VORSICHT, KAMERA

Donnerstag, 31. Dezember, 10.45 Uhr

Schweigend beluden sie den Frachtkahn. Es gab so vieles, was zu sagen gewesen wäre, aber nichts, was ausgesprochen werden konnte.

Sie nannten es Frachtkahn, aber eigentlich war es eher eine Art Käfig, ein großer, mit dicken Plastikwänden wasserdicht verschlossener Metallcontainer, an dem Schwimmer befestigt waren. Beladen mit ihren Vorräten durfte der Container nur so viel Auftrieb haben, dass ihn die Möbius hinter sich her schleppen konnte. Keinesfalls durfte der Container das kleine U-Boot auf den Meeresboden hinunterziehen oder selbst an die Oberfläche treiben.

Im Frachtkahn fanden zwölf wasserdichte Plastikcontainer Platz.

Das war die letzte Ladung. Sie hatten bereits über hundert Container auf einer natürlichen Felsenbank innerhalb der Rangitoto-Höhle aufgeschichtet, wie sie die Höhle nannten. Nach Rebeccas sorgfältigen Berechnungen hatten sie genug Nahrungsmittel und Frischwasser, um vier Menschen für mehr als ein Jahr oder sechs Menschen für mindestens neun Monate ernähren zu können. Rebeccas Mutter ahnte zwar nichts, aber für sie war eine Koje im U-Boot reserviert. Ebenso für Tanes Eltern, obwohl auch sie nichts davon wussten.

Wie sollte man auch den eigenen Eltern erklären, dass das Land, in dem sie lebten, bald völlig verwüstet würde? Dass ihre einzige Überlebenschance darin bestand, auf absehbare Zeit in einem kleinen U-Boot in einer Unterwasserhöhle zu hausen?

Diese letzte Ladung war vermutlich die wichtigste. Sauerstoffflaschen und Sofnolime-Atemkalkpatronen. Mit den Sauerstoffflaschen sollte die Luft im U-Boot aufgefrischt werden, und die Sofnolime-Patronen reinigten die Luft von dem Kohlendioxid, das sie ausatmeten.

Solange sie den Luftschlauch über die Wasseroberfläche schieben konnten, würden sie beides nicht brauchen, aber sie rechneten auch damit, dass sie längere Zeit keine Frischluft von oben herabsaugen konnten.

Frischluft wollten sie nur ansaugen, wenn sie absolut sicher sein konnten, dass die Luft sauber und rein war. Das konnten sie jedoch nicht wissen und rechneten deshalb damit, dass sie mehrere Monate lang völlig vom Rest der Welt abgeschnitten sein würden.

Rebecca lud die Flaschen und Patronenpackungen in die Plastikkisten, und Tane verstaute sie im Frachtkahn. Er hätte gern mit ihr geredet, fand aber nicht die richtigen Worte. Sie schien sich in einer fremdartigen, seltsamen Stimmung zu befinden, die er vor der Szene in der Küche noch nie bei ihr bemerkt hatte.

Es dauerte über eine Stunde, bis der Kahn beladen war. Ein paar Sauerstoffflaschen blieben übrig, die nicht mehr hineinpassten, also verstauten sie sie an Bord der Möbius. Schließlich konnte man nie wissen, ob sie die Flaschen nicht doch benötigen würden.

Rebecca ließ sich erschöpft in einen der Gartenstühle fallen, die auf dem Rasen herumstanden, und schaute still über das Meer zur Stadt hinüber. Tane überprüfte noch einmal, ob sie an alles gedacht hatten, und bemerkte den Laptop, der auf dem Gartentisch stand.

Er packte ihn in die Tasche und trug ihn zur Möbius, wobei er auf den rutschigen Holzstufen, die zum Bootshaus führten, besonders vorsichtig war.

Er war gerade halb die Treppe hinuntergegangen, als er das Telefon klingeln hörte. Rebecca wartete oben auf ihn, das Telefon in der Hand.

»Es ist für dich.«

»Wer ist dran?«

Sie zuckte die Schultern. »Keine Ahnung.«

Tane hielt den Hörer ans Ohr, hörte aber nur ein Piep-piep-piep. Der Anrufer hatte bereits aufgelegt.

Sie gingen zum Haus zurück, beide fühlten sich ein wenig gehemmt und verlegen. Rebeccas Mutter streckte den Kopf aus ihrem Zimmerfenster.

»Da seid ihr ja!«, rief sie. »Ich habe euch überall gesucht!«

»Alles in Ordnung, Mum?«, rief Rebecca besorgt zurück, aber ihre Mutter antwortete nicht darauf.

»Ihr seid im Fernsehen! Du und Tane und … äh … Tanes Bruder!«

Tane und Rebecca blickten sich erstaunt an. Bestimmt meinte sie die Phantombilder. Aber die Polizei hatte kein Bild von Fatboy.

Wie auf Kommando rannten sie ins Haus zurück, stürzten durch die Terrassenschiebetür ins Wohnzimmer und zu dem riesigen Fernseher in der Ecke.

Keine Phantombilder mehr. Sondern richtige Fotos. Fotos von allen dreien. Zwar waren die Bilder nicht besonders scharf, aber die drei war eindeutig zu erkennen.

»Woher zum Teufel haben sie die Bilder?«, sagte Rebecca atemlos.

»Ich weiß nicht … oder warte mal …«, sagte Tane. Irgendetwas im Hintergrund der Fotos kam ihm bekannt vor. Plötzlich wusste er es. Das Gemälde an der Wand hinter ihnen … Tuatara Dawn.

»Oh, Mist. Die Fotos stammen von der Überwachungskamera auf Motukiekie«, erklärte er. »Daran hätten wir denken müssen. Sie haben offenbar sämtliche alten Aufzeichnungen durchgesehen.«

»Wir müssen Fatboy warnen!«, schrie Rebecca auf. »Mit seinem Moko wird ihn jeder in einer Sekunde erkennen! Wir müssen ihn aufhalten!«

»Ich glaube, es ist schon zu spät«, sagte Tane. »Wir müssen von hier verschwinden!«

»Nein! Wir müssen ihn warnen!«, beharrte Rebecca und rannte zu ihrem Zimmer. »Wenn er das Chronophon nicht installiert, gibt es gar kein Chronophon und auch keinen Lottogewinn! Nicht mal ein U-Boot!«

Sie nahm ihr Handy vom Schreibtisch und begann zu wählen. Dann hielt sie abrupt inne, blieb unter der Tür stehen, als sei sie im Türrahmen festgenagelt worden.

Tane trat neben sie.

Der Ausdruck der letzten Chronophonbotschaft lag noch im Ausgabeschacht des Druckers. In seiner Hast und seiner Wut hatte er die Botschaft völlig vergessen.

 

FTBYDNTGO.
WTRBLSTMPS.
DSVLETHM.
SLTABS.
DNTABSRB .

 

»Das ist eine neue Mitteilung«, sagte Rebecca verwundert. »Warum hast du uns das nicht gesagt?«

»Ich …«

Sie überflog den Text, dann glitt ihr Blick wieder auf die erste Buchstabengruppe: FTBYDNTGO.

»Fatboy don’t go«, las sie langsam vor. Sie wirbelte zu ihm herum. »Fatboy geh nicht! Das ist eine Warnung, um zu verhindern, dass Fatboy … o mein Gott! Und du hast es gewusst! Du hast es gewusst!«

Sie starrte ihn an, entsetzt, ungläubig, das Gesicht nur eine Handbreit von seinem entfernt. »Du hast es gewusst!«

»Nein! Ich habe sie gar nicht gelesen! Ich meine, ich habe sie gesehen, aber …«

»Du hast es gewusst und nichts gesagt! Du hast alles kaputt gemacht! Du hast Fatboy losziehen lassen, trotz der Warnung! Tane!« Sie schrie seinen Namen so laut heraus, so nahe vor seinem Gesicht, dass er unwillkürlich zurückwich.

Tane schüttelte den Kopf, versuchte sich zu rechtfertigen. Er hatte die Mitteilung doch gar nicht gelesen!

»Und alles nur, weil du mich mit ihm zusammen gesehen hast, stimmt’s?«, fragte Rebecca langsam. »Du wolltest es uns sagen, aber dann hast du uns zusammen gesehen und hast nichts gesagt. Du blöder, dummer …«

Ihre Beine schienen plötzlich nachzugeben. Sie wankte zwei kurze Schritte zu ihrem Bett und ließ sich auf die Bettkante fallen.

»Tane«, flüsterte sie, »ich habe mit Fatboy Schluss gemacht. Ich habe dir doch gesagt – wir haben Abschied genommen.«

»Rebecca«, stöhnte Tane, »du irrst dich! Ich habe nicht …«

Wie ein Kind hielt sie sich die Ohren zu.

»Ich will es nicht hören!«, schrie sie. »Ich will es nicht hören!« Sie holte tief Luft und sagte dann, etwas ruhiger: »Tane, ich kenn dich, so lange ich lebe, und jetzt muss ich entdecken, dass ich dich überhaupt nicht kenne.«

Er trat näher, die Hände beschwichtigend ausgestreckt.

»Geh weg!«, schrie sie – und in diesem Augenblick stürzte das Haus ein.

Ein gewaltiger Blitz, gefolgt von einem ohrenbetäubenden Knall, so laut, dass er glaubte, sein Gehirn würde gesprengt. Die Fenster barsten, Rauch wirbelte in der Zugluft, und plötzlich waren überall Männer. Männer in schwarzen Kampfanzügen mit schwarzen Gesichtsmasken und schwarzen Waffen.

Wie benommen sah er Rebecca, die vor dem Bett kniete und von den Männern mit dem Gesicht nach unten auf das Bett gepresst wurde. Er dachte, dass er sie schreien hörte, war aber nicht sicher. Dann wurde auch er von den Männern gepackt, die sein Gesicht in den Teppich drückten und ihm die Arme auf den Rücken drehten.

Der Rauch umnebelte seinen Kopf. Sie verdrehten ihm die Arme so hoch, dass er vor Schmerzen aufheulte und rote Sterne vor seinen Augen tanzten. Bestimmt hatten sie ihm die Arme gebrochen. Rebecca schrie, und noch jemand schrie, und es war seine eigene Stimme.

Und dann wurde alles schwarz.

Der Tomorrow-Code
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