SCHICKSALSBLITZE
Mine eyes have seen the glory of
the coming of the Lord:
He is trampling out the vintage where
the grapes of wrath are stored;
He hath loosed the fateful lightning
of His terrible swift sword:
His truth is marching on.
Julia Ward Howe,
»The Battle Hymn of the Republic«
Freitag, 1. Januar, 0.05 Uhr
Rechts von Crowe ragte Mandersons große Gestalt aus dem Schützenloch, daneben stand ein Team von Feuerwehrleuten in Bioanzügen, die mehrere dicke Wasserschläuche vor ihren Löschfahrzeugen ausrollten. Die anderen Soldaten von Crowes Truppe hatten sich links von ihm an der Autobahn entlang verteilt. Er hatte außerdem Freiwillige von den Teams Grün, Orange und Gelb angefordert, und vierzig von den achtundvierzig Männern dieser Teams waren seinem Ruf gefolgt. Seit der Katastrophe am Weihnachtstag waren sie hier eingetroffen und hatten sich den Teams Rot und Blau angeschlossen. Und sie alle hatten an der Straße entlang Stellung bezogen.
Schon wirbelte der Dunst um die Straßenlaternen. Sie standen unmittelbar am Rand des Nebels.
Crowe hob die Waffe. Nicht seine normale XM8, sondern einen ganz gewöhnlichen Hochdruckreiniger. Hinter ihm tuckerte ein mit Diesel betriebener Generator.
Er vergewisserte sich zum letzten Mal, ob der Reiniger auf höchste Druckstufe eingestellt war, und gab einen kurzen Probestoß ab. Der Wasserstrahl schoss über die gesamte Autobahn. In beiden Richtungen schossen solche Wasserfontänen aus den Stellungen der Soldaten heraus, die ihre Geräte ebenfalls testeten.
Über ihnen kreisten die Sprühflugzeuge, die von hier unten winzig aussahen. Sie warteten nur auf Crowes Einsatzbefehl. Sie waren möglicherweise seine schärfste Waffe, und er wollte sie erst einsetzen, wenn die Ziele ganz klar erkennbar waren.
Die Straßenlampen verschwanden im dichter werdenden Nebel, der um die kräftigen Lampen gelbe Lichthöfe bildete. Schon leckte der Nebel an den Rändern des Schützenlochs, in dem er kniete, kroch langsam hinein, wallte um seine Beine bis hinauf zu seiner Hüfte.
Der Nebel schien die Angst mit sich zu bringen. Sie war so greifbar, dass er glaubte, daran ersticken zu müssen. Alles in ihm drängte ihn, aufzuspringen und um sein Leben zu laufen, die Straße hinunter bis zur Stadt.
Etwas an diesem Nebel sorgte dafür, dass diese Angst stärker war als jede Todesangst, die einen Soldaten beim Kampf normalerweise packte. Es war die Angst der Ungewissheit, aber noch etwas anderes, was man nicht beschreiben konnte. Es war, als fürchtete sich nicht nur sein Verstand, sondern jede Faser seines Körpers vor dem Nebel. Als zitterte jede einzelne Zelle, die zusammen das Lebewesen bildeten, das er war, vor den unerbittlich herankriechenden weißen Schwaden.
Aber jetzt konnte er nicht mehr davonlaufen. Das hier war es – das war der ultimative Augenblick der Wahrheit für Auckland, für Neuseeland, möglicherweise sogar für die gesamte Menschheit. Hier. Hier und jetzt.
Crowe wusste auch, wenn er diesen Terror so stark empfand, dass er kaum noch denken konnte, dann musste es seinen Männern ähnlich ergehen und natürlich auch den Kiwis, die kampfbereit neben ihnen lagen.
Im Kopfhörer hörte er Mandersons Stimme. Er blickte zu ihm hinüber. Sein Freund sang. Ein altes Lied. Die aufwühlende Hymne, die schon im amerikanischen Bürgerkrieg die Soldaten des Nordens im Kampf gegen die Konföderierten gesungen hatten wie später auch die US-Soldaten im Ersten und im Zweiten Weltkrieg: die Schlachthymne der Republik.
»Mine eyes have seen the glory of
the coming of the Lord:
He is trampling out the vintage where
the grapes of wrath are stored;
He hath loosed the fateful lightning
of His terrible swift sword:
His truth is marching on.«
Und jetzt fielen auch andere Stimmen ein, die Straße hinauf und hinunter begannen die Soldaten zu singen. Zuerst die Männer vom USABRF in ihren schwarzen Biokampfanzügen. Dann stimmten ein paar Männer mit neuseeländischem Akzent zögernd ein.
Crowe schaltete sein Kehlmikro ein und fiel in den Chor mit ein.
»Glory, glory, hallelujah!
Glory, glory, hallelujah!
Glory, glory, hallelujah!
His truth is marching on!«
Der Nebel wirbelte um die Männer herum, und noch bevor der Chor zu Ende gesunden hatte, stießen die ersten Quallen aus dem Nebel heraus zu. Die Hymne verstummte allmählich, während die Männer begannen, auf die Kreaturen einzuschlagen, die mit ihren feinen Fühlern in die Bioanzüge einzudringen versuchten.
Sie schossen direkt aus dem Nebel heran. Sie irrten nicht hin und her, sie suchten nicht, sie waren so unbeirrbar wie Lenkraketen, die auf ihr Ziel programmiert waren, wie Pfeile aus dem Nebel, mit fadendünnen Tentakeln, die hinter ihnen herwedelten.
Die Männer schlugen wie verrückt auf die Kreaturen ein, zerquetschten sie, rissen sie von ihren Armen und Anzügen und schleuderten sie von sich. Die Luft wimmelte plötzlich von Quallen.
Crowe schob den Einstellring seines Drucksprühgeräts auf »Spray« und drückte auf den Abzug. Er richtete die Düse in die Luft über den Quallen. Fünf oder sechs Quallen fielen zu Boden und wanden sich vor seinen Füßen. Ihre Oberfläche oder Haut, wenn man es überhaupt so nennen konnte, begann zu sprudeln und Blasen zu werfen. Das Salz wirkte tatsächlich, wie Crowe jetzt erkannte.
»Hier, das ist für euch, ihr Blutegel!«, brüllte Manderson neben ihm.
Crowe gab einen neuen Wasserstoß ab und brüllte den Feuerwehrleuten durch das Funkgerät seine Befehle zu.
Die meisten Quallen fielen zu Boden. Crowe sah, dass jetzt die Feuerwehrleute vor den Löschzügen die schweren Schlauchmündungen anhoben. Ein riesiger Vorhang aus Salzwasser ging vor den Soldaten nieder – dicht wie ein zweiter Nebel.
Die Quallen fielen und sprudelten jetzt zu Hunderten, sogar zu Tausenden. Die Straße vor der Verteidigungslinie war bald übersät mit weißlichen Kreaturen, die sich nur kurz wanden und dann still liegen blieben.
Die Quallen, die er als Erste abgeschossen hatte, lagen immer noch vor seinen Füßen. Ihre Oberfläche schien sich zu verhärten, verwandelte sich in eine blassweiße Schale. Sie waren vom Nebel nicht mehr absorbiert worden!
»Sie kommen!«, brüllte jemand in Crowes Kopfhörer, und schon sah er undeutlich den ersten Schneemann aus dem Nebel herantapsen. Das Geräusch, das sie verursachten, war kein Zischen – es war eher wie das Heulen des Windes um ein Haus in einer stürmischen Nacht.
Zuerst bemerkte er nur ein paar, die aus dem Nebel herauskamen und dabei erst richtig Gestalt annahmen. Aber mehr und mehr erschienen hinter ihnen. Und plötzlich waren sie überall, wälzten sich wie eine geschlossene Mauer über die gesamte Straße auf die Soldaten zu.
»Mein Gott!«, murmelte Manderson.
»Druckspüher zurückhalten, bis sie näher heran sind!«, befahl Crowe. »Schlauchteams – Wasser ab!«
Die Feuerwehrschläuche rechts neben Crowes Schützenloch schwollen an und ein gewaltiger, dicker Strahl von Meerwasser schoss heraus wie lange, nasse Arme, die durch den Nebel nach den Horden der heranrückenden Kreaturen griffen.
Schneemänner, die von den Wasserstrahlen getroffen wurden, explodierten. Dicke, unförmige Tropfen ihrer Substanz flogen durch die Luft.
Crowe sah, dass die vordersten in der Front der Schneemänner von den Salzwasserstrahlen buchstäblich in Stücke zerrissen wurden, als die Feuerwehrteams die Schläuche hin und her bewegten.
Und doch kamen mehr und immer noch mehr Schneemänner aus dem Nebel.
Crowe drückte auf den Sprechknopf seines Kehlmikros. »Ruft die Sprühflugzeuge heran. Über die gesamte Länge der Autobahn. Direkt über unserer Linie.«
Am Himmel röhrten die Motoren. Die ersten Flugzeuge kamen im Tiefflug, knapp über dem tödlichen Nebel; der Dunst wurde dichter, als sich ihre Wasserlast in feinem Salzwassersprühnebel über die Straße senkte.
Die Quallen fielen jetzt in ganzen Schwärmen aus dem Nebel zu Boden, häuften sich auf der Straße, aber die Schneemänner marschierten immer noch voran. Doch auch ihre Oberfläche schrumpfte und warf Blasen, die vom Salz verursacht wurden. Aber es hielt sie nicht auf.
Die Löschzüge schwenkten die Düsen ihrer Schläuche hin und her, zerfetzten die Kreaturen in Massen, aber die Fahrzeuge standen in zu großen Abständen. Die Schneemänner rückten bis zur anderen Seite der Autobahn vor, zur Seite der Verteidigungslinie.
»Wasserwerfer! Sprüht, was das Zeug hält!«, gellte Crowes Stimme durch die Kopfhörer.
Noch mehr Tankwagen rollten heran, aber trotzdem wurde das Wasser knapp. Dank Rebecca wirkte das Salz und verhinderte, dass der Nebel die abgeschossenen Kreaturen wieder absorbieren konnte.
Eine weiße Gestalt sprang ihn an. Crowe riss sein Drucksprühgerät hoch, zielte mit dem schwarzen Metallrohr und drückte ab.
Ein Wasserstrahl schoss heraus und traf die Kreatur genau in der Mitte. Der Strahl riss ein Loch in das schwammige Wesen. Crowe bewegte die rote Düse ruckartig, sodass er die Kreatur förmlich zersägte. Aus dem Augenwinkel sah er, dass Manderson genauso kämpfte.
Und hier, im lichter werdenden Nebel, stand Crowe nun endlich dem Feind Auge in Auge gegenüber. Zum ersten Mal sah er, warum die Leute bei den ersten Begegnungen diese Kreaturen mit Schneemännern verglichen hatten. Sie ähnelten aufgeblasenen Menschenwesen, als würden sie durch inneren Überdruck aufgebläht, und ihre Oberfläche war mit einer weißen, gallertartigen Substanz bedeckt.
Und sie hatten Gesichter, wie er erst jetzt erkennen konnte. Fast menschliche Gesichter, mit Mündern, Nasen, sogar Augen, aber alles bestand aus derselben gallertartigen Substanz. Augen, Augenlider, alles war weiß. Sie blinzelten nicht. Der schiere Horror, den er zuvor verspürt hatte, wurde noch stärker, aber er wich nicht von der Stelle.
Wieder mähte er eine der Gestalten nieder, schoss einer zweiten die Beine weg, schnitt einer dritten den Kopf ab.
Alle fielen zu Boden.
Ein paar Schritte vor ihm fegte der Strahl aus dem Feuerwehrschlauch unermüdlich hin und her – und endlich, endlich kam die Front der Schneemänner zum Stillstand. Wie wild hackte Crowe weitere Kreaturen in Stücke und entdeckte, dass er vor überschäumender Begeisterung jubelte.
Sie bekamen allmählich die Oberhand. Die Verteidigungslinie hielt!
»Der Nebel wird dichter!«, rief Manderson.
»Ruft die Jäger heran!«, schrie Crowe. »Nahunterstützung! Abwurf direkt in den Nebel, vielleicht können wir ihn damit ausdünnen.«
Aber er sah, dass nicht nur der Nebel dichter wurde, sondern dass sich die Kreaturen auch schneller bewegten. Wieder zerlegte er zwei von ihnen. Die Überreste der Schneemänner häuften sich auf der Straße. Direkt über dem Kampf zoomten die Sprühflugzeuge heran und bedeckten die Überreste mit Salzwasser, sodass sie weiter schrumpften und zischten.
Auf der anderen Straßenseite blitzte es grell auf. Crowe ging in seinem Schützenloch in Deckung, und schon rollten die Schockwellen mehrerer gewaltiger Detonationen über ihn hinweg. Der Boden bebte.
In diesem Augenblick hörte er Lucy Southwells Stimme im Kopfhörer, vom Kommandozentrum, hundert Meter hinter der Kampfzone.
»Crowe, hier Lucy. Die Evakuierung ist fast abgeschlossen, aber wir haben keinen Kontakt mehr mit den östlichen Abschnitten der Linie.«
»Mein Gott!«, sagte Manderson zum zweiten Mal in dieser Nacht, aber dieses Mal klang es wie ein Gebet.