DIE STILLE IM NEBEL

0.30 Uhr

Ramirez zog die Maschine steil hoch und schaute nach unten, wo die letzte seiner Luft-Boden-Raketen neben der Straße aufschlug, nicht einmal hundert Meter von den Schützenlöchern am anderen Straßenrand entfernt, in die sich die Soldaten duckten.

So muss ein Präzisionsangriff aussehen, dachte er selbstzufrieden, und ein Präzisionstreffer.

Die Sprühflugzeuge hatten mit leeren Tanks abgedreht. Auch sein Geschwader hatte alle Bomben abgeworfen und Raketen verschossen. Sie drehten ab in Richtung Flugzeugträger, um Nachschub zu laden.

Nur Ramirez kreiste noch über dem Schlachtfeld und lieferte dem Flugzeugträger und den Bodentruppen Informationen.

Er erkannte, dass die Verteidigungslinie dem Angriff standgehalten hatte, wenigstens hier vor Albany, und auch der westliche Abschnitt hielt. Aber der Vorort Mairangi Bay an der Ostküste war längst von der dichten Wolke verschluckt worden, die den Ostabschnitt der Linie umgangen hatte und aufs Meer hinausgetrieben war, um dann in weitem Bogen hinter der Linie wieder landeinwärts zu rollen.

Um genau das zu verhindern, hatte man die Fregatten Te Mana und Te Kaha in der Bucht stationiert, wie Ramirez wusste. Aber jetzt sah er, dass die Te Mana mit starker Schlagseite auf dem Sand von Mairangi Bay Beach lag. Und die Te Kaha war auf eine Felsenzunge aufgelaufen und würde wohl bald auseinanderbrechen. Auf beiden Schiffen war keinerlei Leben zu erkennen.

Abgesehen vom Stillstand vor Albany und auf der Westseite strömte der Nebel ungehindert an der östlichen Seite von North Shore hinunter, breitete sich hinter den Verteidigungslinien von Albany weiter aus, fraß sich bereits über die Vororte Castor Bay, Campbells Bay, Milford hinweg und wälzte sich in Richtung Takapuna und Devonport weiter.

Ramirez wagte sich sehr tief hinunter und versuchte zu erkennen, wie es um die Bodentruppen auf der Autobahn stand, aber der Nebel war zu dicht.

 

1.10 Uhr

Rebecca jagte den Wagen vom Sandstrand auf die grasbewachsene Uferböschung hinauf, die sich am Cheltenham Beach entlang erstreckte, und schickte ein Dankgebet zum Himmel, dass sie es auf die Straße zurück geschafft hatte.

Manche der von Felsbrocken übersäten Landzungen zwischen den Strandbuchten waren normalerweise fast unbefahrbar. Wenn nicht gerade Ebbe gewesen wäre, hätte sie es wohl nicht geschafft.

Sie schaltete hoch, jagte mit laut aufheulendem Motor am Navy Training Centre vorbei und bog in eine größere Straße ein. Als sie an einer Kreuzung einen Blick nach rechts warf, blieb ihr fast das Herz stehen: Der Nebel lag kaum hundert Meter von ihr entfernt und kroch ziemlich schnell über die Straße.

Hier lagen nur wenige verlassene Fahrzeuge herum, die sie wie eine Slalomfahrerin umkurvte, wobei sie im Rückspiegel den Nebel ständig im Auge behielt.

Der letzte Straßenabschnitt, der am Devonport Golf Club vorbeiführte, war frei von Hindernissen.

Inzwischen war Xena aufgewacht, wenn sie überhaupt geschlafen und sich nicht nur ausgeruht hatte. Aber sie blieb still sitzen und beobachtete mit ihren weisen Augen Rebecca beim Fahren.

Rebecca jagte auf der langen, gewundenen Straße am Fuß des Mount Victoria entlang und gab noch mehr Gas, als sie die verlassen daliegende Hauptstraße von Devonport erreichte.

Beim Hafen bog sie nach rechts ab und jagte am Damm entlang zum Marinehafen.

Die Zufahrt wurde durch Schranken versperrt – das überraschte Rebecca nicht sonderlich. Aber was sie überraschte, obwohl sie eigentlich damit hätte rechnen sollen, war die Tatsache, dass ein bewaffneter Wärter aus dem Wärterhäuschen trat und ihr signalisierte anzuhalten. Er hielt eine Pistole schussbereit in der Hand.

»Keine Durchfahrt«, sagte er, keineswegs ruhig und freundlich. »Das ist Militärgebiet.«

Und schon trat ein zweiter Wärter aus dem Wachhaus, der sofort eine automatische Waffe auf sie richtete.

»Lassen Sie mich durch!«, rief Rebecca dringlich. »Ich muss einen Befehl von Doktor Crowe und Doktor Southwell ausführen.«

»Keine Durchfahrt«, wiederholte der Wärter stur.

»Und jetzt verschwinde!«, knurrte der zweite Wärter.

Xena kreischte, und die Wärter zuckten zusammen; sie hatten die Schimpansin zuvor noch nicht bemerkt.

»Was zum Teufel …?«, begann der erste Wärter und starrte Xena verblüfft an.

»Großer Gott!«, rief der andere Wärter und schaute in die Richtung, in die auch Rebecca und Xena blickten.

Der Nebel rollte schnell den Abhang in Richtung Meer herunter und verschluckte unterwegs ein Gebäude nach dem anderen.

 

1.10 Uhr

 

Crowe wurde von zwei weiteren Albtraumkreaturen angegriffen, die sich plötzlich aus dem unglaublich dicht gewordenen Nebel auf ihn stürzten. Er schaffte es gerade noch, seinen Drucksprüher hochzureißen und sie mit einem einzigen Wasserstoß in Stücke zu zerfetzen.

Die Sprühflugzeuge hatten abgedreht. Ebenso die Kampfflugzeuge. Das Mädchen hatte recht behalten. Sie hatte recht behalten mit dem Salz. Recht behalten mit dem Wasser. Und recht behalten überhaupt mit allem, was sie ihm geraten oder vorgeschlagen hatte.

Ein weiterer Schneemann stieg plötzlich vor ihm hoch, aber bevor er reagieren konnte, fällte ihn Manderson mit einem scharfen Wasserstoß.

War es also nicht auch möglich, dass sie mit den Kreaturen recht hatte?

Die Zwillingswasserschläuche links von Crowe waren verstummt. Er schaute hinüber. War ihnen das Wasser ausgegangen?

Wo die Feuerwehrleute gestanden hatten, zwei Mann an jedem Schlauch, standen vier Schneemänner still und unbeweglich. Sie absorbierten. Verdauten.

»Stony«, sagte Manderson ruhig und blickte hinter sich.

Crowe drehte sich um. Der Nebel hatte sich von hinten an sie herangeschlichen und erreichte in diesem Augenblick ihre Stellungen. Die Front des Nebels wimmelte von Antikörpern, und hinter ihnen konnte er in dichten Reihen die Gestalten der Makrophagen ausmachen.

»Stony … wir haben’s hinter uns«, sagte Manderson, und in seiner Stimme lag eine stille, gelassene Ergebenheit. »Wir haben lange genug durchgehalten …«

Und dann kam ein zischendes Geräusch aus der Nebelwand, und Mandy verschwand, und an seiner Stelle stand nun einer von ihnen. Dort, wo Mandy eben noch im Schützenloch gekauert hatte. Die Kreatur blickte Crowe still und mit starren Augen an.

Crowe schrie verzweifelt auf und drückte den Abzug seines Drucksprühers durch. Der Strahl riss eine gezackte Linie durch die Gestalt, und die Überreste von Mandersons Bioanzugs mit der roten »2« quollen heraus und hingen über das zerrissene weiße Schwammgebilde herab.

Um Crowe herum wurde der Nebel immer dichter. Hektisch blickte er sich nach allen Seiten um, aber wenn überhaupt noch einer seiner Männer am Leben war, war er im Nebel jedenfalls nicht mehr zu sehen. Er schaltete sein Mikro ein und rief sein Team, aber die Antwort war Stille.

Ein Antikörper klatschte gegen das Visier seines Helms und nahm ihm die Sicht. Crowe schrie vor Entsetzen und schlug ihn weg. Er stapfte geradewegs in den Nebel, wobei er den Kopf heftig schüttelte, um die Antikörper abzuwehren. Der Schlauch seines Wasserwerfers zog ihn zurück, versuchte, ihn zurückzuhalten, aber er riss heftig daran, spürte, dass etwas nachgab, und marschierte weiter.

Als Wasserwerfer war das Gerät nutzlos geworden; er packte es am Sprührohr und benutzte den Griff als Schlagwaffe. Wild um sich schlagend ging er weiter, hieb wütend nach allen Seiten auf die tödlichen Kreaturen ein, die sich jetzt von allen Seiten auf ihn warfen.

 

»Mine eyes have seen the glory of

the coming of the Lord:

He is trampling out the vintage where

the grapes of wrath are stored;

He hath loosed the fateful lightning

of His terrible swift sword:

His truth is marching on.«

 

Seine Stimme füllte den Anzug. Crowe riss die Gesichtsmaske auf und ließ die Worte in den Nebel hinausschallen.

 

»Glory, glory, hallelujah!«

 

Und dann herrschte Stille im Nebel.

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