24

 

Sonntag

 

Sophie wachte mit leichten Kopfschmerzen auf. Sie rieb sich die müden Augen und verfluchte ihre Genusssucht. Jetzt hatte sie die zu erwartende Quittung bekommen. Der Abend mit Ben war noch sehr schön gewesen. Nach ihrem Anruf bei Marcello Mari hatte sie entschieden, dass sie in der Laura-Sache erst einmal genug Recherche betrieben hatte, und sich vorgenommen, das Thema an diesem Abend nicht mehr aufzugreifen. Zusammen mit Ben hatte sie sich über die Steaks hergemacht und in der lauen Sommernacht mit ihm noch lange über Gott und die Welt geredet. Dabei hatten sie zwei Flaschen Rotwein getrunken und viel zu viel geraucht. Sophie widerstand der Versuchung, einfach wieder einzuschlafen. Sie musste sich bewegen. Eine Runde Jogging würde ihren verkaterten Kopf wieder frei werden lassen. Sophie schlich sich mit Ronja aus dem Haus und trabte zur Elbe. Sie fragte sich gerade, warum sie nicht einfach Aspirin genommen und sich anschließend ein heißes Bad gegönnt hatte, als sie in der Ferne am Strand den weißen Königspudel entdeckte. Robert Feller. Ihre Kopfschmerzen waren plötzlich vergessen. Sie nahm Tempo auf und lief in Richtung Pudel.

»Morgen«, begrüßte Robert sie. Er war verschwitzt, machte aber einen fitten Eindruck.

»Hallo«, keuchte Sophie und blieb stehen. Sie war zu schnell gerannt und japste nach Luft. Wahrscheinlich hatte sie eine knallrote Birne. Peinlich.

Robert grinste zufrieden. »Ich habe acht Kilometer hinter mir.«

»Schön für dich. Ich etwa 800 Meter!«

Er sah sie erstaunt an.

»War ein langer Abend gestern.« Sophie hatte keine Lust, sich zu verteidigen und ging zum Angriff über. »Ich habe ein paar Neuigkeiten. Warum trinken wir nicht einfach einen Kaffee zusammen?«

»Du ziehst wirklich alle Register! Ich habe generell nichts gegen Kaffee. Aber direkt nach dem Joggen? So früh hat hier auch noch nichts geöffnet.«

Zusammen mit den Hunden spazierten sie am Strand entlang. Die Sonne schien und die Elbewellen glitzerten im frühen Morgenlicht. Hamburg zeigte sich von seiner schönsten Seite. Sophie wünschte sich, sich besser konzentrieren zu können. Sie musste das Gespräch irgendwie auf den Fall lenken. Die Polizei hatte sicher schon die Laborergebnisse über die Briefe. Sie musste Robert dazu bringen, ein bisschen was über den Ermittlungsstand auszuplaudern.

»Ich habe mit Sascha Richter gesprochen.«

Robert sah sie fragend an.

»Er hat jahrelang eine irre Wut auf Laura gehabt. Er macht sie sozusagen verantwortlich für sein beschissenes Leben.«

»Aha.«

»Aha? Wenn da Fingerabdrücke auf den Briefen waren, dann würde ich die vielleicht mal mit denen von Sascha Richter vergleichen.«

»Was für eine tolle Idee«, meinte Robert mit gespielter Begeisterung. Dann sah er sie ernst an. »Sag mal, Sophie, hältst du uns eigentlich für bescheuert?«

Sophie schluckte und schüttelte den Kopf. »Ihr habt keine Fingerabdrücke gefunden!«

»Nein. Nicht einmal deine. Alle Achtung. Gut gemacht. Stefan wäre ausgeflippt. Du solltest dich zurückhalten. Es handelt sich hier nicht um ein Spiel. Hast du nichts dazugelernt? Oder hast du schon vergessen, wohin dich deine privaten Ermittlungen bereits einmal fast gebracht hätten? Ich erinnere dich gerne. Ins Grab, Sophie. Ins Grab.«

 

*

 

 

Sophie starrte stur auf die Elbe. Robert nutzte die Chance, sie unbemerkt betrachten zu können. Haarsträhnen, die sich aus ihrem Zopf gelöst hatten, flatterten im Wind. Ihre Mundwinkel waren mürrisch nach unten gezogen. Eigentlich sah sie fast aus wie ein bockiges kleines Mädchen. Sie tat ihm plötzlich ein bisschen leid. Natürlich mischte sie sich viel zu sehr ein, aber sie war schließlich persönlich betroffen. Das Opfer war vor ihren Augen gestorben und sie hatte vorher alles versucht, es wiederzubeleben.

»Meine Freunde nennen mich Rob«, hörte er sich plötzlich sagen.

Sie sah ihn erstaunt an. »Machst du Witze?«

»Nein. Ich hasse den Namen Robert.«

»Das meine ich nicht. Ich bin nur verwundert, dass du mich zu deinen Freunden zählst.«

»So war das gar nicht gemeint«, erklärte Robert etwas beleidigt.

Sophie lächelte plötzlich. »Ich weiß nicht, warum ich gerade so zickig bin. Wahrscheinlich liegt es an meinem Kater. Hör mal, Robert, ich meine Rob, ich weiß, dass du dich auf dünnem Eis bewegst, wenn du mir Polizeiinterna erzählst.«

»Du kennst Stefan ja gut genug, um dir vorstellen zu können, wie er ausflippt, wenn er davon Wind bekommt.«

Sophie grinste. »Rumpelstilzchen wäre ein Dreck dagegen.«

Robert nickte. »Allerdings. Aber jetzt mal im Ernst, Sophie, das ist hier kein Wettbewerb. Wir haben alle ein gemeinsames Ziel. Wir wollen herausfinden, was wirklich mit Laura passiert ist. Der Unterschied ist nur, dass ich für die Polizei arbeite und du nicht.«

Sophie verschränkte die Arme vor der Brust und bohrte mit der Spitze ihres Turnschuhs unbehaglich im Sand.

»Sascha Richter versucht, Marcello Mari zu erpressen.«

»Was?«

»Ich soll den Mari für die ›Stars & Style‹ interviewen. Das war wirklich nicht meine Idee. Frag meinen Chefredakteur. Ich muss natürlich zugeben, dass ich das als wunderbare Fügung des Schicksals hingenommen habe. Mari hat mir bereits am Telefon erzählt, dass Richter von ihm fordert, ihn wieder ins Geschäft zu bringen.«

»Sonst noch was?«, fragte Robert streng.

»Richter behauptet, etwas gegen Mari in der Hand zu haben. Mari weiß aber nicht, was das sein könnte. Er hält sich für langweilig.«

»Nimmst du ihm das ab?« Robert schüttelte nachdenklich den Kopf. »Du wirst dich natürlich mit ihm treffen?«

»Logisch!«

»Und dann rufst du mich an …«

»Warum sollte ich das tun? Von dir habe ich noch nicht wirklich was Neues erfahren.«

Robert schüttelte den Kopf. »Warum mache ich das nur? Ich muss verrückt sein. Aber gut. Viel Neues gibt es sowieso nicht. Wir wissen nun endlich, in welchem Hotel Laura gewohnt hat.«

Sophie sah ihn erstaunt an. »Im Hotel Atlantic. Das habe ich Stefan doch selbst gesagt.«

»Sie war schon einige Tage länger in der Stadt und in der Zeit ist sie in einer eher günstigen Unterkunft auf St. Pauli abgestiegen. Ihre Kreditkartenabrechnung belegt das. Leider kann sich vom Personal niemand an sie erinnern.«

»Sie wird sich nicht als Laura Crown zu erkennen gegeben haben. Vielleicht hat sie für eine Rolle recherchiert und sich verkleidet?«

»Möglich. Wir prüfen aber auch, ob sie vielleicht in finanziellen Schwierigkeiten steckte.«

Sophie sah ihn skeptisch an.

»Interessanter ist da eine andere Sache auf die wir gestoßen sind. Es gab schon mal eine ›Dinnerparty‹. Zur Premiere von ›Die mexikanische Nanny‹. Damals fand sie bei Victor Rubens statt. In seiner Villa am Kellersee. Mehr darf ich dir beim besten Willen nicht sagen, nur, dass die Party ziemlich unschön zu Ende gegangen ist.«

 

*

 

 

Sophie verabschiedete sich von Robert und spazierte mit Ronja nach Hause. Sie hatte keine Lust mehr zu joggen. Lieber wollte sie den schönen Morgen genießen und drüber nachdenken, was Robert, oder besser ihr neuer Freund Rob, gemeint haben könnte, als er von einem unschönen Ende der Party sprach. Sie brachte Brötchen mit und frühstückte mit Ben im Garten.

»Also gut«, meinte Ben nach seinem letzten Schluck Kaffee. »Hier muss was passieren!«

Sie sah ihn verständnislos an.

»Du glotzt gerade wie eine Kuh, wenn es donnert. Ich rede von deiner feudalen Bleibe. Welche Wand soll ich zuerst streichen?«

»Du willst mir helfen?«

Ben nickte. Sophie war ihm unendlich dankbar. Es musste wirklich mal vorangehen mit ihrer Wohnung. Sie kam zu gar nichts mehr.

»Die Küche. Ich versuche seit Tagen, endlich diese Wand rot zu streichen.«

Sie erklärte ihm, in welchem der unzähligen Farbeimer das schicke Ochsenblutrot wartete, auf die frisch verputze Wand gestrichen zu werden. Dann räumte sie den Tisch im Garten ab. Ronja döste im Schatten. Eigentlich musste sie sich dringend auf das Interview mit Marcello Mari vorbereiten. Im Besonderen natürlich auf das, was er nicht einfach so preisgeben würde, seine ›Leiche im Keller‹. Sophie war sich sicher, dass es eine geben musste. Auch wenn Sascha Richter ein hoffnungsloser Fall war, glaubte sie nicht, dass er sich eine Geschichte aus den Fingern sog. Richter wusste was. Als Erstes würde sie aber dem Hinweis von Robert nachgehen. Er sprach von einem unschönen Partyende. Sie nahm sich eine Tasse Kaffee mit ins Arbeitszimmer und fing an zu googeln. Sie brauchte nur ein paar Minuten, bis sie fand, wonach sie gesucht hatte: Ein Gruppenfoto der Schauspieler und der gesamten Crew machte den Anfang. Dann folgte die Schlagzeile:

 

Drama bei Premierenparty

 

Die Premierenparty des großen neuen Fernsehfilms des Erfolgsproduzenten Victor Rubens endete mit einer Tragödie. Eine Maskenbildnerin wurde tot im Park seines Anwesens aufgefunden. Angeblich mit einer hässlichen Kopfverletzung. Victor Rubens selbst wurde vorläufig festgenommen.

 

Sophie starrte auf den Text. Dann wanderte ihr Blick zurück zur Fotografie. Alle waren versammelt. Marcello Mari grinste in die Kamera wie ein Gigolo. Laura stand in einem schlichten nachtblauen Kleid da und sah umwerfend aus. Selbst Sascha Richter wirkte wie ein junger Gott. Es war schwer zu glauben, dass dieses Bild erst vor sieben Jahren aufgenommen worden war, wenn man Sascha Richter betrachtete. Er war frisch, braun gebrannt und fast faltenlos. Heute sah er mit seiner grauen Haut und dem leicht aufgedunsenen Gesicht locker 20 Jahre älter aus. Ohne Frage hatte ihm die ganze Sache am übelsten mitgespielt. Sophie versuchte zu begreifen, was ihr dieser Artikel eigentlich sagte. Eine Maskenbildnerin war an besagtem Abend tot und mit einer Kopfverletzung in Victors Park aufgefunden worden. Von wem? Von Rubens selbst? Warum hatte man ihn verhaftet?

»Ben! Komm schnell!«

Ronja stürmte zuerst in ihr Arbeitszimmer. Dann folgte Ben.

»Was ist denn los? Ich bin beinahe von der Leiter gefallen, so hast du gebrüllt!«

»Ben, wir müssen mit Rubens sprechen.«

»Jetzt gleich?«

»Sofort. Ich will wissen, warum er uns das nicht gesagt hat.«

»Was nicht gesagt hat?«

Sophie deutete auf den Computerbildschirm.

Ben las den Artikel und pfiff durch die Zähne. »Ich könnte mir vorstellen, dass er nicht mehr daran erinnert werden will.«

Sophie sprang auf. »Dass er mal verdächtigt wurde, eine Frau erschlagen zu haben?«

»Ruhig Blut, Sophie. Er ist vorläufig festgenommen worden. Mehr steht da nicht. Was immer damals geschehen ist, Rubens hat wohl nichts mit dem Tod der Frau zu tun gehabt. Sonst hätte man ihn verurteilt. Wahrscheinlich war es ein Unfall.«

Sophie war schon fast aus der Tür. »Jetzt komm! Rubens soll uns das selbst erzählen.«

 

*

 

 

Tina legte den kleinen Finn in die Strandmuschel und deckte ihn mit einem Handtuch zu. Der kleine Kerl war von der Seeluft und dem Laufen im Sand so k.o., dass er sich freiwillig zu einem Mittagsschläfchen entschlossen hatte. Sie waren gleich nach dem Frühstück zum Strand bei Flügge an der Westküste aufgebrochen. Die Kinder liebten es dort. Antonia und Paul bauten seit Stunden Burgen und Kanäle. Tina lächelte. Sie selbst hatte früher mit ihren Eltern oft an diesem Strand gespielt. Und später, als junge Frau, waren die ersten Septemberwochenenden seit 1995 reserviert. Tausende kamen dann auf die Wiese bei Flügge und feierten das Jimi Hendrix Revival Festival, ein Open-Air-Konzert, dem toten Musiker zu Ehren. Sogar ein Gedenkstein erinnerte an Hendrix, der 1970 auf der Ostseeinsel sein letztes Konzert gab. Stefan und sie gingen jedes Jahr hin. Nur ganz so wild wie früher feierten sie nicht mehr, seit sie Kinder hatten. Und natürlich verbot sie es sich, als Frau eines Kommissars auch nur an einen Joint zu denken. Tina musterte Stefan. Er gab vor, zu lesen. Da er aber selten eine Seite umblätterte, ging Tina stark davon aus, dass er einfach nur vor sich hin grübelte. Sie wusste, dass der Krone-Fall ihm zu schaffen machte.

»Schatz?«

Keine Reaktion.

»Kommissar Sperber!«

Jetzt blickte er auf.

»Meine Güte, Stefan. Es ist Sonntag. Familientag. Kannst du jetzt vielleicht mal für ein paar Stunden deine Arbeit vergessen?«

Stefan sah sie schuldbewusst an.

»Würde ich gerne, meine Schöne. Komm her.«

Sie kuschelte sich an ihren Mann. Gemeinsam beobachteten sie ihre spielenden Kinder.

»Was ist los?«

Stefan knurrte leise. »Diese Crown-Sache. Wir kommen da nicht wirklich weiter. Schölzel hat sich gestern noch einmal diesen Maskenbildner vorgenommen. Der hat zugegeben, zusammen mit der Krone gekokst zu haben. Sonst hatte er nichts Neues. Feller hat herausgefunden, dass Victor Rubens schon einmal vorläufig festgenommen wurde.«

Tina sah ihn überrascht an. »Warum denn das?«

»Bei einer Premierenparty in seiner Villa war eine Frau verunglückt. Rubens hat sich damals wohl merkwürdig verhalten. Keine Ahnung. Er wurde schnell wieder entlassen. Die Kollegen kümmern sich um diese alte Geschichte. Der ganze Fall ist einfach merkwürdig. Ohne die Briefe, die wir von Sophie haben, würden wir uns gar nicht mehr mit der Sache beschäftigen. Die Spuren laufen alle ins Leere.«

Sophie! Gutes Stichwort. Tina beschloss, sie sofort anzurufen. Vielleicht hatte Sophie etwas herausgefunden. Sie schnappte ihr Telefon. »Ich geh mal ein paar Schritte.«

Stefan nickte und versprach, die Kinder im Auge zu behalten.

Tina lief den weitläufigen Strand entlang und wählte Sophies Nummer. Sie meldete sich sofort.

»Tina. Wie geht es euch?«

»Uns geht es super. Wir sind am Strand und genießen das herrliche Wetter. Bist du im Auto unterwegs?«

»Ich? Ja. Ben und ich …«

Tina wartete, dass Sophie weitersprechen würde.

»… wir machen einen Ausflug.«

»Wie schön. Wo seid ihr denn?«

»Tina, bitte frage nicht weiter. Ich will dich nicht anlügen, aber ich kann dir auch nicht die Wahrheit sagen. Noch nicht. Ich ruf dich an, sobald ich mehr weiß. Sei mir nicht böse. Ich hab dich lieb.«

Das Gespräch war beendet. Tina lief es eiskalt den Rücken runter. Sophie war anscheinend noch an der Sache dran. Mehr noch. Während Stefan planlos am Strand saß, hatte sie die Fährte bereits aufgenommen. Was hatte sie vor?

 

*

 

 

Ben parkte den BMW vor Rubens’ Villa. Er hatte darauf bestanden, selbst zu fahren. Bei Sophies Fahrstil wurde ihm angst und bange und heute war sie viel zu aufgeregt, um fast zwei Stunden hinter dem Lenkrad zu sitzen und sich auf den Verkehr zu konzentrieren. Sophie sprang bereits aus dem Wagen, bevor er den Schlüssel abgezogen hatte. Ben beschloss, Ronja im Auto zu lassen. Dieser Produzent würde sicher nicht begeistert sein, von ihr wild angesprungen zu werden. Dann folgte er Sophie zum Eingangstor. Sie hatte bereits geklingelt.

»Und?«

Sophie zuckte mit den Schultern. »Da tut sich nichts.«

Ben fühlte sich bestätigt. Er hatte Sophie ein paarmal vorgeschlagen, sich telefonisch anzumelden, doch Sophie war dagegen gewesen. Sie wollte ihn überraschen, hatte sie gemeint. Ihre Fragen sollten ihn unvorbereitet treffen. Das hatten sie jetzt davon.

»Wahrscheinlich ist niemand da.« Eigentlich war er erleichtert. So konnte Sophie sich zumindest keinen Ärger mit der Polizei einhandeln. Es war nur schade, dass sie bei dem herrlichen Wetter so lange Zeit im Auto verbrachten.

»Lass uns wieder fahren«, schlug Ben vor.

»Vielleicht schläft er nur.«

»Wenn dem so sein sollte, ist er sicher nicht begeistert, mit Sturmgeklingel aus seinem Mittagsschläfchen geweckt zu werden. Keine gute Voraussetzung, um ihn auf den Mordverdacht anzuquatschen.«

Sophie stöhnte. »Da hast du wahrscheinlich recht. Ach, verdammt. Ich hätte zu gern gewusst, wie er uns die Sache zu erklären versucht hätte.«

Mit hängenden Schultern lief sie zurück in Richtung Wagen. Ben tat sie fast ein bisschen leid. Er überlegte gerade, an welchen schönen Fleck sie denn fahren könnten, wenn sie schon in dieser herrlichen Gegend waren, als Sophie sich plötzlich aufgeregt umdrehte.

»Das Bootshaus!«

»Was?«

»Er hatte doch sein Bootshaus erwähnt. Er nannte es sein Angelhaus. Es kann nur ein paar Schritte entfernt sein. Vielleicht sitzt er am Wasser und fischt.«

»Sein Grundstück ist eingezäunt und wahrscheinlich mit einer Alarmanlage gesichert. Wie willst du denn dahin kommen?«

Sophie folgte bereits einem schmalen Trampelpfad, der durch ein kleines Wäldchen auf den See zu führen schien.

»Der Zaun endet am See. Wir waten einfach durch das Wasser. Das kann doch nicht so schwierig sein.«

Ben wusste, dass es keinen Sinn hatte, sie von der Idee abzubringen. Er latschte genervt hinter ihr her. Sie erreichten die Uferlinie.

»Das da muss es sein«, rief Sophie und zeigte auf ein Holzhäuschen, das keine 50 Meter weit entfernt auf Rubens’ Grundstück lag. »Das ist sein Angelhaus.«

Sie war bereits dabei, sich die Schuhe auszuziehen.

»Und wenn er mit einem Boot rausgefahren ist? Schwimmen wir dann hinterher, oder was hast du für diesen Fall geplant?«, fragte Ben gereizt.

»Ich verstehe, dass du genervt bist. Ich verspreche dir, dass wir zurück nach Hamburg fahren, wenn wir Rubens hier nicht antreffen. Ich muss mein Interview mit Mari machen. Und jetzt komm bitte.«

Sophie krempelte sich die leichte Sommerhose bis zu den Knien hoch und stieg in den See. Langsam lief sie durch das flache Wasser, bis sie auf Rubens’ Grundstück war. Ben fluchte leise. Dann riss er sich ebenfalls Schuhe und Socken von den Füßen und folgte ihr.

»Victor? Sind Sie da?«, rief Sophie, als sie um das Holzhaus herumgingen. »Wir sind’s, Sophie Sturm und Ben Lorenz.«

»Da sitzt er ja.« Ben deutete auf einen bequemen Anglerstuhl. Von hinten blickte er auf Victors Kopf, auf dem ein uriger Schlapphut thronte.

»Vielleicht ist er eingenickt.«

Sophie stapfte auf den Stuhl zu. »Victor, wir würden gern …« Ben sah sie vor Victor stehen. Eine Hand presste sie über Mund und Nase, mit der anderen versuchte sie, die Fliegen zu verscheuchen. Dann schrie sie. »Oh mein Gott, Ben! Ben, komm her!«

 

*

 

 

Marcello Mari betrachtete sich im Spiegel. Er grinste. Was er sah, gefiel ihm. Er hatte sich für einen cremefarbenen Pulli entschieden. Dazu trug er Jeans und braune Slipper von Tods. Der helle Pulli ließ seinen südländischen Teint noch besser zur Geltung kommen und sein Kreuz wirkte breit und männlich. Marcello sprühte sich etwas von dem teuren Duft auf und nickte seinem Spiegelbild zu. Perfekt. Er wollte, dass Sophie Sturm vom ersten Augenblick an merkte, dass er einfach ein absoluter Traummann war. Sie sollte sich am besten gleich selbst in ihn verlieben. Das Interview würde dann kein Problem mehr sein. Nur er und Sophie. Sophie wäre wirklich mal eine Frau, mit der er sich messen könnte. Sie war schön und schlau. So ein Kaliber traf man schließlich nicht jeden Tag. Monika kam ihm wieder in den Sinn. Sie hatte bereits mehrmals angerufen. Und schon wieder klingelte das Telefon. Monika.

»Was willst du?«, fragte er mit einem bedrohlichen Unterton.

»Ich wollte mich nur entschuldigen. Ach, Marcello, ich hätte dich nicht so provozieren dürfen. Es tut mir leid. Bitte …«

»Du hast mich sehr enttäuscht.«

»Ich weiß. Aber ich liebe dich und ich will auch das andere. Ich will es. Ich habe verstanden, dass es für dich dazugehört. Bitte, Marcello. Mach mit mir, was du willst. Ruf mich an und nenn mir die Adresse. Ich werde da sein und ich werde dich nicht enttäuschen. Ich schwöre.«

Mari erwiderte nichts. Er legte einfach auf. Das war nun mal seine Art. Es war doch immer wieder erstaunlich. Er behandelte Frauen gerne wie Dreck, wenn sie ihm auf die Nerven gingen. Und eigentlich gingen ihm alle Frauen früher oder später auf die Nerven. So bekam er am Ende immer sein devotes Opfer. Bis auf Laura. Laura hatte er, soweit er sich erinnern konnte, auch nie geschlagen. Monika hatte er schon öfter eine runtergehauen. Trotzdem bildete sich die dumme Kuh ein, er würde sie lieben. Und nun war sie so weit. Willig. Am Ende würde sie doch nur ein Opfer sein. Marcello leckte seinen Mittelfinger und strich seine Augenbrauen in Form. Er sah verdammt gut aus. Sophie Sturm würde schnell kapieren, dass eine Story mit ihm längst überfällig war. Vielleicht könnte er sie ja sogar tatsächlich noch persönlich begeistern. Soviel er wusste, war sie nach ihrer Affäre mit Felix van Haagen Single. Sophie würde sich sicher nicht einfach schlagen lassen. Sie war eine toughe Frau. Marcello merkte, dass er sich auf das Interview mit ihr freute. Es würde auf jeden Fall eine interessante Begegnung werden. Wenn er Glück hatte, würde er sofort merken, wie die hübsche Blondine so tickt. Immerhin war er ein guter Schauspieler. Und dann würde es kein Problem mehr geben, sie dementsprechend zu begeistern. Am Ende würde sie mit ihm ins Bett gehen, da war er sich sicher. Und dann würde er sie langsam auf das vorbereiten, was ihn in Wirklichkeit anturnte. Vorher musste er nur noch einen kleinen Abstecher nach Barmbek machen. Sascha Richter musste endlich kapieren, dass er, Marcello Mari, sich nicht erpressen lassen würde!

 

*

 

 

Ben rannte so schnell wie möglich zu Sophie. Als sie ihn eben gerufen hatte, hatte ihre Stimme entsetzlich panisch geklungen. Sophie haute so leicht nichts um. Ben war klar, dass sie eine grauenhafte Entdeckung gemacht haben musste.

Sein Herz klopfte und seine Beine zitterten, als er es selbst sah. Victor Rubens saß in seinem Stuhl. Seine rechte Gesichtshälfte fehlte. Gehirnmasse klebte am Rückenteil des Nylonstuhls. Seine Hand umschloss noch den Revolver. Ben wich würgend ein paar Meter nach hinten aus.

»Oh, mein Gott. Warum hat er das getan?«

Sophie schüttelte schweigend den Kopf. Sie wirkte blass und mitgenommen.

»Was jetzt? Den Krankenwagen müssen wir wohl nicht mehr rufen. Die Polizei …«

»Was hat er da in der Hand?«, unterbrach Sophie ihn leise.

»Eine Pistole!«

»Das ist nicht zu übersehen. Ich meine in der anderen.«

Ben sah auf Rubens Linke, die nach unten hing. Tatsächlich. Die Finger umklammerten ein zusammengeknülltes Stück Papier.

»Das ist doch bestimmt ein Brief.« Sophie machte bereits Anstalten, auf den toten Victor Rubens zuzugehen. Ben hielt sie zurück.

»Bist du wahnsinnig? Du kannst das doch nicht allen Ernstes lesen! Du darfst hier nichts anfassen. Das muss ich dir doch nicht erklären. Wir müssen sofort die Polizei verständigen. Ruf Stefan an.«

»Stimmt. Warten wir doch auf Stefan. Den fragen wir dann, ob er uns den Inhalt des Briefes als E-Mail schickt«, zischte sie wütend. In ihr Gesicht war die Farbe zurückgekehrt.

»Warum musst du unbedingt wissen, was da steht? Herrgott noch mal, Sophie. Jetzt reicht es! Rubens hat sich ganz offensichtlich eine Kugel in den Kopf gejagt.«

»Eben. Laura ist tot. Victor Rubens stand vor sieben Jahren unter dem Verdacht, eine Frau erschlagen zu haben. Und jetzt hat er sich umgebracht. Ich würde wirklich gerne wissen, wie das zusammenhängt. Und ich bin mir sicher, dass in dem Brief eine Erklärung steht.«

Ben wollte nur noch weg. Die Fliegen machten ihn irre. Es war ihm ein Rätsel, wie Sophie das aushalten konnte.

»Man wird deine Fingerabdrücke finden.«

 

»Eben nicht. Als ich die Drohbriefe kopiert habe, habe ich das Paar Gummihandschuhe aus dem Verbandskasten benutzt. Ich habe sie später ins Handschuhfach gestopft. Und da sind sie immer noch.«

Sie würde die Handschuhe sowieso holen.

»Okay. Ich laufe zum Wagen und bringe dir die verdammten Dinger. Aber danach rufen wir Stefan an.«

Ben war froh, den Schauplatz für einen Moment verlassen zu können und richtig durchzuatmen. Trotzdem beeilte er sich. Er würde sich erst wieder besser fühlen, wenn die Polizei vor Ort war.

Wenige Minuten später streifte sich Sophie die Handschuhe über und löste vorsichtig den zerknüllten Brief aus Victor Rubens’ steifer Faust. Die Fliegen schwirrten wie verrückt um ihren Kopf herum.

»Die Totenstarre hat bereits eingesetzt.«

»Bitte, Sophie, erspare mir die Details. Mir ist schon schlecht.«

»Ist ja schon gut. Immerhin wissen wir jetzt, dass der Todeszeitpunkt bereits einige Stunden zurückliegt. Wahrscheinlich hat er sich in der Nacht oder in den frühen Morgenstunden erschossen.«

»Und nun gammelt er hier in der Mittagshitze herum.« Ben hätte am liebsten gebrüllt, dass ihm der Todeszeitpunkt persönlich vollkommen egal war und dass es unwichtig war, ob sie nun davon wussten oder nicht. »Die Polizei muss sich jetzt um die Sache kümmern. Nicht wir. Also, was ist jetzt mit dem Brief?«

»Es ist ein Abschiedsbrief.«

»Wieso habe ich damit gerechnet? Verdammt, Sophie. Lies vor. Ich halte es hier keine Sekunde länger aus.«

 

Abschiedsbrief

 

 

Es tut mir sehr leid, dass ich viele Menschen mit diesem Abtritt enttäusche, aber ich kann nicht anders.

Besonders Dich, liebe Marlene, bitte ich um Verzeihung.

Auf mir lastet zu viel Schuld. Mit meinem Hass auf Laura, die mich mehr verletzt hat als jeder andere Mensch in meinem langen Leben, ist meine Geschichte hier zu Ende.

Ich habe Laura Crown umgebracht. Ich habe sie nur aus diesem Grund mit einem Rollenangebot wieder in mein Umfeld gelockt. Ich hätte sie schon damals erschlagen. Leider traf meine Wut eine Unschuldige. Ich bereue das zutiefst. Krista starb nicht durch einen tragischen Unfall. Ich habe sie für Laura gehalten und mit voller Absicht gegen den Tisch gestoßen. Wollte ich Laura schon damals töten? Ja! Ich habe sie gehasst, weil sie mich als einziger Mensch behandelte wie eine Küchenschabe. Sie verachtete mich. Und ich habe sie so geliebt. Krista starb durch meine Hand, weil ich blind war vor Hass. Jetzt hat Laura, was sie schon seit Jahren verdient. Laura war ein schlechter Mensch und ich bin es auch.

 

Sophie knüllte den Brief wieder zusammen und steckte ihn vorsichtig zurück zwischen Rubens’ steife Finger. Angeekelt streifte sie sich die Handschuhe ab und stopfte sie in eine leere Zigarettenschachtel, die sie glücklicherweise in ihrer Handtasche gefunden hatte. Zusammen mit Ben entfernte sie sich vom Anglerhäuschen und atmete tief durch. Erst jetzt spürte sie, wie der seltsame Geruch und die Fliegen ihr zugesetzt hatten. Ben zündete zwei Zigaretten an und reichte ihr kommentarlos eine. Dankbar griff sie zu und zog gierig. Sie fühlte sich furchtbar. Das Bild von Rubens’ halbem Gesicht und von seinem grauen Hirn hatte sich in ihren Kopf gebrannt. Ben schien es ähnlich zu gehen.

»Du hast nicht zufällig einen Schnaps im Wagen?«

»Leider nicht. Eigentlich sollte so was in den Verbandskasten gehören, oder?«

»Wir müssen die Polizei anrufen. Sofort. Das ist dir doch hoffentlich klar?«

Sophie nickte und drückte die Zigarette aus. »Das weiß ich. Ich rufe Stefan an.«

Mit leicht zittrigen Fingern rief sie seine Nummer im Mobiltelefon auf. Sie war darauf gefasst, dass Stefan sie nicht gerade freundlich begrüßen würde. Und sie behielt recht.

»Sophie, geh mir nicht auf den Keks!«, blaffte Stefan.

Bevor er einfach auflegen konnte, zischte sie knapp: »Männliche Leiche gefunden!«

Am anderen Ende der Leitung herrschte Stille.

»Ich sagte gerade, dass ich eine Leiche gefunden habe.«

»Das habe ich gehört. Wo?«

»Wo? Am Kellersee vor einem Bootshaus.«

»Am Kellersee? Ich brauche eine genaue Wegbeschreibung. Da gibt es jede Menge Bootshäuser.«

»Willst du denn gar nicht wissen, wen ich gefunden habe?«

»Wen? Du meinst, du kennst den Toten?«

»Wir kennen ihn alle!« Sophie wartete ein paar Sekunden, bevor sie weitersprach. »Victor Rubens. Wie es aussieht, hat er sich selbst das Hirn aus dem Kopf gefeuert.«

 

*

 

 

Stefan warf das Mobiltelefon auf sein Badelaken und starrte ein paar Sekunden aufs Meer. Er musste diese Neuigkeit erst einmal verdauen. Victor Rubens war wahrscheinlich tot. Sophie hatte von Selbstmord gesprochen. ›Das Hirn aus dem Kopf gefeuert‹, das waren ihre Worte gewesen. Ausgerechnet Rubens. Gerade hatte er sich mit den Kollegen darauf geeinigt, dem reichen Filmproduzenten mal genauer auf den Zahn zu fühlen. Vor sieben Jahren hatte man Rubens nichts nachweisen können. Es gab keine brauchbaren Indizien und zudem hatte Rubens ein Heer von Anwälten angeheuert, die schon im Vorfeld jede Kleinigkeit auseinanderpflückten. Es war nie zu einer Anklage gekommen. In dubio pro reo. Im Zweifel für den Angeklagten. Trotzdem blieb die Tatsache, dass Rubens in der besagten Nacht eine ganze Weile nicht bei seinen Gästen gewesen war. Ein Zeuge hatte ausgesagt, er habe Rubens in den Garten des Anwesens laufen sehen. Das allein war kein Verbrechen. Bei der Maskenbildnerin konnte ein Unfalltod nicht ausgeschlossen werden. Sie war stark angetrunken gewesen und hätte auch unglücklich gefallen sein können. Das aber hätte die Risse in ihrem Abendkleid nicht erklärt. Damals war Rubens vielleicht beteiligt gewesen und im aktuellen Fall tauchte er wieder auf. Stefan drückte sich müde die Finger auf die Augenlider, um sich besser konzentrieren zu können. Wenn sie es überhaupt mit einem Fall zu tun hatten. Eigenartig war die Sache schon. Erst starb die Gastgeberin und nun war der erste Gast tot. Fast wie bei Agatha Christie. Stefan stöhnte und fuhr sich durch das Haar. Es gab nicht die geringste Veranlassung, ein Mordkomplott zu vermuten. Natürlich gab es diese Drohbriefe, aber kein eindeutiges Anzeichen einer unnatürlichen Todesursache im Fall Laura Krone. Und nun hatte Rubens sich erschossen. Und natürlich war es Sophie, die ihn fand. Stefan riss sich zusammen. Sie mussten möglichst schnell an den Fundort der Leiche. Er nahm sein Handy und wählte Schölzels Nummer.

»Ingo, wir haben eine Leiche. Wahrscheinlich Victor Rubens. Trommel alles zusammen. Spurensicherung, Rechtsmediziner und Fotograf. Ich will die Nummer wasserdicht haben.«

Nachdem er Schölzel die Adresse und alle weiteren Informationen durchgegeben hatte, weckte er Tina, die neben Finn eingenickt war. »Süße? Wir müssen los.«

Tina rieb sich die Augen und nickte. In kürzester Zeit hatten sie alles zusammengepackt. Antonia und Paul stiegen ohne Murren in den Wagen. Sie freuten sich auf ihr Planschbecken und die versprochene große Portion Eis.

»Tut mir leid«, entschuldigte er sich bei Tina, als er sie zu Hause abgesetzt hatte.

Tina lächelte. »Was genau? Wir hatten es doch schön. Mach dir keine Sorgen. Die Kinder sind müde. Um acht habe ich alle im Bett und dann mach ich mir einen netten Abend. Hat Sophie dich angerufen?«

Stefan schnappte nach Luft.

»Das heißt wohl ›ja‹. Tu ihr nichts! Sie will doch nur helfen.«

Stefan verbot sich jeden weiteren Kommentar und fuhr von der Auffahrt.

Die ganze Sache wurde immer merkwürdiger. Er spürte dieses unbehagliche Kribbeln im Nacken, das ihn neuerdings öfter überfiel, wenn er das Gefühl hatte, dass bedeutend mehr hinter etwas steckte, als es zunächst den Anschein hatte.