy schenkte – das einzige Vorkommnis, das seinen Tag störte. Fatboy öffnete ihr Geschenk, schaute den Inhalt kurz an, lächelte Rebecca zu und packte es wieder ein. Dann umarmte er Rebecca, aber Tane schaute nicht hin.
Es war ein wunderschöner Tag, und Tanes Sorgen traten in den Hintergrund, wenigstens für ein paar Stunden. Sie aßen und aßen noch einmal und spülten alles mit selbst gebrautem Ginger Beer hinunter, hörten sich immer und immer wieder »Snoopy’s Christmas« an, bis Dad endlich genug hatte und die CD »The Little Drummer Boy« einschob. Am späten Vormittag holte Fatboy seine Gitarre heraus, und Tane begleitete ihn auf der Mundharmonika. Die hohen Fenster standen weit offen, und die Klänge und Düfte des Buschs fluteten sanft in den Raum. Die Sonne brannte vom Himmel, wurde aber von den hohen Bäumen gefiltert, sodass es im Haus angenehm kühl blieb.
Um die Mittagszeit fuhren sie zum Haus in West Harbour, um den Rest des Tages mit Rebeccas Mutter zu verbringen.
Die Mutter war heute in fröhlicher, geselliger Stimmung. Eifrig packte sie Rebeccas Geschenk aus, und es schien ihr richtig peinlich zu sein, dass sie selbst ihrer Tochter nichts gekauft hatte.
»Die Woche ist einfach so schnell vergangen«, klagte sie. »Hab einfach keine Zeit gefunden …« Sie nahm ein Stück Weihnachtskuchen, das Tane von zu Hause mitgebracht hatte, verschwand aber bald darauf wieder in ihrem Zimmer.
Sobald sie weg war, sagte Rebecca: »Machen wir mit dem Chronophon weiter.«
Inzwischen hatten sie die meisten Bauteile gekauft. Fatboy hatte seinen Kumpel Goony dazu gebracht, vorbeizukommen und mit dem Bau der Maschine anzufangen, sobald die letzten Teile der Baupläne angekommen waren.
Rebecca setzte sich auf ein großes Sofa in einer Wohnzimmerecke, zog die Beine an den Körper und umfasste sie mit den Armen. Langsam schaukelte sie vor und zurück.
Tane schaute ihr ein paar Augenblicke lang zu; er glaubte zu wissen, was sie empfand. Ein paar Stunden lang war es ihnen gelungen, das alles aus ihren Gedanken zu verdrängen, aber jetzt saß ihnen die Wirklichkeit wieder wie ein grimmiges Gespenst im Nacken.
Um sechs Uhr schaltete Tane den Fernseher ein, um die Abendnachrichten zu sehen. Die Königin hielt gerade ihre Weihnachtsansprache. Tane schaltete auf TV3 um.
Sie brachten nur eine einzige Nachricht. Und die hatten sie offenbar den ganzen Tag lang ausgestrahlt. Atemlose Reporter hinter den Straßensperren der Polizei, Aufnahmen von Hubschraubern aus der Ferne – und alle erzählten dieselbe Story: die größte Katastrophe in der Geschichte Neuseelands. Fünfzigtausend Menschen, abgeschnitten, vermisst oder noch schlimmer. Ein seltsamer Nebel. Die Evakuierung der kleinen Stadt Maungaturoto, südlich von Whangarei, die als nächste Siedlung auf dem Weg des Nebels in Richtung Auckland lag, sei angelaufen.
Die Bewohner Aucklands wurden aufgefordert, Ruhe zu bewahren und keinesfalls zu versuchen, aus der Stadt zu fliehen. Sprecher des Zivilschutzes versicherten den Reportern, dass bereits Spezialteams von Experten aus dem Ausland im Einsatz seien, die sich um das Problem kümmern würden.
Rebecca hatte gerade ein Glas Wasser getrunken, als sie es plötzlich fallen ließ. Es zerschellte auf dem Boden. Ihr Gesicht war kreidebleich geworden.
»Rebecca?«
Sie sprang auf und rannte auf die Terrasse hinaus. Tane lief ihr nach. Er spürte, dass auch Fatboy hinter ihm herkam.
»O nein! O nein … o nein …«
Rebecca klammerte sich am Rand des Terrassentischs fest, als könne sie sich nicht mehr allein aufrecht halten. Sie keuchte heftig, bemerkte Tane, eine panische Überreaktion. Immer wieder wurde ihr schmaler Körper von Krämpfen geschüttelt.
»O mein Gott, nein«, sagte Rebecca immer wieder.
»Was ist los, Rebecca? Glaubst du, wir haben uns ein Virus eingefangen, als wir auf der Insel waren?«, fragte Fatboy drängend.
»Nein. Viel schlimmer. Viel, viel schlimmer als das.«
Viel schlimmer? In Tanes Kopf überstürzten sich die Gedanken. »Was ist los, Rebecca?«
Sie schloss einen Moment lang die Augen und stieß einen langen, tiefen Seufzer aus. »Mir ist plötzlich alles klar geworden. Die Insel. Der Nebel. Die kryptischen Botschaften. Ich weiß jetzt, warum wir das U-Boot kaufen mussten.«
»Um unbemerkt zur Insel zu kommen. Das wissen wir doch schon, oder nicht?«, fragte Tane mit wachsender Vorahnung.
Aber Rebecca schüttelte den Kopf. »Und was ist, wenn es zwei Gründe gibt? Einen Plan B , falls unser Trip zur Insel schiefläuft?«
»Der ist ja auch tatsächlich schiefgelaufen«, bemerkte Fatboy.
»Wenn wir aber nun recht hätten? Wenn dieses … dieses Virus … oder was auch immer es ist, so grauenhaft, so entsetzlich wäre, dass Plan B nötig ist, um uns eine Zuflucht zu bieten, eine Art von schwimmendem Bunker tief unten im Meer, in dem wir vor der Ansteckung sicher wären?«
»Ein Unterschlupf, ein Bioschutzraum, meinst du?«, sagte Fatboy nachdenklich.
»Was ist, wenn wir uns unter Wasser in unserem kleinen gelben U-Boot verstecken müssten, damit wir vor dieser … Seuche sicher sind, die sich daranmacht, den Rest von Neuseeland auszulöschen?«
»Oder den Rest der Welt«, sagte Tane leise.
Es war zehn nach sechs abends.
Weihnachtstag.