DIE MEISTGESUCHTEN VON NEUSEELAND
Freitag, 18. Dezember
»Ich kann’s nicht glauben«, sagte Tane ernst, »dass diese Profis tatsächlich auf den uralten Trick mit dem ›Pass auf, hinter dir!‹ hereingefallen sind.«
»Das war’s ja auch gar nicht – es war ›O mein Gott!‹«, antwortete Rebecca grinsend. Nach dieser ersten schlimmen Nacht war sie aufgewacht und fühlte sich zu hundert Prozent super und energiegeladen, auch wenn ein leichter, rauer Husten sie ständig daran erinnerte, dass sie dem Tod nur knapp entkommen war.
Tane war nicht sicher, ob ihr überhaupt klar war, wie knapp sie am Tod vorbeigeschrammt war oder was er hatte tun müssen, um ihr das Leben zu retten. Er hatte nicht vor, sie darüber aufzuklären. Es war wohl besser, die Sache so schnell wie möglich zu vergessen.
»Im Ernst«, sagte er grinsend, »wer auch immer diese Burschen sein mögen, sie waren auf jeden Fall ziemlich rau und brutal – Profikampftrupps, würde ich sagen. Und trotzdem fielen sie auf den ältesten Trick aus dem Lehrbuch herein!«
»Aber wer oder was waren sie denn nun eigentlich?«, fragte Fatboy, der die Sache nicht im Geringsten witzig fand. »Können sie uns identifizieren?«
Sie saßen am Holzesstisch im Haus in West Harbour. Die Rückfahrt hatte lange gedauert, denn sie mussten sich von Bucht zu Bucht und um jede Landzunge schleichen, ständig wachsam, ob nicht irgendwo der scharfe Bug einer Marinefregatte durch die Fluten schnitt. Unablässig hatten sie auf das leiseste »Ping« des Sonars gelauscht. Doch nun lag die Möbius sicher vertäut im Bootsschuppen, vor neugierigen Blicken verborgen.
»Nein, glaube ich nicht«, meinte Rebecca.
»Und was ist mit Fingerabdrücken?«, wollte Fatboy wissen.
»Meine Abdrücke sind nirgendwo erfasst«, antwortete Tane. »Selbst wenn sie meine Fingerabdrücke irgendwo auf der Insel finden, können sie nichts damit anfangen.«
»Aber meine sind erfasst«, flüsterte Rebecca. »Als sie uns nach der Protestaktion gegen den Walfang verhafteten, haben sie unsere Personalien aufgenommen und Fingerabdrücke genommen. Das ist mir auch dauernd durch den Kopf gegangen, als sie uns gestern gefangen genommen haben. Auf dem Schlauchboot waren unsere Hände hinter dem Rücken gefesselt, und als wir auf dem Schiff waren, hab ich genau aufgepasst, dass ich nichts berühre. Nicht mal die Reling.«
Tane erinnerte sich, wie leichtfüßig sie darüber hinweggesprungen war.
»Und was ist mit der Strickleiter?«, fragte er. »Als wir an der Schiffswand hinaufkletterten?«
Fatboy schüttelte den Kopf. »Von einem nassen Seil kann man keine Fingerdrücke nehmen«, erklärte er. »Da bin ich mir ziemlich sicher.«
»Dann bleiben nur noch die Sauerstoffflaschen und die Bleigürtel übrig«, meinte Rebecca. »Wäre es nicht besser, noch mal zur Insel zu fahren und sie zu holen?«
»Zu riskant«, sagte Fatboy. »Von jetzt an bewachen sie die Insel noch genauer. Wir können nur beten, dass sie die Sachen nicht finden.«
»Wisst ihr, was wir am dringendsten überlegen sollten?«, fragte Tane. »Was sie dort überhaupt zu suchen hatten. Es gab nur ganz normale Sicherheitsmaßnahmen, als wir die Insel vor ein paar Wochen zum ersten Mal besuchten. Aber nun tauchen wir noch einmal dort auf, und schon wartet eine ganze Armee auf uns.«
Rebecca nickte ernst und nachdenklich. »Ja, und weil es so war, glaube ich, dass auf dieser Insel in der Zwischenzeit etwas sehr Schlimmes passiert sein muss.«
»Etwas, was mit den Kleiderhaufen zu tun hatte, die du gefunden hast?«, fragte Fatboy.
»Vielleicht. Und mit der aufgebrochenen Tür.«
»Die können auch die Soldaten aufgebrochen haben«, meinte Tane.
»Von innen?«, erinnerte ihn Rebecca an die Fakten.
»Egal, wir sind das Problem jedenfalls los«, sagte Fatboy. »Nachdem sich jetzt die Armee und die Marine eingeschaltet haben, brauchen wir uns nicht mehr um die Sache zu kümmern.«
»Dafür sollten wir dem lieben Gott danken«, nickte Tane.
»Vielleicht«, sagte Rebecca, aber sie klang nicht sehr überzeugt.
Tane schaute sie misstrauisch an. »Was heißt vielleicht?«
»Es ist nicht mehr unser Problem«, sagte Fatboy nachdrücklich. »Wir haben es versucht. Es ist uns nicht gelungen. Jetzt sollen sich die Behörden darum kümmern.«
»Nur werden sie das eben nicht tun«, sagte Rebecca. »Oder sie können es nicht. Jedenfalls tun sie nichts.«
»Du machst wohl Witze«, knurrte Fatboy. »Sie haben Soldaten und Wissenschaftler und … und … all das Zeug. Natürlich werden sie die Sache in Ordnung bringen.«
Rebecca schaute auf den Tisch, der mit Ausdrucken der fast vollständigen Zeichnung bedeckt war, alle hübsch ordentlich auf frischem Papier mit ihrem neuen Laserdrucker bedruckt.
»Tane, Fats, hört mir genau zu. Wenn die Behörden die Sache wirklich in Ordnung bringen, warum erhalten wir dann immer noch SOS-Botschaften aus der Zukunft? Sie werden versagen. Genau wie wir versagt haben. Die einzigen Leute, die die Sache in Ordnung bringen können, sind wir. Sofern es uns gelingt, die Botschaften zu entziffern – rechtzeitig.«
»Was ist mit dem Chronophon?«, wollte Tane wissen.
Die beiden Computer arbeiteten fast nonstop, und das kleine Team musste einen gewaltigen Rückstand an Swift-Daten aufarbeiten. Es fehlte nur noch ungefähr ein Drittel der Abbildung. Die Pläne, die vor ihnen auf dem Tisch lagen, näherten sich der Vollendung – und genau das war unglaublich verlockend.
»Aber wir können es noch nicht bauen«, sagte Fatboy. »Jedenfalls nicht, ehe wir das fehlende Stück haben. Aber wenigstens könnten wir schon mal ein paar Bauteile kaufen.«
»Wo denn?«, fragte Tane. »Im Chronophon-Laden gleich um die Ecke?«
Rebecca lachte.
Fatboy knurrte: »Wenn ich mir die Zeichnung anschaue, sehe ich nur Standardbauteile. Widerstände, Transistoren, Dioden. Die können wir tatsächlich in jedem Dorfelektroladen kaufen. Aber ich frag mal einen Kumpel, Goony, ob er sich die Sache mal anschauen will. Er ist für die Elektronik im Aufnahmestudio zuständig. Wenn der etwas über Schalttafeln nicht weiß, dann weiß es niemand.«
»Und – wird er uns helfen, das Ding zu bauen?«, fragte Rebecca.
»Wahrscheinlich«, antwortete Fatboy.
»Können wir ihm vertrauen?«, erkundigte sich Tane besorgt.
»Wir haben doch gar keine andere Wahl«, meinte Fatboy. »Übrigens muss er gar nicht erfahren, wozu der Apparat bestimmt ist, wenn er die Bauteile zusammensetzt.«
»Hi, Becky. Hallo, Jungs«, ertönte plötzlich eine andere Stimme. Die drei schauten sich schuldbewusst um. Niemand hatte Rebeccas Mutter hereinkommen hören.
»Hi, Mrs Richards«, sagte Tane. »Wie geht’s Ihnen?«
Aus dem Augenwinkel sah er Rebeccas wütende Blicke.
»Mir geht es gut, danke, Tane. Wie geht’s deiner Mutter? Ich habe sie schon so lange nicht mehr gesehen.«
»Ihr geht es gut, danke«, antwortete Tane.
»Was gibt’s heute im Fernsehen?«, fragte Rebecca beiläufig, während sie die Chronophon-Baupläne zusammenschob und umdrehte. Ihre Mutter holte eine Packung Orangensaft aus dem Kühlschrank und goss sich ein Glas voll.
»Ach, ich weiß nicht«, antwortete sie gereizt. »Kann heute gar nicht richtig folgen – ständig unterbrechen sie das Programm für die blödsinnigen Sondermeldungen.«
»Sondermeldungen?«, fragte Tane.
»Ja – sie haben ganz Whangarei weiträumig abgesperrt. Rinderwahnsinn oder so was Ähnliches.«
Und während Rebeccas Mutter wieder die Treppe hinaufstieg und verschwand, saßen die drei Freunde am Tisch und starrten sich mit offenen Mündern an.
Die Stimme des Nachrichtensprechers klang gleichmäßig und professionell. Er schien zwar ein wenig besorgt, wirkte aber nicht verängstigt. Das kleine Team hörte geschockt zu, als er die Einzelheiten der Quarantänezone verkündete. Danach wurde ein Polizeisprecher interviewt, der die Bürgerinnen und Bürger bat, ruhig und besonnen zu bleiben, aber Reisen in die betroffene Gegend zu vermeiden, wenn sie nicht unbedingt nötig seien. Auf einer Farm im Northland habe man BSE entdeckt. BSE – oder Rinderwahn – war eine Krankheit, die der neuseeländischen Milchwirtschaft schwersten Schaden zufügen konnte.
Die Autobahn von Kawakawa bis südlich von Russell und in nördlicher Richtung bis Keri Keri war gesperrt worden. Auch sämtliche Nebenstraßen waren gesperrt. Niemand durfte ohne Sondererlaubnis der Polizei und des Militärs aus dem Quarantänegebiet heraus oder in die Zone hinein. In derselben Nachrichtensendung wurde eine weitere Meldung gebracht, die aber mit der BSE-Story nichts zu tun hatte. Die Polizei suchte zwei Teenager und eine unbekannte Zahl von Komplizen im Zusammenhang mit dem Verschwinden einer berühmten Wissenschaftlerin aus einer Forschungsstation in der Bay of Islands.
Ein Foto von Professor Green wurde eingeblendet, daneben eine kurze Zusammenfassung ihrer wissenschaftlichen Laufbahn. Dann brachten sie Phantombilder von Rebecca und Tane, die ihnen allerdings nicht sehr ähnlich sahen.
»Was zum Teufel ist eigentlich los?«, rief Fatboy, als die Nachrichtensendung zu Ende war.
»Verschwunden!« Rebecca zog verächtlich die Mundwinkel herab. »Das also meinten die Soldaten, als sie fragten, wo die Geiseln geblieben seien! Und jetzt glauben sie, wir hätten Vicky gekidnappt!«
»Und was ist mit der Rinderwahnsache?«, wollte Tane wissen.
»Rinderwahn! Das ist kein Rinderwahn!«, rief Rebecca erregt. »Damit wollen sie die Sache doch bloß vertuschen, um eine Panik zu vermeiden.«
»Aber was für eine Sache ist es denn nun?«, rief Tane frustriert.
»Ist das denn nicht völlig klar? Auf der Insel ist irgendwas passiert. Das ChimäraProjekt ist aus dem Ruder gelaufen.«
Tane stand auf und schaltete den Ton des TV-Geräts aus. Die plötzliche Stille schien dem Tag jede Wärme zu nehmen, obwohl draußen die Sonne vom Himmel knallte.
»Ich glaube, wir wären ohnehin zu spät gekommen«, sagte Rebecca mit leiser Stimme, »denn was immer wir hätten verhindern sollen, war bereits geschehen.«