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Tina Sperber saß auf der Terrasse und genoss die laue Sommernacht. Sie hatte die Kerzen in den großen Windlichtern angezündet. Die Kinder schliefen schon seit Stunden tief und fest. Was für ein Unterschied zum letzten Sommer, dachte sie. Jetzt war Finn schon ein gutes Jahr alt und aus dem Gröbsten raus. Er ließ sich ohne Probleme ins Bett bringen und schlief bis 7 Uhr durch. Antonia war kein Kleinkind mehr. Nach den Sommerferien würde sie eingeschult werden. Und Paul war ein kleiner Frechdachs, der seine Zeit am liebsten damit verbrachte, sich im Garten dreckig zu machen. Tina musste grinsend daran denken, wie Paul sich heute am Strand nass vom Baden im Sand gewälzt und behauptet hatte, er sei ein Wiener Schnitzel. Sie genoss diesen Sommer mit ihren Kindern und natürlich mit Stefan, wenn er denn da war, in vollen Zügen. Tina wurde aus ihren Gedanken gerissen, als sie einen Wagen auf die Auffahrt rollen hörte. Stefans Auto war das nicht. Sie sah auf die Uhr. Besuch zu so später Stunde? Tina sprang auf, um zur Eingangstür zu gehen, doch im selben Moment sah sie Stefan durch den Garten auf sie zukommen. Und hinter ihm eine blonde Frau.

»Sophie?«, rief sie überrascht.

»Hallo, Schatz.« Stefan nahm sie kurz in den Arm und küsste sie flüchtig. »Wir erklären dir gleich alles.«

»Erklären?«

»Es ist was passiert«, sagte Sophie.

Tina bemerkte, wie blass Sophie wirkte. Beunruhigt führte sie ihre Freundin zu einem Korbsessel auf der Terrasse. »Was ist los?«

»Ich habe dir doch erzählt, dass ich ein Interview mit Laura Crown oder Krone, so hieß sie ja eigentlich, machen soll.«

»Ja. Aber ich verstehe nicht …«

»Du kennst doch die Sendung ›Dinnerparty‹?«

Tina nickte, auch wenn sie die Zusammenhänge nicht begreifen konnte.

»Heute war eine Aufzeichnung. Laura hatte sich dafür ein Haus auf der Insel gemietet. Sie wollte ihr Comeback einläuten. Und dann ist sie zusammengebrochen, nachdem sie den Hauptgang serviert hatte.«

»Zusammengebrochen?« Tina schüttelte ungläubig den Kopf. »Meine Güte. Weil sie kochen sollte? So anstrengend ist das ja wohl nicht, oder? In Hollywood geht man wahrscheinlich nur essen. Laura kann einem wirklich leidtun. Wie geht es ihr denn jetzt?«

Sophie schluckte. »Sie ist tot.«

Tina brauchte einen Moment, um die Nachricht zu begreifen.

»Tot? Ich verstehe nicht, was …«

»Sie ist vor ein paar Stunden bei der Aufzeichnung dieser Fernsehsendung tot zusammengebrochen«, erklärte Stefan, der mit einer Flasche Rotwein und drei Gläsern zurück in den Garten gekommen war. »Sophie hat mich angerufen. Der Notarzt konnte keine klare Todesursache feststellen.«

»Wollt ihr mir etwa gerade erklären, dass Laura …«

»Das wissen wir nicht.« Stefan nahm ihre Hand und drückte sie zärtlich. Tina war einen Moment sprachlos.

Sophie schilderte ihr anschließend die ganze Situation.

»Dein Mann meinte, ich solle lieber die Nacht bei euch bleiben und mich nicht sofort selbst ans Steuer setzen, um nach Hamburg zurückzufahren«, erklärte Sophie abschließend.

»Da bin ich ganz seiner Meinung! Das Rosamunde-Pilcher-Gästezimmer steht dir immer zu Verfügung.«

Tina zog sich ihren Pashminaschal enger um die Schultern. Mit den Worten ›Sophie‹, ›Fehmarn‹ und ›Leiche‹ wurde sie sofort wieder an gewisse Tage im letzten Sommer erinnert. Und die hatte sie eigentlich für immer vergessen wollen.

 

*

 

 

Marcello Mari war genervt. Er war sogar gereizt. Was für ein katastrophaler Abend. Diese ewige Warterei. Und dann dieses Verhör. Was bildeten sich diese Bullen eigentlich ein? Man hätte alle Fragen auch morgen in Ruhe telefonisch klären können. Wahrscheinlich hatten diese Beamten einfach Spaß daran, einen Filmstar zu drangsalieren. Wenigstens hatte der Taxifahrer, der ihn zurück nach Hamburg gebracht hatte, schnell begriffen, dass er in dieser Nacht nicht mehr in der Laune war, noch irgendetwas zu sagen. Marcello schloss die Tür zu seiner luxuriösen Altbauwohnung in Uhlenhorst auf, ging hinein und knallte sie heftig zu.

»Tiger?«

Auch das noch.

»Tiger, dein Kätzchen wartet!«

Monika rekelte sich auf der weißen Ledercouch. Neben ihr stand eine halb leere Flasche Champagner. Im Fernsehen lief irgendein Scheißdreck.

»Was machst du hier?«, fuhr er sie an.

»Was ich hier mache? Auf dich warten.« Sie streckte ihre langen Beine aus und leckte sich die vollen Lippen. »Ich warte schon seit Stunden! So lange kann der Dreh doch nicht gedauert haben! Ich habe mir Sorgen gemacht. Wieso kommst du erst jetzt? Du hättest anrufen können.«

Monika hatte einen Hang zum Hysterischen. Im Bett war ihre dramatische Ader toll, aber sonst nervte sie. Mehr noch, es brachte ihn in Rage.

»Halt dein dummes Maul!«

»Ich hasse es, wenn du so ordinär bist.«

Marcello versuchte, sich zu beruhigen. Er ging an die Bar und schenkte sich einen großen Cognac ein. Eigentlich hatte er schon genug intus, aber es war schließlich auch kein normaler Abend gewesen. Er musste unbedingt runterkommen.

»Du könntest dich entschuldigen! Ich wäre dann auch bereit, ganz furchtbar lieb zu dir zu sein. Du weißt schon.«

Er sah sie an und trank seinen Cognac. Monika war schön, 20 Jahre jünger als er selbst. Sie war sogar halbwegs gebildet. Aber sie konnte eine echte Nervensäge sein. Im Moment hatte er nicht mal Lust, mit ihr zu schlafen.

»Warum verpisst du dich nicht einfach? Ich hab jetzt echt keinen Bock auf dein Theater.«

»Du hast keinen Bock auf mein Theater? Hallo? Ich warte hier seit Stunden.« Monika war aufgesprungen und sah ihn wütend an. »Konntest du dich nicht von deiner Ex trennen? Hat Laura dich wieder um den Finger gewickelt?«

Warum hatte er ihr nur davon erzählt?

»Ich bin müde. Es war ein langer Tag …«

»Ah! Jetzt sehe ich klar! Du wolltest sie vögeln und sie hat dir die kalte Schulter gezeigt? Ist es so gewesen?«

»Fahr zur Hölle, du kleine Schlampe!«

»Du hast ihn nicht hochgekriegt. Ha! Hat Laura dich ausgelacht?« Monika grinste ihn böse an.

Jetzt reichte es. Er schlug ihr ins Gesicht. Heftig. Monika fiel nach hinten, schlug mit dem Hinterkopf gegen die Wand. Nach dem peitschenden Knall seiner Ohrfeige gab es diesen dumpfen Ton. Schädel an Beton. Sie blickte ihn ängstlich an.

»Du wolltest doch nicht mehr schlagen«, flüsterte sie und sah ihn aus aufgerissenen Augen an. Wahrscheinlich hätte sie gern geheult, aber sie traute sich wohl nicht.

Marcello rieb sich die Hand und drehte sich wieder zur Bar, um sich einen weiteren Cognac einzuschenken.

»Du hast mir mal geschworen, dass du keiner Frau mehr wehtun willst.«

Er nahm einen großen Schluck. Dann zündete er sich eine Zigarette an. »Hab ich das wirklich?« Er blies den Rauch langsam aus. »Tja, Schätzchen, da habe ich wohl gelogen. Ich tue Frauen gern mal ein bisschen weh, das weißt du doch. Und heute habe ich es eben wieder getan.«

 

*

 

 

Sophie kuschelte sich in die Wolldecke, die Tina ihr gegeben hatte, bevor sie zu Bett gegangen war. Stefan schlief schon. Er hatte mit ihnen noch ein Glas Wein getrunken und war dann nach oben verschwunden. Wahrscheinlich hatte er sich denken können, dass er nur gestört hätte. Sophie hatte mit Tina noch lange über Laura und die ›Dinnerparty‹ gesprochen. Tina hatte zugehört und das Gespräch später in eine fröhlichere Richtung gelenkt, indem sie von Antonia, Paul und Finn erzählte. Jetzt saß Sophie allein auf der Terrasse. Es war eine wunderschöne Sommernacht. Trotzdem fröstelte sie. Laura war tot. Es wollte nicht in Sophies Kopf, dass diese energische, schöne und eigenwillige Frau vor ihren Augen zusammengebrochen war. Von einem Moment auf den nächsten war ein Leben ausgehaucht. Sophie ließ ihren Tränen freien Lauf. Sie konnte nicht mehr aufhören zu weinen. Sie schluchzte, und ihre Nase lief. Sie wusste gar nicht genau, warum sie so heulen musste. Sie hatte Laura nicht nahegestanden. Vielleicht hatte sie einen Schock. Warum musste ihr das schon wieder passieren? Wieso war sie wieder zur falschen Zeit am falschen Ort gewesen? Sie hatte im letzten Sommer auf Fehmarn schon zwei Mordopfer gesehen. Sollte das nicht für ein Leben reichen? Nach den Ereignissen auf Fehmarn hatte sie ihr Leben neu ordnen wollen. Mit dem Umzug in die Villa und ihrem Singledasein war ihr das auch gelungen. Sie war glücklich allein. Wieder schluchzte sie auf. Allein. Vor einem Jahr wäre Pelle da gewesen. Wäre sie nicht so verdammt neugierig gewesen, würde er noch leben. Mit ihrer verdammten Schnüffelei hatte sie einen Mörder so sehr provoziert, dass dieser ihren braunen Labrador erschlagen hatte. Sie vermisste Pelle so sehr. Freunde hatten ihr dazu geraten, sich wieder einen Hund anzuschaffen, doch sie konnte sich nicht dazu durchringen. Einen zweiten Pelle würde es nicht geben. Es wäre nicht fair, einen neuen Hund immer an ihm zu messen. Doch in diesen Momenten völliger Einsamkeit wünschte sie sich verzweifelt jemanden an ihrer Seite. Sophie leerte ihr Glas und füllte es gleich wieder. Die Kerzen in den Windlichtern waren erloschen, doch ihre Augen hatten sich an die Dunkelheit gewöhnt. Pelles Grab! Pelle war hier in diesem Garten beerdigt. Vielleicht würde es ihr helfen, dorthin zu gehen. Langsam schlich sie über den Rasen bis zu der Kastanie. Vor fast einem Jahr hatte Stefan hier ihren Hund begraben. Trotz der schrecklichen Erinnerung musste Sophie grinsen, als sie das windschiefe Holzkreuz sah, das Antonia gebastelt hatte. Eine weiße Rose blühte. Tina musste sie dort gepflanzt haben. Sophie massierte sich die Schläfen. Das alles war Vergangenheit. Ihr Leben sollte so weitergehen, wie sie es sich vorgenommen hatte.

»Ach, Pelle. Warum bist du nicht mehr da? Ich würde mich viel besser fühlen, wenn du mich jetzt aus deinen treudoofen Augen anglotzen würdest. Mein Watson.«

Plötzlich musste Sophie fast lachen. Sie sprach mit einem toten Hund. Aber warum auch nicht? Immerhin hatte sie das kurze Gespräch mit Pelle aus ihrer Traurigkeit gerissen.

Das Leben lief nie nach Plan. Das sollte sie inzwischen eigentlich wissen. Es war auch nicht Lauras Plan gewesen, heute zu sterben.

Im Vergleich zu Laura war sie doch gut dran. Laura war tot. Sophie schüttelte den Kopf.

»Schluss jetzt«, befahl sie sich selbst. Sie hatte wirklich keinen Grund, sich dermaßen zu bemitleiden. Sie hatte nur ein lächerlich kleines Problem. Sie hatte keine Story mehr.