DAS ENDE
They took all the trees
Put ‘em in a tree museum
And they charged the people
A dollar and a half just to see ‘em.
Don’t it always seem to go
That you don’t know what you’ve got
Till it’s gone
They paved paradise
And put up a parking lot.
Joni Mitchell, »Big Yellow Taxi«
Samstag, 26. September
Der Anfang vom Ende der Welt begann für Tane Williams und Rebecca Richards mit einem Adrenalinstoß: Sie standen auf dem Dach eines Hotels im Stadtzentrum von Auckland, einundzwanzig Stockwerke hoch, und starrten auf die Straßenlaternen und den schwarzen Asphalt hinunter.
Es hatte geregnet. In den Pfützen auf Straßen und Gehwegen funkelte das Licht der Laternen wie kleine, glitzernde Blitze.
»Fertig?«, fragte Rebecca und grinste Tane aufmunternd an.
Er grinste zurück, um ein nervöses Schlucken zu verbergen. Ein letztes Mal überprüfte er den Karabiner an seinem Seil.
»Alles klar!«, sagte er.
»Dann los!« Sie drehte sich um und ging langsam rückwärts auf den Rand des Daches zu.
Auch Tane wandte den fernen Lichtern und Geräuschen der belebten Straße den Rücken zu. Er trat in eine flache Pfütze.
Einen kurzen Augenblick lang sah er zu den Sternen hinauf. Sie waren selbst durch das Streulicht der umliegenden Hochhäuser deutlich zu sehen, wie Salzkörnchen auf einer schwarzen, seidig glänzenden Tischdecke. Der Regen hatte schon vor Stunden aufgehört, und die Nacht war klar und schön.
»Tane?« Rebeccas Stimme brachte ihn wieder auf den Boden oder vielmehr auf das Dach zurück. Er löste den Blick von den Sternen und konzentrierte sich auf das Seil.
Niemals hätte er es über sich gebracht, auf die Brüstung eines einundzwanzig Stockwerke hohen Gebäudes zu steigen, wenn er sich nicht auf den einen entscheidenden Gegenstand hätte konzentrieren können, der ihn davor bewahren musste, in den sicheren und grausamen Tod zu stürzen: das Seil.
»Vergiss nicht, dass wir zusammenbleiben müssen«, sagte Rebecca, »sonst reißen wir die Haken aus dem Banner.«
Das Banner lag zwischen ihnen auf der Brüstung. Es war ungefähr zehn Meter lang und zu einer langen Vinylwurst zusammengerollt, deren Enden an ihren Gürteln befestigt waren. Tane glaubte zwar nicht, dass sich die Haken aus dem Banner lösen könnten, viel wahrscheinlicher war, dass es einen von ihnen in die falsche Richtung ziehen würde, und was dann geschehen könnte, wollte er sich lieber nicht ausmalen.
Rebecca stieg auf die Brüstung, und Tane folgte ihr, bevor er groß darüber nachdenken konnte. Die Bannerrolle glitt leise über den Rand und hing ausgestreckt zwischen ihnen.
Nur eine leichte Windbö erinnerte Tane daran, dass er sich hoch über dem Erdboden an der Außenseite eines Hochhauses befand, sonst wäre es kein Unterschied zu den vielen Trainingsstunden in der Kletterhalle oder zum Kletterkurs im Schullandheim gewesen.
Tane suchte Stand an der Außenseite des Gebäudes und spürte, dass er fest im Seil saß. Er blickte sich um. Der Mond hing bereits weit unten am Horizont und hüllte die Wohnblocks und die Bürotürme in der Umgebung in einen silbernen Mantel.
Er stieg ab, gab etwas Seil nach und suchte mit beiden Schuhen einen sicheren Tritt, bevor er sich an der Hochhausfassade weiter abseilte.
An einer Stelle glitt er mit dem Schuh ab und schlug mit dem Knie gegen die Hauswand. Zum Glück trug er Knieschoner und verletzte sich nicht.
Sie kamen an einem Fenster vorbei. Tane stockte der Atem, denn er sah genau in das Gesicht eines Wachmanns. Entsetzt schaute er zu Rebecca hinüber, doch sie legte nur warnend den Finger auf die Lippen. Als er sich wieder zum Fenster drehte, wurde ihm klar, warum sie so gelassen blieb.
Der Wachmann strich sich das Haar nach hinten und rückte seine Krawatte zurecht. Dann befeuchtete den Daumen und glättete die Augenbrauen. Er posierte wie ein Bodybuilder und reckte wie ein alter Filmstar das Kinn vor.
Tane begriff, dass die Fensterscheibe in dem hell erleuchteten Hotelkorridor wie ein Spiegel wirkte. Der Wachmann sah nur sich selbst; Tane sah er nicht, obwohl der direkt vor dem Fenster im Dunkeln am Seil hing.
Trotzdem warteten sie, bis der Wachmann sich umgedreht hatte, bevor sie weiter abstiegen.
Es kam ihnen wie eine Ewigkeit vor, obwohl es nur ein paar Sekunden dauerte. Dann rief Rebecca: »Hier.« Eine Windbö trug ihre Stimme sanft zu ihm herüber.
Tane sah sich um. Er suchte nach einer großen, fest im Beton verankerten Befestigungsöse, konnte sie aber zunächst nirgends entdecken. Doch dann fand er sie. Sie diente normalerweise zum Festzurren der Fensterputzergondeln.
Genau für diesen Zweck war an dem Banner ein zusätzlicher Karabinerhaken befestigt. Tane drehte sich in der Hüfte, bis er den Karabiner in der Öse einhaken konnte. Doch bevor er das Banner von seinem Gürtel löste, überprüfte er noch einmal den Sitz des Karabiners. Dann zog er ein Vorhängeschloss aus seiner Tasche, schob den Bügel durch Karabiner und Öse hindurch und ließ es zuschnappen.
Das Schloss würde sich nur mit einer Eisensäge entfernen lassen.
Er sah zu Rebecca hinüber. Sie wartete schon auf ihn.
»Echt cool, oder nicht?«, fragte sie.
»Ja, cool«, erwiderte Tane, obwohl er sich alles andere als cool fühlte.
»Auf drei«, sagte sie.
Tane ergriff die Schnur, mit der das Banner zusammengebunden war, und wartete.
»Drei!«, rief Rebecca.
Lachend zog Tane die Leine und beobachtete, wie sich das Banner an der Fassade entrollte. Zwei Wochen sorgfältigster Planung trugen nun ihre Früchte. Das Transparent mit seinem wichtigen, welterschütternden Protestspruch zu … was immer das Neueste von Rebeccas vielen Anliegen sein mochte … hing an seinem Platz und wartete nun auf den Protestmarsch am folgenden Tag.
Rebecca grinste und deutete nach oben.
Tane stöhnte. Das Abseilen war die leichtere Übung gewesen; der Aufstieg erforderte eine viel größere Kraftanstrengung.
Er hakte seine Steigklemme in das Seil und schob sie, so weit es ging, nach oben. Dann begann er den mühseligen Aufstieg am Seil.
Fünfzehn Minuten später lagen beide rücklings auf der niedrigen Brüstung des Hoteldachs und schnappten nach Luft. Zwischen jedem Atemzug johlten sie vor Begeisterung.
Aus dem offenen Fenster einer nahe gelegenen Wohnung wehten die traurigen Töne eines Songs von Joni Mitchell zu ihnen herüber.
»Meinst du, jemand hat uns gesehen?«, fragte Tane.
»Ich kann nirgends Polizei oder den Wachdienst sehen«, erwiderte Rebecca. »Ich glaube, wir kommen ungeschoren davon.«
Tane ließ sich vorsichtig von der Brüstung auf das eigentliche Dach rollen und schnallte die Klettergurte ab.
»Das hat echt Spaß gemacht«, sagte er.
»Wirklich?«, erwiderte Rebecca lächelnd. »Ich dachte, du würdest gleich kotzen, als wir über die Brüstung gestiegen sind.«
»Ach was! Ich war total cool!«
»Den Eindruck hatte ich aber nicht«, lachte sie.
Tane stürzte sich auf sie, als wollte er sie von der Brüstung stoßen.
Sie quiekte kurz, dann lachte sie wieder. »Ich bin gespannt, was für Gesichter morgen alle machen werden. Wenn die Presse und die vielen Politiker aufmarschieren und als Erstes unser Banner zu sehen bekommen.«
Leise stiegen sie die Treppe bis zum obersten Stockwerk des Hotels hinab und fuhren von dort mit dem Fahrstuhl in die Lobby hinunter.
In der belebten Empfangshalle des City-Hotels achtete niemand auf die beiden Rucksacktouristen.
»Wie läuft’s mit dem Schreiben?«, fragte Rebecca auf der langen Heimfahrt im Bus.
»Gut, oder sagen wir mal, ziemlich gut«, antwortete Tane.
»Woran arbeitest du gerade?«
»Ich hatte da neulich eine tolle Idee für ein Buch.«
»Worüber?«
»Ach, das interessiert dich ja doch nicht.«
»Erzähl’s mir trotzdem.«
Tane versuchte im dämmrigen Licht des Busses ihren Gesichtsausdruck zu erkennen. »Aber nicht, wenn du nur daran herumnörgelst.«
»Versprochen«, sagte Rebecca und grinste.
»Okay. Es handelt von Neonazis, die in die Zeit des Zweiten Weltkriegs zurückkehren und alle möglichen modernen Waffen mitnehmen, mit denen sie den Verlauf des Krieges ändern wollen. Und dann gibt es einen Jungen, der das herausfindet und der mit seinen Kumpels ebenfalls in diese Zeit zurückreist, und dort kämpfen sie mit ihren Waffen gegen die Neonazis.«
»Klingt spannend«, sagte Rebecca.
»Ich hab erst das erste Kapitel geschrieben«, sagte Tane, »aber ich glaube, es wird ganz gut.«
»Natürlich sind Zeitreisen in Wirklichkeit unmöglich«, sagte Rebecca.
»Wusste doch, dass du daran herumnörgeln würdest.«
»Ich kritisiere doch nicht deine Idee!«, erwiderte Rebecca heftig. »Ich sage nur, dass Zeitreisen in Wirklichkeit nicht möglich sind.«
»Egal, das spielt doch keine Rolle. Es ist ja bloß eine Geschichte«, sagte Tane.
»Sag ich doch.«
»Und irgendwann wird das vielleicht erfunden.«
»Ganz bestimmt nicht«, sagte Rebecca und sah aus dem Busfenster auf die vorbeizuckenden Lichter der Autos.
»Wetten wir?«, fragte Tane.
»Nein. Aber Zeitreisen sind unmöglich.«
»Also, ich habe einmal ein Buch gelesen. Weiß nicht mehr genau, wie es hieß, aber es handelte von irgendwelchen Archäologen, die ins Mittelalter zurückreisen, um einen verschollenen Geschichtsprofessor zu retten. Sie kämpfen mit …«
»Timeline«, warf Rebecca ein, »von Michael Crichton, neunzehnhundertneunundneunzig.«
»Genau, das war es. Jedenfalls schaffen sie es irgendwie, eine Art Loch in das Gefüge der Zeit zu bohren, durch das sie sich dann ins Mittelalter beamen können.«
»Ich weiß. Ich habe das Buch auch gelesen«, sagte Rebecca. »Also, wissenschaftlich gesehen fand ich es nicht schlecht. Jedenfalls die Sache mit dem Raum-Zeit-Gefüge und dem Quantenschaum, bis zu der Stelle, wo sie sich durch das winzige Loch in die Vergangenheit beamen.«
Tane überlegte einen Augenblick. Zugegeben, in Mathe und Physik war er nicht so gut wie sie. Dafür lagen seine Stärken in Englisch und Kunst, und als Mundharmonikaspieler war er in der Schule ein Star. Trotzdem, die Sache mit der Zeitreise kam ihm durchaus plausibel vor.
»Warum?«, fragte er schließlich. »Warum soll es nicht möglich sein, dass sie sich durch die Zeit gebeamt haben?«
»Betrachte es doch mal von der logischen Seite«, sagte Rebecca nachdrücklich, aber nicht rechthaberisch. »Wie willst du denn einen lebendigen Menschen durch ein Nadelöhr kriegen?«
»Und wie ist es mit Fax-Geräten?«, wandte Tane ein. »An einem Ort steckt man ein Blatt Papier ein und sendet es durch ein Telefonkabel, und an einem anderen Ort kommt es wieder heraus.«
»Nein, tut es nicht.«
»Doch«, beharrte Tane. Er ließ sich wieder mal auf einen Streit ein, obwohl er wusste, dass sie am Ende doch recht behalten würde.
»Nein, tut es nicht«, wiederholte Rebecca. »Am anderen Ende kommt doch nur eine Kopie des Papiers heraus. Das eigentliche Papier, das du gesendet hast, bleibt, wo es ist. Du verschickst nur ein elektronisches Bild des Papiers, so ähnlich wie ein Digitalfoto. Fax ist die Abkürzung für Faksimile, was so viel heißt wie Kopie.«
»Also … äh …« Tane war klar, dass er wieder mal den Kürzeren gezogen hatte.
»Wir können Bilder, Geräusche und sogar Filme über Kabel oder Radiowellen durch die Luft schicken. Aber massive Körper, das geht nicht. Nicht mal ein Blatt Papier.«
Es war gegen zehn Uhr, als sie von der Bushaltestelle nach Hause gingen und Tane plötzlich noch einmal auf das Streitgespräch mit Rebecca zurückkam, als hätten sie es nicht längst beendet. »Gut – wir können also keine Menschen durch die Zeit schicken, aber was ist mit Geräuschen, Bildern und Filmen?«
Rebecca musste darüber tatsächlich einen Moment lang nachdenken, was für Tane schon einem kleinen Sieg gleichkam. Er zog seine Mundharmonika hervor und spielte ein langsames Blues-Riff.
»Nö«, sagte sie schließlich, »wenn mich mein wissenschaftliches Verständnis nicht täuscht« – Tane war davon überzeugt, dass dies der Fall war –, »dann könnte man höchstens Dinge in die Vergangenheit schicken. Aber nicht in die Zukunft, weil die noch nicht stattgefunden hat.«
»Aber in die Vergangenheit ginge es schon?«
»Also … rein theoretisch. Aber angenommen, wir würden eine Art Radiosender erfinden, der über die Zeiten hinweg senden könnte. Ein Zeitensender, der Botschaften durch den Quantenschaum schicken könnte. Diese Botschaften könnte aber kein Mensch hören, weil es ja in der Vergangenheit noch keinen Apparat gab, der die Übertragung empfangen könnte.«
»Oh. Ach so«, sagte Tane und fand, dass Rebeccas Argumente wie immer Hand und Fuß hatten.
Vor Rebeccas Haus blieben sie stehen.
Alles war dunkel, nur hinter einem Fenster flackerte bläulich der Schein eines Fernsehers. Rebeccas Mutter sah mal wieder fern. Keine Überraschung, ihre Mutter tat fast nichts anderes mehr. Jedenfalls nicht, seit Rebeccas Vater gestorben war.
»Oh«, sagte Tane gedankenverloren. Er schaute zum Himmel, wo genau in diesem Augenblick eine Sternschnuppe niederging.
Und das war der Moment, in dem er eine Erleuchtung hatte. Eine Inspiration. Der Moment, in dem ihm alles vollkommen klar zu werden schien.
»Und was wäre, wenn jemand in der Zukunft schon einen Zeitensender erfunden hätte und nun Botschaften in die Vergangenheit schickt und nur darauf wartet, bis dort jemand einen Empfänger erfindet?«
Er war nicht sicher, ob sich seine theoretische Frage nicht reichlich dumm anhörte, und wartete nur auf eine Abfuhr von seiner Freundin.
Die aber nicht kam.
»Wie war das noch mal?«
»Also, nehmen wir mal an, in irgendeiner Zukunft erfindet jemand so einen Zeitensender, wie du es nennst. Und dann schickt dieser Jemand Botschaften durch dieses Schaumzeugs und hofft darauf, dass jemand in der Vergangenheit einen Empfänger dafür erfindet.«
»Also … ich … hm …«
»Und wenn wir versuchen würden, einen solchen Empfänger zu bauen? Und einfach auf ein Signal aus der Zukunft warteten?«
»Das Problem ist nur, dass diese Idee mit dem Quantenschaum noch gar nicht bewiesen ist. Außerdem habe ich null Ahnung, wie man einen solchen Empfänger baut«, überlegte Rebecca laut. »Aber es ist jedenfalls eine interessante Idee.«
Das mochte recht abfällig klingen, was aber nicht der Fall war, denn es kam nicht oft vor, dass Rebecca eine Idee von Tane interessant fand. Schon deshalb war dies ein denkwürdiger Tag.
Erst später zeigte sich, dass dieser Tag aus einem ganz anderen Grund ein denkwürdiger Tag war.
»Bis morgen, Kumpel«, rief Rebecca und lief schnell über die Einfahrt auf das dunkle Haus zu.
Tane sah ihr nach, bis sie durch den Carport im Haus verschwunden war.
»Bis morgen, Kumpel«, murmelte er leise, als sie schon längst fort war.