SWIFT
Freitag, 16. Oktober
Schier endlose, gewundene Korridore führten durch die Universität. Während die Fassade mit ihren hohen, auf Säulen ruhenden Bögen eindrucksvoll gestaltet war, herrschte im Innern nüchterne Sachlichkeit. In einem Flügel waren die Wände mit polierten Holzpaneelen getäfelt; in anderen Gebäudeteilen waren Wände und Decken mit weißen Paneelen verkleidet und der Boden mit geweißtem Parkett belegt.
Je weiter man in die Universität hineinging, desto häufiger schienen sich die Flure zu verzweigen.
Tane hätte längst vor diesem Gewirr von Fluren, Ecken und Biegungen kapituliert, doch Rebecca hatte ihren Vater hier ein paarmal besucht. Er war einer der bekanntesten Wissenschaftler des Instituts für Geowissenschaften gewesen. Damals glaubten manche, dass es nur einen noch klügeren Kopf gegeben habe – seine Frau, Rebeccas Mutter.
Doch dann war eines Tages ein riesiger Truck zu schnell in eine Kurve gegangen und hatte den Wagen ihres Vaters buchstäblich zermalmt. Der Trucker war ein erfahrener, vernünftiger Mann und völlig nüchtern gewesen. Er war nur eben ein bisschen zu schnell in diese Kurve gegangen und hatte Rebeccas Vater getötet.
Rebecca kannte deshalb die kleinen blauen Wegweiser gut genug, die in verwirrend großer Zahl an den Ecken und Gabelungen der Universitätsflure angebracht waren.
Sie liefen schnell durch einen langen Verbindungsflur zwischen zwei Flügeln und kamen schließlich vor eine große weiße Paneeltür mit der Aufschrift »Geophysikalisches Institut und Labor«.
Rebecca legte Tane kurz die Hand auf den Arm. »Überlass das Reden mir.«
»Bist du denn überhaupt sicher, dass du das tun willst?«, fragte Tane. Die Frage hatte er schon in der Schule ein paarmal gestellt und immer ungefähr die gleiche Antwort bekommen, aber er stellte sie trotzdem noch einmal. »Ich meine, gerade jetzt, mit dem Haus und so weiter.«
Es war Freitag, und nachdem Rebecca während der Woche fast jede freie Minute damit verbracht hatte, die Rechnungen zu sichten, die sich angesammelt hatten, kam es Tane ausgesprochen seltsam vor, dass sie jetzt ihre Energie an etwas verschwendete, das eigentlich nicht mehr war als eine halb wirre Idee, die ihnen bei ihrem Gespräch an jenem Abend gekommen war. Aber andererseits würde es sie vielleicht von ihren großen Sorgen ablenken, dachte er.
»Ich hab’s dir doch schon mal erklärt«, sagte Rebecca. »Wenn wir erst mal nach Masterton umgezogen sind, habe ich dazu keine Gelegenheit mehr. Das hier ist das einzige Labor im ganzen Land, das Live-Zugang zu den Swift-Beobachtungsdaten hat.«
Tane hatte keine Ahnung, warum sie unbedingt einen »Live-Zugang zu den Swift-Beobachtungsdaten« benötigten; er wusste nicht einmal, wer oder was Swift war, und war auch nicht sicher, ob er es überhaupt wissen wollte. Rebecca hatte zwar alles schon einmal erklärt, aber verstanden hatte er nichts. Sie hatte ihm aber versprochen, alles noch einmal in ganz einfacher Sprache zu erklären, sobald sie die Daten hatten. Und um sie zu bekommen, waren sie hier.
Rebecca öffnete die Tür, und sie betraten das Institutslabor, das allerdings überhaupt nicht wie ein Labor aussah. Jedenfalls hatte Tane etwas anderes erwartet als eine Reihe ganz normaler Schreibtische mit Computermonitoren.
Ein Mann mit schütterem grauem Haar und Vollbart stand von seinem Schreibtischstuhl auf und kam auf sie zu. Er trug eine schmale Metallrahmenbrille mit dicken Gläsern – damit entsprach er genau dem Klischee eines Universitätswissenschaftlers, und in diesem Fall stimmte es sogar.
»Rebecca!«, begrüßte er sie herzlich. »Du bist ja fast schon erwachsen!« Er schaute sie seltsam an, als sei er nicht sicher, ob er sie umarmen oder ihr nur die Hand schütteln sollte, konnte sich aber offenbar zu keinem von beiden entschließen.
»Das ist mein Freund Tane«, sagte Rebecca. Der Mann schüttelte kurz Tanes Hand, und als ob das die Entscheidung erleichtert hätte, schüttelte er jetzt auch Rebecca die Hand. »Tane«, fuhr sie fort, »das ist Professor Barnes. Er hat mit meinem Vater zusammengearbeitet.«
»Wie geht es deiner Mutter?«, fragte Barnes.
»Sie ist … Es geht ihr gut.«
»Schön, dich wiederzusehen, Rebecca. Und womit kann ich dir helfen?«, fragte der Professor. »Am Telefon hast du etwas von einem Kunstwerk erzählt? Konnte mir aber nicht vorstellen, was Kunst mit unserer Geophysik zu tun hat.«
Rebecca lächelte. »Tane ist Künstler und ein sehr begabter sogar. Er hatte eine Superidee – er plant ein … eine Grafik … mit Datenübertragungen aus dem All. Soll so was wie Kunst aus dem Weltall werden … Ziemlich schwer zu erklären«, endete sie ein wenig lahm und schenkte Barnes ein Lächeln, das so etwas wie »So sind sie eben, diese Künstler« heißen sollte.
»Ich verstehe«, sagte Barnes nachdenklich, »glaube ich jedenfalls.« Er wandte sich an Tane. »Denkst du an irgendwelche spezifischen Übertragungsdaten? Wir erhalten nämlich jede Menge davon, musst du wissen.«
»Ich hab ihm von Swift erzählt«, mischte sich Rebecca schnell ein, bevor sich Tane eine Antwort ausdenken konnte, »und von den Gammastrahlenblitzen. Tane meint, wir könnten die Rohdaten von einem der Gammablitze verwenden und sie digital bearbeiten, bis wir auf dem Computer ein visuelles Muster erhalten.«
Barnes blickte verwirrt zwischen seinen Besuchern hin und her. »Na, ich vermute mal, dass das heutzutage tatsächlich als Kunst durchgehen könnte. Ich male selber ein bisschen in meiner Freizeit, Landschaften und Stillleben und so. Hab eine ziemlich originelle Methode mit Paletten-Messern entwickelt. Das könnte auch für euch interessant sein. Ich könnte ein paar Fotos davon aufnehmen und sie euch mailen … Ich denke da besonders an eines meiner Ölbilder …«
»Das wäre wirklich super!«, schnitt ihm Rebecca mit so breitem Lächeln das Wort ab, dass er es ihr nicht übel nehmen konnte. »Und die Swift-Daten …?«
Barnes dachte kurz darüber nach, dann meinte er: »Na gut, vermutlich können ein paar Daten keinen Schaden anrichten. Solange ihr versprecht, sie nur für künstlerische Zwecke zu verwenden. Wir sind nämlich das einzige Labor im ganzen Land, das Direktzugang zu den Übertragungsdaten von Swift hat.«
Rebecca riss die Augen weit auf. »Wirklich?«, seufzte sie hingerissen. »Wusste ich gar nicht!«
»Gerade heute früh gab es wieder einen Blitz. Hab vor ein paar Minuten die Daten heruntergeladen. Aber die sind nichts weiter als jede Menge Bits und Bytes; es sind Rohdaten, wenn du weißt, was ich meine. Seid ihr denn sicher, dass euch dieses Zeug etwas nützt?«
»O ja, wir füttern sie in eine spezielle Software, die dann die Rohdaten in eine grafische Darstellung umwandelt«, erklärte Rebecca.
»Na gut. Ich schreib euch die Daten auf eine CD.« Professor Barnes ging durch das Labor und verschwand hinter einer Tür. Ein paar Minuten später kam er mit einer CD in der Hand wieder zurück und reichte sie Rebecca.
»Du versprichst mir doch, dass du diese Daten an niemanden weitergibst?«, sagte er besorgt. »Sie sind zwar nicht streng geheim, aber alle Swift-Daten sind durch Copyright geschützt und gehören der NASA.«
»Wem sollte ich denn die Daten weitergeben wollen?«, fragte Rebecca süß und unschuldig, nahm die CD in Empfang und gab sie prompt an Tane weiter.
Tane konnte in den Daten keinerlei Sinn erkennen. Sie waren genau so, wie Barnes sie beschrieben hatte – lange Reihen von Einsen und Nullen. Eben Rohdaten. Allerdings verstand er auch nicht, was Rebecca ihm über diese ganze Sache erklärte.
Er lag auf seinem Bett und schaute ihr zu, wie sie an seinem Schreibtisch saß und sorgfältig auf der Tastatur tippte. Sie waren zu Tane gefahren, weil er einen neuen, leistungsfähigen Rechner besaß. Tane war klar, dass ihn Rebecca um seinen Computer beneidete; es störte sie, dass er das Gerät nur als eine Art intelligente Schreibmaschine benutzte, um seine Geschichten zu schreiben oder um darauf Computerspiele zu spielen. Rebeccas Computer war viel älter und viel langsamer.
»Okay – gib dir wenigstens ein bisschen Mühe, mir bei dieser Sache hier zu folgen«, sagte sie schließlich, während sie eine weitere kodierte Zeile in das Computerprogramm eingab. Tane konzentrierte sich auf ihr Gesicht und hoffte, dass er ihr folgen konnte.
»Ich habe ein wenig über den Quantenschaum nachgelesen«, fuhr sie fort, »und herausgefunden, dass manche Wissenschaftler meinen, man könne das Zeug entdecken, wenn es tatsächlich existiert, indem man nach Fluktuationen in den Gammablitzen sucht.«
Sie hielt inne, starrte einen Augenblick lang auf ihren Code, dann setzte sie einen Teil der Gleichung in Klammern.
»Geh noch mal ein Stück zurück«, bat Tane. »Was genau sind Gammastrahlenblitze, und woher kommen sie?«
Sie seufzte. »Okay. Es handelt sich um Explosionen einer Art von Strahlung, die Gammastrahlung genannt wird – ein bisschen wie Röntgenstrahlen oder Funkwellen, aber mit einer extrem kurzen Wellenlänge.«
Das brachte Tane auch nicht viel weiter, aber er nickte tapfer.
Rebecca fuhr fort: »Niemand weiß, was die Gammastrahlen auslöst, aber sie scheinen aus allen Teilen der Galaxie zu kommen. 1991 schickte die NASA einen Satelliten hoch, den sie Compton Gamma Ray Observatory nannten. Und 2004 setzten sie ein noch besseres Labor in die Umlaufbahn, das sie Swift nannten. Und diese Weltraumlabors tun nichts anderes, als nach Gammablitzen zu suchen und sie aufzuzeichnen.«
Tane nickte wieder.
»Swift ist der empfindlichste Detektor von Gammastrahlenblitzen auf der ganzen Welt. Auf dieser CD hier haben wir die Rohdaten eines Gammablitzes, den Swift heute Morgen aufgezeichnet hat. Wahrscheinlich sind es nur zufällig aufgefangene Daten von irgendwelchen zufällig vorhandenen Gammastrahlen. Aber wenn die Wissenschaftler recht haben, könnten die Gammastrahlen vom Quantenschaum beeinflusst werden, und deshalb – aber frag mich bloß nicht warum – könnte es theoretisch tatsächlich möglich sein, dass jemand aus der Zukunft eine Botschaft schickt, indem er die Fluktuationen der Gammastrahlen sozusagen als Transportmittel benutzt.«
»Prima«, sagte Tane trocken. »Aber spätestens bei Swift hast du mich abgehängt.«
»Spielt eigentlich keine Rolle. Wir werden jedenfalls die Daten analysieren und nach Mustern durchsuchen. Dafür verwenden wir dieses Programm hier. Wenn wir ein Muster finden – prima. Wenn nicht … na ja, es war sowieso eine ziemlich bekloppte Idee.«
Sie tippte auf ein paar Tasten und sagte: »Drück die Daumen.«
Tane starrte auf den Monitor und wartete, aber abgesehen von dem stetig blinkenden Cursor passierte nichts.
»Was macht er denn jetzt?«, fragte er schließlich.
»Mein Programm sucht nach Mustern. Aber das kann eine Weile dauern, es muss eine Menge Daten durchforsten, und die Muster könnten ziemlich kompliziert sein. Aber wenn es eine Serie von Ziffern findet, die definitiv ein Muster ergeben, hält es an, damit wir uns die Sache anschauen können.«
»Echt cool«, sagte Tane, obwohl er gehofft hatte, dass das Programm wenigstens bunte oder absurde Muster über den Monitor wirbeln würde, so ungefähr wie ein Bildschirmschoner.
Eine Weile beobachteten sie den blinkenden Cursor, aber die Sache wurde ziemlich schnell langweilig.
»Wenn es solche Muster gäbe, hätte doch die NASA sie schon längst entdeckt, oder nicht?«, fragte Tane nach einer Weile.
»Sie suchen gar nicht danach«, erklärte Rebecca. »Sie wollen nur herausfinden, was die Strahlenexplosionen auslöst. Sie glauben, es könnten zwei Neutronensterne sein, die miteinander kollidieren, oder vielleicht ein Neutronenstern, der von einem schwarzen Loch verschluckt wird.«
»Echt?«, sagte Tane beeindruckt und nickte, obwohl er sich fragte, wovon zum Henker sie da überhaupt redete.
»In Texas gibt es ein paar Wissenschaftler, die sich mit den Fluktuationen beschäftigen«, fuhr sie fort, »aber sie wollen nur die Existenz des Quantenschaums nachweisen und sind immer noch dabei herauszufinden, wie die Signatur einer Quantengravitation aussehen könnte. Aber niemand durchsucht die Strahlen nach Botschaften.«
»Nur wir.«
»Nur wir, soweit ich weiß.«
Tane beobachtete den Cursor noch eine Weile, dann drehte er sich um und betrachtete seine Freundin, die wiederum den Cursor nicht aus den Augen ließ. Keine Sekunde irrte ihr Blick vom Monitor ab.
Tane kannte Rebecca, solange er lebte. Das behaupteten sicherlich viele Freunde voneinander, aber in ihrem Fall war es die Wahrheit. Sie waren am selben Tag geboren worden, und ihre Mütter hatten auf der Entbindungsstation im selben Zimmer gelegen. In den ersten Jahren hatten die beiden Familien sogar sehr nahe beieinander gewohnt, bis Tanes Vater als Kunstmaler sehr viel Erfolg hatte und seine Eltern ein neues, großes Haus mitten in den bewaldeten Hügeln am Rande der Stadt gebaut hatten. Tane und Rebecca hatten im Kindergarten miteinander gespielt, waren zusammen in die Schule gekommen und gingen jetzt auch in dieselbe Highschool. Fast sechzehn Jahre lang kannte er dieses Mädchen mit dem spitz gegelten Kurzhaar, das neben ihm saß.
»Du wirst mir fehlen, wenn ihr nach Masterton umzieht«, sagte er leise.