39
Robert parkte den Wagen in zweiter Reihe gegenüber dem Cox. Er hatte gerade den Motor abgeschaltet, als sein Handy klingelte. Ungläubig starrte er auf das Display. »Jetzt wird es ganz verrückt.«
Lasse sah ihn verwirrt an.
»Der Anruf ist von dir!«
»Was?«
»Von deinem Handy.«
Lasse schüttelte den Kopf.
»Mein Telefon ist seit gestern weg.«
Robert schaltete die Freisprechanlage ein.
»Feller.«
»Rob?«
Die Stimme war so leise, aber er erkannte sie sofort.
»Sophie?«
»Hilfe. Er wird mich töten. Er hat mir irgendwas gegeben …«
Robert Feller wurde vor Angst übel.
»Mit wem sprichst du da?« Eine schrille Männerstimme war plötzlich zu hören. »Gib mir das verdammte Telefon!«
»Nein! Rob!«
Ein Schrei.
»Du bist ein ziemlich böses Mädchen!«
Dann brach die Verbindung ab. Robert keuchte. Er hatte das Gefühl, eine kalte Hand würde sein Herz packen. Sophie würde sterben. Und er wusste nicht mal, wo er nach ihrer Leiche suchen sollte.
Lasse schrie ihn plötzlich an: »Ich habe die Stimme erkannt!«
»Du hast was?« Robert versuchte, Ruhe zu bewahren.
»Das war Ricky. Der Maskenbildner!«
*
Sophie war wie gelähmt. Die Szenerie war ein Albtraum. Entsetzt starrte sie Ricky an. Er trug ein Abendkleid. Sein Haar war toupiert und hochgesteckt. Er sah entsetzlich irre aus.
»Ricky? Was …?«
Sophie versuchte, sich zu konzentrieren. Sie hatte dieses Kleid schon einmal gesehen. Auf einem Foto. Laura hatte das Kleid getragen. Auf der Premierenfeier von der ›Mexikanischen Nanny‹ bei Rubens vor sieben Jahren.
Ricky machte ein ernstes Gesicht.
»Das ist das Kleid, in dem meine Mutter gestorben ist. Hier! Siehst du das?« Jetzt flüsterte er. »Das ist das Blut, das ihr aus dem Schädel gelaufen ist, nachdem Rubens ihren Kopf auf die Kante eines Marmortisches gestoßen hatte.«
Das war der Schlüssel. Alles hatte mit dieser Party vor sieben Jahren zu tun. Sophie wusste, dass sie versuchen musste, wach zu bleiben. Sie musste Ricky dazu bringen, ihr seine Geschichte zu erzählen. Ihr war nur so furchtbar übel.
»Ich verstehe nicht.«
Ricky setzte sich, schlug die Beine über und zündete sich eine Zigarette an.
»Ach, Sophie, eigentlich ist es ganz einfach«, erklärte er gereizt. »Aber noch kurz zu Sascha Richter. Wahrscheinlich wäre er sogar noch am Leben, wenn ich nicht zufällig Marcello Mari in Winterhude gesehen hätte. Ich bin ihm gefolgt. Er hat Richter besucht, warum auch immer. Ich hatte eine tote Katze dabei, die ich entsorgen wollte. Da kam ich auf die Idee, den Richter auch gleich zu entsorgen. Die Welt ist ohne ihn schöner.« Er kicherte böse. »Und das Kätzchen habe ich in sein Eiswürfelfach gesteckt. Das ist doch ein schönes Rätsel für die Polizei, oder?«
Sophie schluckte. »Warum?«
»Warum? Ich habe meine Mutter vergöttert. Sie war wunderbar. Sie war herzlich. Sie hat mir jeden Wunsch von den Augen abgelesen. Auf der anderen Seite konnte sie auch niemandem einen Wunsch abschlagen. Sie hat damals mit Laura das Kleid getauscht, weil Laura es so wollte. Laura hatte keinen Bock mehr auf den Rubens. Der alte Sack hatte seine Schuldigkeit getan. Der Film war im Kasten. Rubens lauerte Laura an diesem Abend ständig auf. Laura hat aber wohl einfach nur weg gewollt. Sie hat meine Mutter überredet, die Kleider zu tauschen.«
»Woher willst du das wissen?«, fragte sie müde.
»Ich war dabei, Sophie. Ich war bei vielen Jobs meiner Mutter dabei. Ich mochte die Atmosphäre in der Maske. Die Schminke, die Tricks, ein müdes Gesicht in ein strahlendes zu verwandeln. Es war wie Zauberei. Wie gesagt, ich war auch an dem tragischen Abend dabei und ich habe die Szene noch genau vor Augen. Meine Mutter hat gezögert. Sie fand es nicht richtig. Laura ist dann in Tränen ausgebrochen. Sie war so ein berechnendes Miststück. Mutter hat also in dem Kleid am besagten Treffpunkt im Park auf Rubens gewartet, damit Laura ungefickt entschwinden konnte. Als Rubens den Schwindel bemerkt hatte, muss er vor Wut außer sich gewesen sein. Vielleicht hatte er in diesem Moment Laura töten wollen. Aber es traf meine Mutter.« Seine Stimme brach. Er räusperte sich und trank einen Schluck. »Ich war gerade 13 und meine Mama war alles für mich. Mein Leben ging dann drei Jahre lang in Heimen und Pflegefamilien weiter. Es war die Hölle! Ich habe mir damals geschworen, mich zu rächen. Und das habe ich getan. Ich bin sehr stolz auf mich und ich bin mir ganz sicher, meine Mama ist es auch.«
*
Robert startete den Motor. Er hatte sich immer ein bisschen mehr Action in seinem Leben gewünscht. Aber so? Im Moment ging er durch die Hölle.
»Wo wohnt der?«, schrie er in Richtung Beifahrersitz.
»Keine 500 Meter von hier! Gleich bei der Kirche«, antwortete Lasse. Blass streichelte er Ronjas Kopf. »Wie willst du denn unbemerkt ins Haus kommen?«
Robert zuckte mit den Schultern und drückte das Gaspedal durch. Gleichzeitig funkte er die Hamburger Kollegen an, um Verstärkung anzufordern. Mit einer Vollbremsung stoppten sie nach wenigen Minuten vor dem Haus, in dem Ricky wohnte. Robert sprang aus dem Wagen. Er hörte, dass Lasse ihm folgte. An der Eingangstür drehte er sich zu ihm um und legte die Finger an die Lippen. »Wir müssen leise sein. Nicht, dass er Sophie in Panik tötet.«
Lasse nickte und flüsterte: »Ricky wohnt im dritten Stock. Der Flur ist ziemlich lang. Das Wohnzimmer ist weiter hinten.«
Robert war dankbar für diese Information. Falls Ricky Sophie im Wohnzimmer festhielt, hatte er immerhin die Chance, sich unbemerkt bis vor die Wohnungstür zu schleichen. Und dann?
»Lasse, ich geh da jetzt rein. Du bleibst bitte hier.«
»Ach, jetzt hör doch auf. Sei froh, dass du noch zwei Augen mehr hast!«
Robert überflog hastig die Namensschilder an den Klingelknöpfen im Eingangsbereich, als sich plötzlich die Haustür öffnete und ein junger Mann mit zwei kleinen Hunden herauskam. Schnell schlüpfte er ins Gebäude und drehte sich zu Lasse um. »Du bleibst schön hinter mir«, mahnte er. Dann schlich er mit klopfendem Herzen die Stufen in den dritten Stock hoch. Er hatte keine Ahnung, was ihn da oben erwarten würde. Ricky war zwar nicht besonders kräftig, aber er war gefährlich. Er hatte drei Menschen auf dem Gewissen. Vielleicht sogar vier. Robert war fast schlecht vor Angst.
Was würde ihn hinter der Tür erwarten?
*
Sophie massierte sich die Schläfen und krallte sich die Fingernägel in den Arm. Sie musste wach bleiben! Ricky war ein Psychopath. Ihr war klar, dass er sie töten würde. Sie hatte nur die Chance, es herauszuzögern und auf Hilfe zu hoffen.
»Glaubst du wirklich, Victor Rubens hat deine Mutter töten wollen? Ich glaube, es war ein Unfall. Vielleicht gab es ein Handgemenge?«, fragte sie mit schleppender Stimme, um Ricky weitererzählen zu lassen.
»Ein Handgemenge?« Ricky wirkte entsetzt. »Er hat sie gegen diesen Tisch gestoßen. So sehr, dass sie an ihrer Schädelverletzung starb.«
Sophie versuchte, ihn verständnisvoll anzusehen. »Und darum hast du ihn erschossen?«
»Ja und nein.« Ricky lachte plötzlich und strich das Kleid glatt. »Ich hatte nicht geplant, auch Rubens zu töten, aber nachdem du dafür gesorgt hattest, dass die Polizei ermittelte, war es doch egal, oder? Mein ursprünglicher Plan ging nicht mehr auf. Und es gab plötzlich eine Möglichkeit, dem zweiten Schuldigen auch noch das zu geben, was er verdient hatte. Danke dafür. Ich habe sie letztlich alle für schuldig befunden. Richter wird sowieso kein Mensch vermissen. Und jetzt zu dir. Um dich ist es echt schade, aber ich kann auch kein Risiko mehr eingehen. Du hast den Stein doch erst ins Rollen gebracht.«
Sophie spürte, wie sie mehr und mehr die Kontrolle über sich verlor. Ihr Hals war trocken. Sie hatte nicht mal mehr die Kraft zu schreien. Als sie das Messer aufblitzen sah, war ihr klar, dass Ricky seine Pläne geändert hatte. Sie würden gleich in keine Bar mehr gehen. Ihr Anruf hatte die Sache abgekürzt. Ricky packte ihre Hand und drehte die Innenfläche nach oben. Sophie versuchte, ihn mit dem freien Arm wegzustoßen, doch sie hatte keine Kraft. Sie konnte sich nicht mehr selbst helfen. Resigniert schloss sie die Augen. Erst spürte sie einen spitzen Schmerz. Dann fühlte sie eine angenehme Wärme an ihrem Unterarm. Es kostete sie viel Überwindung, die müden Augen zu öffnen, um zu sehen, was da so wehtat und gleichzeitig so angenehm warm war. Es war das Blut, das in einem dünnen Strahl aus ihrer aufgeschnittenen Pulsader spritzte. Ricky lachte hysterisch. Dann fluchte er.
»Mein Kleid! Verdammt, Sophie, dein Blut saut das Kleid ein!«
Wütend griff er sich auch ihren zweiten Arm.