BAMBI

Dienstag, 15. Dezember

Gazza Henderson warf die Überreste seines Abendessens auf die letzten Glutreste des Lagerfeuers. Es zischte auf, und eine Rauchwolke stieg hoch.

Dieselbe Feuerbestattung gönnte er wenig später auch dem Kaffeesatz, aber jetzt hatte das Feuer kaum noch genug Kraft, um auch nur ein leises Zischen von sich zu geben.

Rechtlich betrachtet war ein Lagerfeuer so tief im Busch und um diese Jahreszeit gegen das Gesetz, aber solche Regeln hatten sie wohl eher für Touristen und Wanderer erfunden. Henderson jagte seit mehr als zwanzig Jahren in den Wäldern von Northland und fühlte sich im Busch genauso zu Hause wie in seinem eigenen Wohnzimmer. Und er wusste absolut sicher, wie man ein Lagerfeuer richtig gründlich löschte.

Deshalb häufte er auch jetzt Erde auf die letzten schwelenden Glutreste und stampfte darauf herum, um sicherzustellen, dass die Restglut absolut keine Chance hatte, später noch einmal aufzulodern und einen Buschbrand auszulösen. Denn danach hatte er überhaupt kein Verlangen – dann könnte er ebenso gut sein eigenes Haus abfackeln.

Bambis tote, kalte Augen starrten zu ihm hoch. Der Kadaver lag neben seinem Rucksack. Eigentlich war es kein Kitz wie im Film. Es war nicht mal ein Reh. Sondern ein Damhirsch, ein zäher alter Bursche, aber Gazza nannte Hirsche und Rehe, die er schoss, immer »Bambi«. Das war ein uralter Witz, mit dem er angefangen hatte, als er in früheren Zeiten mit seinem Kumpel Trevor auf die Jagd gegangen war. Damals waren sie noch Teenager gewesen. Lange her.

Aber dieses Bambi war eine Schönheit. Schon die Geweihstangen würden ihm auf der Punktetafel in Douglas mindestens 200 bringen. Außerdem hatte der alte Knabe die Kaipara-Spalte im Geweih – ein Zeichen, dass er in direkter Linie von dem ersten Damhirsch abstammte, der 1864 in Neuseeland ausgesetzt worden war.

Die Kaipara-Spalte brachte ihm zwar keine Extrapunkte, aber ganz bestimmt ein paar Extrabiere im Klub, wenn er das nächste Mal hinkam. Außerdem war er sicher, dass er mit diesem Bambi hier den bestehenden Jahresrekord des gesamten Landes übertreffen würde.

»Du und ich, wir brechen den Rekord, nicht wahr, alter Knabe?«, fragte er Bambi laut. Aber Bambi starrte ihn nur mit kaltem Blick an.

Die Sonne ging hinter den hohen, geraden Kauristämmen unter, aus denen fast der ganze Wald bestand, und ein leichter Dunst stieg auf, als sich die Luft allmählich abkühlte. Die Schatten der Bäume wurden sanfter, und je tiefer die Sonne sank, desto länger erstreckten sie sich. Der Wald tauchte langsam in den Abend, und ein fast unirdisches Licht legte sich über ihn.

Gazza diskutierte eine Weile halblaut mit dem toten Hirsch, ob er ihn jetzt gleich köpfen und den Kadaver im Busch liegen lassen sollte oder nicht. Er war schließlich Trophäenjäger, ein Sportler sozusagen, wie er seinen Kumpels immer wieder versicherte, und kein Schlächter – und der Hirsch wäre schweres Gepäck, wenn er ihn den ganzen Weg bis nach Russell zurückschleppen würde.

Während er noch überlegte, wurde der leichte Dunst, den die abkühlende Luft erzeugte, dichter. Nebelartig wallte er um die Baumfarne und Eisenholzbäume. Die Sache kam Gazza um diese Tageszeit ein bisschen ungewöhnlich vor. In den Morgenstunden waren Dunst und Nebel ziemlich normal, und er war schon oft morgens mitten in einer völlig weißen Welt aufgewacht. Aber doch sicherlich nicht am frühen Abend, wenn der Boden noch ziemlich warm war.

Wenn er sich’s recht überlegte, konnte er sich überhaupt nicht erinnern, jemals bei Sonnenuntergang im Wald Nebel gesehen zu haben.

Die Kauris ragten wie Geistertürme in den Abendhimmel, während sich die feinen Nebelschwaden – ja, der Dunst hatte sich definitiv zu einem Nebel verdichtet – wie lange weiße Finger um die Stämme und die fächerartigen Blätter der Silberfarne wanden. Schon wurden Bäume, die mehr als zwanzig oder dreißig Meter entfernt standen, vom Nebel verschluckt, sodass sich Gazza bald nur noch von einer weißen Wand umgeben sah.

Plötzlich glaubte er, im Nebel eine unbestimmte Bewegung wahrnehmen zu können – eher ein Aufwirbeln der Nebelschwaden als irgendeine Gestalt oder sonst etwas.

»Ist da jemand?«, rief er in das weiße Nichts. Natürlich erwartete er nicht, dass da jemand war, aber die Alternativen waren entweder ein Reh oder ein Captain Cooker – einer dieser wirklich echt übel gelaunten Eber mit rasiermesserscharfen Hauern, die die Wälder von Northland bevölkerten.

Er griff nach seinem Gewehr, entsicherte es aber nicht. Jagen war schon bei vollem Tageslicht eine gefährliche Beschäftigung. Aber in der Dämmerung, gar im Nebel konnte der Sport auch einem Todesurteil gleichkommen. Das Letzte, was er wollte, war, einen unschuldigen Tramper oder einen anderen Jäger für ein Reh oder einen Cooker zu halten und umzulegen.

Andererseits wollte er auch nicht schutz-und wehrlos dastehen, wenn ein wilder Eber plötzlich aus dem Nebel stürmte und ihn in seinem kleinen Lager angriff.

Jetzt sah er weitere Bewegungen, wieder dieses seltsame Aufwallen der Nebelschwaden zwischen und um die Bäume.

»Hey! Ist da jemand?«, rief er noch einmal. Er war jetzt echt neugierig, aber nicht unbedingt nervös oder besorgt.

Währenddessen hatte sich der Nebel immer weiter verdichtet; Gazza konnte jetzt kaum noch ein paar Meter weit sehen. Er hatte das ziemlich starke Gefühl, dass sich jemand oder etwas im Nebel befand. Entschlossen lud er die Waffe und entsicherte sie.

»Ich bin Jäger!«, rief er laut. Dieses Mal war der nervöse Unterton in seiner Stimme nicht mehr zu überhören. »Ich habe ein Gewehr. Bitte zeigen Sie sich!«

Er bekam keine Antwort. Aber er hatte das sichere Gefühl, dass alles um ihn herum – der Wald, der Nebel – lebendig war. Silhouetten wallten im Nebel herum, Geister zwischen den Bäumen.

Sekunden später hallten zwei Gewehrschüsse durch den hohen Kauriwald.

 

Als ihr Mann am Donnerstag, 17. Dezember, noch immer nicht nach Hause zurückgekehrt war, meldete ihn seine Frau Lorna Henderson als vermisst. Gazza war noch nie verspätet von einer Jagd zurückgekehrt.

Der Tomorrow-Code
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