FATBOYS MOKO

Sonntag, 4. Oktober

Tane schob seinen Springer vor und griff Rebeccas Turm an. Er attackierte den Turm meistens sehr früh, weil der Gegner so für einen späteren Angriff geschwächt wurde.

Sie lagen vor einem der großen Glasfenster in der Wohndiele von Tanes Elternhaus, das Schachbrett zwischen sich.

Die Wohndiele war riesig und verteilte sich über drei Ebenen, es waren also beinahe drei Wohnzimmer, die miteinander verbunden waren. Mitten durch diese drei Ebenen ragte ein einhundertundfünfzig Jahre alter Baum. Streng genommen befand sich der Baum nicht im Haus. Man konnte eher sagen, dass das Haus um den Baum herum gebaut worden war.

»Hast du dir das wirklich gut überlegt?«, fragte Rebecca.

Tane dachte noch einmal über seinen Zug nach. Und er dachte über Rebecca nach. Manchmal sagte sie so etwas, wenn er einen völlig unmöglichen Zug machte. Aber manchmal sagte sie so etwas auch, damit er denken sollte, er hätte einen völlig unmöglichen Zug gemacht, obwohl das gar nicht stimmte.

Er starrte auf das Schachbrett und zog die Hand von seiner Spielfigur zurück.

»Wie bist du mit diesem Zeitschaum vorangekommen?«, fragte er.

»Du meinst den Quantenschaum?« Rebecca sah vom Schachbrett hoch.

»Ja, dieses Zeug eben.«

»Na ja, ich habe da ein bisschen recherchiert.«

»Und?«

»Und nichts. Das war’s. Eben ein bisschen recherchiert.«

Tane hatte den Verdacht, dass mehr dran war, als sie zugeben wollte, aber das vergaß er gleich wieder, denn sie rückte nun mit ihrem Turm vor.

Und bei ihrem nächsten Zug schlug sie seine Dame.

»Mist«, sagte Tane gelassen. Das war wirklich ein völlig unmöglicher Zug gewesen.

Von der Einfahrt ertönte das kehlige Röhren eines Motors, gefolgt von einer Kieselfontäne. Tanes großer Bruder drehte mit seinem Motorrad einen Kreis und kickte den Ständer nach unten. So parkte er immer, kam mit heulendem Motor angerast und machte mit dem Hinterrad eine scharfe Drehung auf dem mit Kiesel bestreuten Hof. Er sagte, sein Motorrad müsse immer startbereit stehen, man könne ja nie wissen. Aber Tane hatte den Verdacht, dass er nur aufschneiden wollte. Seine Mutter trieb diese Angewohnheit fast zur Verzweiflung, denn sie musste hinterher jedes Mal stundenlang die Kieselsteinchen aus ihren Blumenbeeten klauben, mit denen sie schon etliche Gartenpreise gewonnen hatte.

Tane wusste aber, wie sehr sie sich insgeheim freute, wenn Fatboy zu Besuch kam. Das kam nicht mehr sehr oft vor, seitdem er seine eigene Wohnung in der Stadt hatte.

Tanes großer Bruder hieß eigentlich Harley. Harley war als Kind ein pummeliges Kerlchen gewesen, und natürlich dauerte es nicht lange, bis ihm der Spitzname Fatboy angehängt wurde. Fatboy hieß nämlich das klassische Modell der Harley Davidson. Mit zehn Jahren hatte Harley diesen Namen gehasst; mit fünfzehn hatte sich sein Fett dank jahrelangen Rugby-Spielens in Muskelmasse verwandelt, aber der Name war ihm geblieben. Und Fatboy – für seine Freunde Fats – mochte ihn mittlerweile. Daher war niemand überrascht, als er an dem Tag, an dem er seinen Führerschein erhalten hatte, mit einer original Harley Davidson Fatboy nach Hause gekommen war.

Fatboy war Studiomusiker. Er spielte Gitarre und zwar ziemlich gut. So gut, dass er dafür die Schule noch vor dem Abschluss geschmissen hatte. (»Nur über meine Leiche«, hatte ihre Mutter damals erklärt, aber sie hatte es trotzdem überlebt.)

Vor der Haustür zog Fatboy seine Motorradstiefel aus. Selbst er hatte nicht den Mut, mit seinen Stiefeln über die immer noch neu aussehenden Teppiche zu trampeln. Seine Jacke ließ er jedoch an, als er hereinstolzierte. Er wollte gerade seinen Helm abnehmen, als er Tane und Rebecca mit dem Schachbrett auf dem Boden sah.

»Kia-ora, Rebecca, Kia-ora, Bruderherz«, begrüßte sie Fatboy mit der traditionellen Begrüßungsformel der Maori.

»Kia-ora, Fats«, erwiderte Rebecca.

Tane zuckte die Schultern. »Tag.«

Als Fatboy seinen Helm abnahm, blickte Rebecca auf. »Cool!«, rief sie.

Jetzt erst sah Tane seinen Bruder an. Fatboy grinste stolz: Er hatte sich ein Maori-Moko tätowieren lassen. Die linke Gesichtshälfte war mit einem farnartigen Muster bedeckt, das mit Wirbeln und Kreisen ein eigenes Leben zu führen schien.

Tane wandte sich kopfschüttelnd wieder dem Spiel zu. »Mum wird dich umbringen.«

Fatboy lachte. »Wird sie nicht. Gehört zu unserer Kultur.«

Tane beachtete ihn nicht weiter und startete einen unüberlegten Vergeltungszug gegen Rebeccas Dame.

»Was soll das?«, fragte Rebecca stirnrunzelnd.

»Revanche«, sagte Tane mit gespieltem Spott. »Dafür, dass du mir die Dame genommen hast.«

Rebecca musterte das Brett und schüttelte den Kopf. »So kannst du nicht Schach spielen.«

Tane schaute hoch. Fatboy sah neugierig auf das Spiel.

»Du siehst aus wie ein Gang-Mitglied«, brummte Tane.

»Ich finde, es sieht super aus«, sagte Rebecca. »Steht dir richtig gut.«

Sie lächelte Fatboy an, was Tane mächtig ärgerte. Sie kannte Fatboy fast genauso lang wie er, und er hätte nie von ihr gedacht, dass sie sich von diesem ganzen Dreadlocks-Lederjacke-Ich-bin-ein-Rockstar-Getue beeindrucken lassen würde. Es gab nichts Schlimmeres als einen großen Bruder, der sich ständig cool vorkam. Und mit dem Moko machte er nun auch noch auf Maori. Viel schlimmer konnte es wohl kaum noch kommen.

Aber es kam viel schlimmer und zwar sehr schnell.

Bei Rebeccas Lächeln hielt Fatboy abrupt inne. Offenbar wusste er plötzlich nicht mehr, warum er nach Hause gekommen war. Er sah Rebecca an, als sähe er sie zum ersten Mal.

Tane folgte Fatboys Blick. Er sah ihre spitz gegelten, kurzen Haare mit blondierten Spitzen, die gepiercte Nase und die bewusst unmodische Kleidung. Und ihre Augen, die viel zu groß für ihr schmales Gesicht waren und ihr ein leicht elfenhaftes Aussehen verliehen.

Verzieh dich, forderte er Fatboy stumm auf. Hau ab und zeig Mum dein Moko oder sonst was.

»Du gewinnst mal wieder, stimmt’s?«, fragte Fatboy und setzte sein falsches Rockstarlächeln auf. Wenigstens das musste Rebecca doch sofort durchschauen!

»Es läuft ganz gut«, sagte Rebecca, die immer noch zu ihm aufschaute.

Tane warf Fatboy einen vernichtenden Blick zu.

»Nimm ihn nicht so hart ran«, sagte Fatboy grinsend. »Der Kleine muss noch viel lernen.«

»Klar, als ob du überhaupt wüsstest, wie ein Schachbrett aussieht«, blaffte Tane und nahm einen Läufer auf, zögerte jedoch, bevor er seinen Zug machte.

»Ich bin ganz lieb zu ihm«, sagte Rebecca.

Tane stöhnte laut auf. »He, komm schon. Hier, schau dir das an. Jetzt mach ich dich fertig, Becks!«

»Er kann nichts dafür. So war er schon immer«, lachte Fatboy.

Tane fauchte: »Hau ab, sonst schieb ich dir die Dame in den …«

»Bist du das, Harley?«, ertönte die Stimme seiner Mutter aus der Küche.

»Ich muss los«, sagte Fatboy. »Hey, Rebecca, hast du Samstagabend schon was vor?«

Tane sah Fatboy böse an und biss sich auf die Lippe, dass sie blutete.

»Nichts Besonderes«, sagte Rebecca zögernd.

»Ich arbeite die ganze Woche mit den Blind Dog Biscuits im Studio«, sagte Fatboy und ließ den Namen der bekannten Band genüsslich auf der Zunge zergehen, »aber am Samstag habe ich frei. Hättest du Lust, ins Kino zu gehen? Auf der Harley«, fügte er noch hinzu.

»Ich … äh …« Sie sah Tane Hilfe suchend an, doch der zuckte nur die Schultern.

»Wäre doch echt geil«, drängte Fatboy.

»Okay«, sagte Rebecca nach kurzem Zögern, wobei sie vergeblich versuchte, möglichst cool zu wirken.

»Ich hole dich um sieben ab«, sagte Fatboy. »Vielleicht schmeißen die Blind Dog Biscuits später noch ‘ne Party, weil ihr neues Album im Kasten ist. Da könnten wir dann auch noch hingehen, wenn du Lust hast.«

Rebecca zuckte betont gleichgültig mit einer Schulter: »Okay.«

Endlich verschwand Fatboy in den Tiefen des Hauses. Tane starrte ihm nach und zwang sich, seine Verärgerung nicht zu zeigen.

Rebecca zog ihre Dame über das Schachbrett. »Schachmatt«, sagte sie lächelnd und sah ihn an.

»Deine Lippe blutet«, stellte sie besorgt fest.

In diesem Augenblick ertönte aus der Küche ein Schrei.

Der Tomorrow-Code
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