HMNZS WAIKATO

Sonntag, 13. Dezember

»Morgen …«, sagte Fatboy vom Durchgang zur Hauptkabine.

Tane knurrte nur müde. Er hatte eine unbequeme Nacht auf dem Pilotensitz hinter sich, und Rücken und Nacken schmerzten. Langsam streckte er sich und massierte seine Gelenke. »Das gestern … tut mir leid«, sagte er verlegen.

»Wir haben alle mal einen schlechten Tag«, meinte Fatboy versöhnlich und lächelte ihn kurz an. »Vergiss es.«

Tane grinste zurück. Fatboy nahm seine Gitarre aus einem schmalen Schrank und begann, eine ruhige Melodie zu spielen.

Rebecca tauchte im Durchgang hinter Fatboy auf, sagte aber nichts.

»Hatte es was mit Rebecca zu tun?«, fragte Fatboy plötzlich. »Weil wir zusammen …«

Tane unterbrach ihn, auch um sich selbst weiteren Kummer zu ersparen. »Vergiss es. Ich war nur einfach müde. Jetzt geht’s mir wieder gut.« Er wich Rebeccas Blick aus.

»Wo zum Teufel sind wir eigentlich?«, fragte sie. Fatboy drehte sich um und folgte dann ihrem Blick durch die großen Glaskuppeln der Möbius.

Tane schaltete die Außenscheinwerfer an, und die düstere Szene explodierte förmlich zum Leben.

Nicht weit vom Bug der Möbius entfernt lag der verrostete Bug eines Schiffes. Es ragte so dicht vor ihnen auf, dass es schien, als wolle es sich auf das kleine U-Boot stürzen. Das Wasser war klar und ruhig, und das Licht der Scheinwerfer verband sich mit dem fahlen Schimmer des frühen Morgenlichts von oben, sodass das große Schiff wie mit kobaltblauen Farben übergossen schien. Der Sandboden um das Schiff ging fast nahtlos in das Blau des Meeres über und war nur durch die undeutlichen Konturen von Felsen und Korallen unterscheidbar. Die Reling am Bug war noch intakt, aber vollkommen von grünen Algen und Meerestieren bedeckt. So wurde das Schiff im Tod zur Grundlage für neues Leben.

»Die Waikato, eine neuseeländische Fregatte der königlichen Marine«, erklärte Tane feierlich.

»Wow!«, stieß Fatboy hervor. »Echt eindrucksvoll.«

Die Fregatte stand kerzengerade auf ihrem Kiel auf dem Sandboden des Ozeans, wie ein künstliches Felsenriff. Weiter hinten ragte ein langes, von Muscheln überkrustetes Kanonenrohr heraus. Es zielte direkt auf die Möbius.

»Wir müssen weiter«, sagte Rebecca leise. »Wir haben noch einen langen Weg vor uns.«

Sie schaute Tane mit einem Lächeln an, als ob nichts geschehen sei.

Aber es war etwas geschehen.

Tane wurde klar, dass sich ihre Beziehung auf eine seltsam unbestimmbare Weise verändert hatte. Und dass sie vielleicht nie mehr so werden würde wie früher.

 

Am Nachmittag zog von Norden her ein Sturm auf, der weiße Schaumkronen über das Meer fegte und die tiefen Täler zwischen den scheinbar berghohen Wellen drohend und düster färbte. Sie zogen sich in die Tiefe zurück, wo es verhältnismäßig ruhig blieb. Doch selbst hier wurde die Möbius von der aufgewühlten See geschüttelt und hin und her gerollt wie ein verwundeter Wal. Fatboy hielt es für besser, die äußerste Spitze von Cape Brett jetzt noch nicht zu umrunden, sondern abzuwarten, bis der Sturm abflaute.

 

Die dritte Nacht auf See verbrachten sie auf dem immer noch unruhigen Meeresgrund nicht weit südlich des Kaps.

Sie hatten sich der Insel ein gutes Stück genähert.

Der Gedanke an das, was ihnen auf der Insel bevorstehen mochte, hatte sich drohend auf Tanes Gemüt gelegt – oder richtiger: Er jagte ihm nackte Angst ein. Der Einbruch war eine verbotene Handlung, ein Verbrechen. Und was war, wenn auf der Insel tatsächlich ein Virus aus dem Labor entkommen war? Seine Unsicherheit und Angst wuchs noch weiter, als in der Nacht ein weiterer Sturm losbrach, der selbst hier auf dem Meeresgrund zu spüren war und das kleine gelbe U-Boot heftig hin und her stieß und es grob durch den Sand der Bucht vor sich hertrieb. Bei jeder Bewegung stöhnte der Rumpf auf und beschwerte sich lautstark. Als sie sich gegen halb elf schlafen legen wollten, merkte Tane, dass sein Herz förmlich raste. Ich kann das nicht, dachte er. Ich kann mich nicht mitten in der Nacht auf eine Insel schleichen und in ein Forschungslabor einbrechen. Ich kann es einfach nicht.

Es war ohnehin absolut töricht. Es war hochgradig gefährlich. Und es war kriminell. Und selbst wenn die Mitteilungen aus der Zukunft tatsächlich stimmten, wie sollten sie wissen, was sie in diesem Labor finden würden? Es war jedenfalls kein Job für drei Jugendliche.

Er würde die beiden anderen im Stich lassen, so viel war ihm klar. Aber gab es überhaupt eine andere Wahl? Ich schaffe das einfach nicht, dachte er wieder, gerade als eine besonders heftige Bewegung das U-Boot zur Seite warf. Er holte tief Luft und hielt sie an, so lange es ging, um sich selbst zu beruhigen. Sie würden ihn für einen Feigling halten, aber er musste es ihnen sagen.

»Ich bin nicht sicher, ob ich das durchziehen kann«, kam in dem Moment Fatboys Stimme aus dem Dunkeln, als Tane gerade den Mund öffnete, um genau dasselbe zu sagen. Sein Mund blieb einen Augenblick lang offen stehen wie ein Fischmaul, dann klappte er ihn wieder zu.

»Wie meinst du das?«, fragte Rebecca. Tane glaubte, einen leicht schrillen Unterton in ihrer Stimme zu hören.

»Ich habe in meinem Leben schon so manches seichte Ding gedreht«, sagte Fatboy, »aber ich habe noch nie ein Gesetz übertreten. Oder jedenfalls kein wichtiges Gesetz. Nicht solche Gesetze, mit denen sie dich in den Knast schicken können. Vielleicht sollten wir einfach abwarten und noch einmal versuchen, mit Vicky zu reden.«

Rebecca sagte: »Das nützt nichts. Und wenn wir es nicht tun, wer soll es dann tun?«

»Ich bin nur nicht sicher, ob ich es durchhalte«, wiederholte Fatboy leise.

»Aber es muss getan werden«, verkündete Tane, als hätte er nie auch nur den Hauch eines Zweifels gehabt. »Und wir müssen es tun.«

Lange Zeit herrschte Schweigen.

»Ich weiß«, murmelte Fatboy schließlich.

 

Montag, 14. Dezember, 10.00 Uhr

Am nächsten Tag flaute der Sturm ab. Sie umrundeten die Spitze von Cap Brett, passierten die Insel Motukokako mit ihrem berühmten Hole in the Rock und erreichten endlich die Bay of Islands.

»Die Waewaetorea-Passage«, sagte Fatboy nach einem Blick auf die Seekarte. »Rechts liegt die Insel Waewaetorea und links Urupukapuka. Wir könnten natürlich außen herum fahren, aber zwischen den Inseln hindurch wäre es schneller.«

»Spricht was dagegen?«, fragte Rebecca.

»Eigentlich nicht«, meinte Fatboy mit gerunzelter Stirn. »Aber es gibt hier eine Menge Felsen und viele Untiefen, und am anderen Ende ist es ziemlich seicht. Trotzdem fahren dort ständig Boote durch.«

»Die schwimmen aber auf dem Wasser«, bemerkte Tane.

»Ja, stimmt, aber ich glaube trotzdem, dass wir es wagen können.«

Fatboy übernahm das Steuern, da er im Umgang mit dem Boot besonders gut war, und wenn es tatsächlich zwischen Felsen und Untiefen eng wurde, konnte seine Geschicklichkeit entscheidend sein.

Ohne es zunächst zu bemerken, hatten sie bereits die Passage erreicht und fuhren zwischen zwei langsam ansteigenden Unterwasserhängen hindurch, die die Sockel der beiden Inseln bildeten.

Auf den Hängen ragten Felsen und Felsbrocken in seltsamem Winkel heraus, sodass sie manchmal Untiefen bildeten, manchmal aber auch in senkrechte Schluchten übergingen. Vom Meeresgrund ragten riesige Felsbrocken empor. Ihre Spitzen blieben zwar weit von den Kielen der Segel-und Motorjachten entfernt, die durch die Passage kreuzten, aber nicht weit genug von den großen Schiffen, die deshalb die Passage nicht durchfahren konnten. Und sie ragten auf jeden Fall hoch genug auf, um selbst Fatboy nervös zu machen.

Einmal musste er sogar ein Notmanöver durchführen. Sie kamen gerade um eine Felsnase am Sockel einer der Inseln, als unmittelbar vor ihnen unerwartet ein Felskamm, fast ein richtiges Riff, aufragte, in dem es von Fischen aller möglichen Arten und Farben nur so wimmelte.

Rebecca setzte sich auf den Beifahrersitz, nahm die Seekarte aus ihrer Halterung und brütete eine Weile darüber. Dann zeichnete sie die größeren Felsen und die Kämme und Riffe in die Karte ein.

Lange, unheimliche Seetangwedel streckten sich von beiden Seiten nach ihnen aus oder ragten von den verstreut herumliegenden Felsbrocken empor. Der Seetang verringerte die Sichtweite beträchtlich, aber ihre größte Sorge war, dass sich die Wedel in den Propellern verfangen könnten. Dann würden sie hier wohl ein frühes und nasses Grab finden.

Dieser Weg durch die Passage kam ihnen allen unheimlich vor.

»Ich bin wirklich froh, dass wir uns Zeit lassen können«, bemerkte Fatboy einmal.

»Und dass wir hier bei Tageslicht durchfahren«, fügte Tane hinzu.

Doch dann wichen die Sockelhänge der Inseln allmählich wieder zurück; die Passage wurde breiter, tiefere Wasser lockten. Tane ließ die Boje hochsteigen und öffnete die Abdeckung der Videokamera.

Die Boje hüpfte und tanzte in den Wellen, sodass sie nur einen verschwommenen grünen Fleck auf dem Bildschirm sehen konnten.

»Das muss Motukiekie sein«, sagte Tane leise.

Die Insel Motukiekie. Ihr zweiter Besuch, aber dieses Mal unterschied sich ihr Trip zur Insel in jeder Hinsicht von ihrer ersten Reise.

Motukiekie. Professor Vicky Green. Das ChimäraProjekt. Plötzlich wurde alles greifbare Wirklichkeit. Viel zu greifbar, viel zu nahe. Jetzt erst, beim Anblick des langen grünen Streifens auf dem Bildschirm, der im blauen Ozean zu schwimmen schien, wurde ihnen klar, welche Gefahren vor ihnen lagen.

Rebecca hörte es zuerst. »Was ist das?«, fragte sie.

Es hatte als tiefes Rumpeln begonnen, entwickelte sich aber schnell zu einem stampfenden Geräusch, begleitet von einem immer lauter werdenden Rauschen, das durch die Schale der Möbius lief und sie zum Beben brachte.

»Ich weiß nicht«, murmelte Tane, drehte den Joystick und schwenkte damit die kleine Kamera auf der flachen grauen Boje an der Wasseroberfläche um ihre eigene Achse.

Die Antwort kam prompt – auf dem kleinen Videobildschirm.

»Tauchen! Tauchen! Geh runter!«, brüllte Tane außer sich vor Schreck. Fatboy hatte bereits den Steuerknüppel nach vorn gerammt und gleichzeitig die Automatik aus-und die manuelle Steuerung der Ballasttanks eingeschaltet, sodass sich die Tanks sofort mit Wasser füllten und das Boot wie einen Stein sinken ließen.

»Was ist denn das?«, schrie Rebecca.

Tane griff hastig nach dem Schalter der Winde, mit der sich die Boje herunterholen ließ, aber seine schweißnassen Finger rutschten darüber hinweg und er schaffte es erst beim zweiten Versuch, die Winde einzuschalten und die Boje einzuholen.

Der Bug einer Marinefregatte sieht aus jedem Winkel riesig und eindrucksvoll aus, aber wenn man im Wasser liegt und ihn direkt auf sich zukommen sieht, erscheint er gewaltiger als die Eiger-Nordwand.

»Hoffentlich sind wir tief genug«, murmelte Fatboy, als die Möbius mit einem dumpfen Laut, der das kleine Boot kräftig durchrüttelte, auf dem Sandboden aufsetzte.

Das Rumpeln und Rauschen wurde immer lauter, als die Fregatte auf sie zukam, bis sie schließlich jede einzelne Propellerumdrehung hören konnten.

Lärm und Wassermassen brachten das kleine U-Boot heftig ins Schlingern und versetzten seine Insassen in Todesangst, doch dann rauschte die Fregatte über sie hinweg, und die nackte Angst lockerte ihren Griff.

»Was zum Henker hat eine Fregatte hier zu suchen?«, wollte Tane wissen, als er seine Stimme wiederfand. Er ließ die Boje aufsteigen, als er sicher war, dass ihnen keine neuen Überraschungen drohten.

Das große Schiff hatte seine Fahrt verlangsamt, nachdem es das U-Boot passiert hatte, und umrundete jetzt das Ende der Insel.

»Was ist es denn?«, fragte Rebecca. »Eines unserer Schiffe?«

Tane nickte; die neuseeländische Marineflagge auf der kurzen Fahnenstange am Heck war klar erkennbar. »Muss entweder die Te Mana oder die Te Kaha sein.«

»Vielleicht ein Seemanöver«, vermutete Fatboy.

»Kommt das unserem Plan in die Quere?«, fragte Rebecca weiter.

Tane und Fatboy blickten sich an.

»Sehe keinen Grund dafür«, meinte Tane schließlich. »Die Fregatte ist ganz bestimmt nicht an Motukiekie interessiert. Kreuzt nur daran vorbei, denke ich.«

Trotzdem blieben sie über eine Stunde lang auf dem Meeresgrund liegen, bis sie sicher waren, dass die Fregatte nicht mehr zurückkommen würde; erst dann setzten sie ihre Fahrt nach Motukiekie fort.

Als die letzten Sonnenstrahlen längst versunken waren, holten sie die Tauchanzüge von der obersten Koje herunter.

Tane legte einen Bleigürtel um.

Fatboy half Rebecca in ihren Anzug; dann reichte er beiden die Sauerstoffflaschen. Tane packte die Flasche mit den Zähnen, so, wie es Wee Doddie ihnen gezeigt hatte. Wasserdichte Taschenlampen hingen an Gummibändern von ihren Armgelenken.

Es war bereits nach Mitternacht, als Tane und Rebecca durch die Druckschleuse der Möbius nach draußen glitten und langsam zur Insel schwammen.

Der Tomorrow-Code
titlepage.xhtml
Der_Tomorrow-Code_split_000.html
Der_Tomorrow-Code_split_001.html
Der_Tomorrow-Code_split_002.html
Der_Tomorrow-Code_split_003.html
Der_Tomorrow-Code_split_004.html
Der_Tomorrow-Code_split_005.html
Der_Tomorrow-Code_split_006.html
Der_Tomorrow-Code_split_007.html
Der_Tomorrow-Code_split_008.html
Der_Tomorrow-Code_split_009.html
Der_Tomorrow-Code_split_010.html
Der_Tomorrow-Code_split_011.html
Der_Tomorrow-Code_split_012.html
Der_Tomorrow-Code_split_013.html
Der_Tomorrow-Code_split_014.html
Der_Tomorrow-Code_split_015.html
Der_Tomorrow-Code_split_016.html
Der_Tomorrow-Code_split_017.html
Der_Tomorrow-Code_split_018.html
Der_Tomorrow-Code_split_019.html
Der_Tomorrow-Code_split_020.html
Der_Tomorrow-Code_split_021.html
Der_Tomorrow-Code_split_022.html
Der_Tomorrow-Code_split_023.html
Der_Tomorrow-Code_split_024.html
Der_Tomorrow-Code_split_025.html
Der_Tomorrow-Code_split_026.html
Der_Tomorrow-Code_split_027.html
Der_Tomorrow-Code_split_028.html
Der_Tomorrow-Code_split_029.html
Der_Tomorrow-Code_split_030.html
Der_Tomorrow-Code_split_031.html
Der_Tomorrow-Code_split_032.html
Der_Tomorrow-Code_split_033.html
Der_Tomorrow-Code_split_034.html
Der_Tomorrow-Code_split_035.html
Der_Tomorrow-Code_split_036.html
Der_Tomorrow-Code_split_037.html
Der_Tomorrow-Code_split_038.html
Der_Tomorrow-Code_split_039.html
Der_Tomorrow-Code_split_040.html
Der_Tomorrow-Code_split_041.html
Der_Tomorrow-Code_split_042.html
Der_Tomorrow-Code_split_043.html
Der_Tomorrow-Code_split_044.html
Der_Tomorrow-Code_split_045.html
Der_Tomorrow-Code_split_046.html
Der_Tomorrow-Code_split_047.html
Der_Tomorrow-Code_split_048.html
Der_Tomorrow-Code_split_049.html
Der_Tomorrow-Code_split_050.html
Der_Tomorrow-Code_split_051.html
Der_Tomorrow-Code_split_052.html
Der_Tomorrow-Code_split_053.html
Der_Tomorrow-Code_split_054.html
Der_Tomorrow-Code_split_055.html
Der_Tomorrow-Code_split_056.html
Der_Tomorrow-Code_split_057.html