19
Sascha Richter schlug verschwitzt die Decke zurück. Er trug noch immer die Klamotten vom Vortag. Sein Mund war trocken und sein Herz klopfte ihm bis zum Hals. Er hatte schlecht geträumt. Er hatte auf einer Müllkippe in Manila auf alten Plastiktüten rumgekaut. Widerlich. Er kroch aus dem Bett und erinnerte sich dunkel, in der Nacht stark betrunken noch eine Reportage über Straßenkinder in der philippinischen Hauptstadt gesehen zu haben. Ja, in seinem Suff hatte er sogar geweint und plötzlich seine Kinder ganz schrecklich vermisst. Sascha brauchte ein paar Minuten, um sich zu sammeln. Dann schlich er in die Küche. Er musste unbedingt einen sehr starken Kaffee haben. Die Verlockung, sich einen klitzekleinen Wodka zu genehmigen, war groß. Es kostete ihn viel Kraft, sich dagegen zu entscheiden. Zitternd wartete er, bis die erste Tasse durchgelaufen war. Nach der dritten fühlte er sich imstande, geradeaus zu gucken. Müll, Müll, wohin er sah. Er musste sich gar nicht nach Manila träumen, er hatte seine eigene Müllkippe direkt in seiner Küche. Auf der Arbeitsfläche lagen die Pizzakartons und die Styroporverpackungen der letzten Tage. Fliegen kümmerten sich bereits um die vergammelten Essensreste. Angewidert warf Sascha alles in einen Müllbeutel und blickte sich um. Die Arbeitsplatte klebte und auf der Spüle türmte sich dreckiges Geschirr. Die Früchte im Obstkorb hatte er vor Wochen gekauft. Fruchtfliegen steuerten die schimmelnden Äpfel und Birnen an. Sascha schluckte. Er lebte wie ein Asozialer. Wann hatte er sein Bett zuletzt frisch bezogen? Wann hatte er Wäsche gewaschen? Er hatte sich immer Mühe gegeben, die alltäglichen Dinge so gut wie möglich zu erledigen, aber seit ein paar Tagen bekam er nichts mehr mit. Er war wieder voll drauf. Ein Alkoholiker, der nur an den nächsten Drink dachte. Der Kaffee hatte ihn einigermaßen wach gemacht, aber auch starke Kopfschmerzen hervorgerufen. Er nahm die letzten Aspirin, die er finden konnte. Allmählich wirkten die Tabletten und er konnte nachdenken. Er war am Arsch. Das stand zweifelsohne fest. Er stand mit dem Rücken zur Wand. Zu verlieren hatte er schon lange nichts mehr. Er musste weg von der Wand. Er musste die Chance nutzen. Laura war tot. Diese wunderbare Tatsache musste er für sich ausschlachten. Wo bliebe sonst der Sinn? Er musste sich jetzt an die Presse wenden. Schließlich hatte er mit der Crown gearbeitet. Und er konnte nicht nur zu den Dreharbeiten von damals etwas erzählen. Er wusste viel pikantere Details. Ja, er würde die Bombe platzen lassen. Jetzt oder nie. Mit Sicherheit würde man ihn in eine Talkshow einladen. Und dann würde es vielleicht wieder aufwärtsgehen. Sascha suchte bereits nach der Telefonnummer einer großen Tageszeitung, als ihm plötzlich etwas Besseres einfiel. Warum sollte er sich nur mit der Tagespresse zufriedengeben? Warum nicht was Größeres? Ein Porträt in der ›Stars & Style‹ wäre doch was! Mithilfe eines guten Visagisten und mit dem richtigen Styling konnte er noch immer sehr gut aussehen. Man würde sich wieder an ihn erinnern. An den Herzensbrecher, den er immer so erfolgreich dargestellt hatte. Ja, er würde Sophie Sturm anrufen und hoffen, dass Marcello Mari ihm nicht zuvorgekommen war.
*
Ben fühlte sich wie gerädert. Die Nacht war zu kurz gewesen und er hatte vor lauter Ärger auch zwei Bier zu viel getrunken. Müde schlich er in die Küche, um ein großes Glas Mineralwasser zu trinken. Weder Sophie noch Ronja waren zu entdecken. Wahrscheinlich hatte Sophie den Hund zu einem Morgenspaziergang mitgenommen. Gut so. Dann hatte er ein bisschen Zeit, in Ruhe zu duschen und dabei zu überlegen, wie er sich am besten entschuldigen könnte. Er war gestern wirklich schroff gewesen, aber er hatte Sophie nur klarmachen wollen, dass sie die Finger von der ganzen Sache lassen sollte. Leider waren sie in einen Streit geraten. Sophie war sauer und enttäuscht gewesen, dass er, ihr Verbündeter, sie hängen lassen wollte. Er war ärgerlich geworden, dass sie ihre Freundschaft infrage stellte. Sophie war irgendwann aufgestanden und zu Bett gegangen. Ronja war ihr gefolgt. Er hatte noch ein oder zwei Stunden im nächtlichen Garten verbracht und sich gefragt, was eigentlich los war. Warum ärgerte es ihn so, dass sie den Tod an ihrer Bekannten aufklären wollte? An ihrer Stelle würde er genauso handeln. Im Grunde machte er sich einfach nur Sorgen, dass sie sich in Gefahr bringen könnte. Sophie war immer so intensiv in ihrem Handeln, dass es ihm Angst machte. Ihr durfte einfach nichts passieren. Nicht, dass er noch verliebt in sie war, dafür waren ihre Lebensmodelle einfach zu verschieden, doch er liebte sie auf eine ganz besondere Art. Sie war seine Schwester im Geiste. Seine eigene Zwillingsschwester war als Kleinkind gestorben. Vielleicht sah er in Sophie die erwachsene Schwester, die er nie haben würde. Aber das rechtfertigte nicht, dass er sich über ihre Gefühle hinwegsetzte. Er hätte es nicht so weit kommen lassen dürfen. Schuldbewusst deckte er den Tisch im Wintergarten. Er musste nicht lange warten, bis er Sophie und Ronja ins Haus stürmen hörte. Wortlos reichte er ihr einen Becher Milchkaffee.
»Nett von dir.«
Sophie klang ironisch. Sie war noch immer sauer.
»Hör mal, ich wollte keinen Streit! Ich bin nur der Ansicht, dass …«
»Ich habe Croissants geholt. Und über die neuesten Entwicklungen unterrichte ich dich gleich beim Frühstück.«
Ben starrte sie ungläubig an.
»Ja, du hast richtig gehört. Ich habe mal wieder etwas herausgefunden, obwohl ich gar nicht auf der Suche war.«
»Schlimm, dass ich das zugeben muss, aber wie du beim Brötchenholen auf neue Hinweise stößt, das verstehe ich wirklich nicht.«
Sophie lächelte geheimnisvoll. Obwohl sie ein paar Zentimeter kleiner war als er selbst, hatte er das Gefühl, dass sie auf ihn herabsah.
*
Sophie legte die Tüte mit den Croissants auf den gedeckten Tisch. Ben hatte sich alle Mühe gegeben, stellte sie erstaunt fest. Sogar Orangensaft mit Eiswürfeln gab es. Er schien ihre Auseinandersetzung ebenfalls zu bedauern. Also gut. Schwamm drüber. Sie würde nicht darauf herumreiten. Sie war auch zu aufgewühlt.
»Erzähl schon«, bohrte Ben.
Sophie nippte an ihrem Milchkaffee. »Rate mal, wen ich beim Gassigehen an der Elbe getroffen habe?«
Ben sah sie mit gespielter Neugier an. »Den Osterhasen?«
»Ne, Robert Feller. Du erinnerst dich?«
Ben riss die Augen auf. »Du fragst mich allen Ernstes, ob ich mich an diesen aalglatten Designerbullen erinnere? Der Typ wollte mich verhaften. Feller hat immer auf ›guter Cop‹ gemacht. Kommissar Sperber spielt einem zumindest kein Theater vor. Er ist tatsächlich genau so, wie man sich den bösen Part eines Ermittlerduos in einem amerikanischen Thriller vorstellt: cholerisch und übellaunig, aber zumindest berechenbar. Dieser Feller macht gern auf gut Freund. Er war und ist einfach ein verlogener und versnobter Pinsel.«
»Bist du fertig?«, fragte Sophie beleidigt.
Ben nickte und atmete tief durch.
»Ja. Also gut, du hast Kommissar Feller getroffen.«
»Genau.«
»Was macht der denn morgens an der Elbe?«
Sophie lachte. »Er führt den schneeweißen und unglaublich dümmlich getrimmten Königspudel seiner frisch operierten Mutter aus, um nicht enterbt zu werden.«
Ben grinste. »Was du nicht sagst. Ich finde, das passt zu ihm.«
Sophie ignorierte den Kommentar. »Erinnerst du dich, was Marcello Mari uns in der Bar über sein Verhältnis zu Laura erzählt hat?«
»Sie hatten keinen Kontakt mehr oder so ähnlich.«
Sophie nickte. »Stimmt genau, das hat er gesagt!«
»Aber?«, fragte Ben müde.
»Die Polizei hat die Telefonlisten überprüft. Er hat mindestens einmal täglich mit ihr gesprochen!«
Jetzt hatte sie Bens volle Aufmerksamkeit.
»Wow! Marcello Mari hat also gelogen!«
Sophie nickte nachdenklich. »Das steht fest. Die entscheidende Frage ist, warum?«