30
Stefan hatte bereits Kopfschmerzen und die eigentliche Obduktion lag noch vor ihm. Dieser Fall war unerträglich. Drei von vier Gästen dieser blöden Kochsendung waren tot. Bis jetzt gingen sie im Fall Laura Krone von versehentlicher Selbsttötung aus. Es hatte aber Drohbriefe gegeben. Und Rubens hatte sich eben nicht selbst erschossen. War Richter einfach nur im Suff vom Balkon gefallen? Auch wenn sie noch nichts Genaueres über die Todesumstände wussten, rechnete Stefan damit, dass auch Richter nicht ohne fremde Hilfe den Löffel abgegeben hatte.
»Lutz, können wir da irgendwas übersehen haben?«
Dr. Frank machte ein überraschtes Gesicht. »Bei Victor Rubens? Ich würde sagen, nein. Aber um dir ein verwertbares Ergebnis zu nennen, muss ich ihn erst einmal öffnen. Und nun lass mich meine Arbeit machen.«
Lutz war im Begriff, das Skalpell anzusetzen.
»Jetzt warte mal kurz. Ich meine bei Laura Krone. Mir gefällt die ganze Sache nicht. Vor ein paar Tagen saßen sie noch alle an einem Tisch. Rubens wurde erschossen. Was mit Sascha Richter genau passiert ist, wissen wir noch nicht. Fakt ist: Nun sind drei von ihnen tot.«
Lutz nickte nachdenklich. »Keine Frage, das ist mehr als merkwürdig.«
»Und wenn man sie doch vergiftet hat? Hast du alles gecheckt?«
»Willst du mir doof kommen?« Lutz knallte das Skalpell zurück auf das Instrumententablett. »Alles gecheckt? Natürlich haben wir alles gecheckt. Sie war vollgepumpt mit Medikamenten und Drogen. Wann genau der Körper dann nicht mehr mitspielt, steht nicht auf der Packungsbeilage. Gekokst hat sie auch, und das schon seit geraumer Zeit. Ihre Nasenscheidewand war hinüber. Die Tabletten hat sie auch selbst genommen.«
»Verdammt. Ich weiß einfach nicht weiter. Ein natürlicher Tod passt überhaupt nicht in das Gesamtbild.«
Lutz atmete tief durch. »Also gut. Hier noch mal für Anfänger. Wäre sie vergiftet worden, hätte die Toxikologie das nachweisen können. Ganz davon abgesehen, es ist nicht so leicht, sich Gift zu beschaffen. Du musst es als Normalo stehlen …«
»Okay. Es gibt also kein Gift, das du nicht nachweisen kannst. Es ist ausgeschlossen, dass einer der Gäste ihr irgendwas ins Essen gemischt oder ins Glas gekippt hat.«
Lutz fuhr sich durch das Haar. »So würde ich das nicht sagen. Es gibt schon Stoffe, die besonders in Kombination mit dem Drogencocktail und dem Alkohol tödlich wirken können.«
Stefans Hals wurde plötzlich trocken. Hatte er es doch gewusst. »Ich bin ganz Ohr.« Seine Stimme zitterte vor Aufregung.
»Gammahydroxybuttersäure.«
»Gamma was? Lutz, verdammt. Jetzt rede schon. Was ist das für ein Zeug?«
»GHB, auch bekannt als K.-o.-Tropfen oder Liquid Ecstasy.«
Stefan war sprachlos. Mit dieser teuflischen Vergewaltigungsdroge bekamen sie es immer häufiger zu tun. Und nun hatte damit vielleicht jemand gemordet.
*
Ben sah verwundert auf die Uhr. Normalerweise war Sophie nach ihrer Joggingrunde um diese Zeit längst wieder zu Hause. Er beschloss, erst einmal zu duschen. Wenn Sophie dann noch immer nicht da wäre, würde er sie auf ihrem Mobiltelefon anrufen.
Auch nach seiner Dusche war Sophie nicht zurück. Wahrscheinlich war sie direkt in die Redaktion gefahren, um diese Mari-Story zu besprechen. Das würde auch erklären, warum sie Ronja nicht mitgenommen hatte. Ben griff sein Handy. Mit dem Telefon am Ohr ging er in Richtung Küche, als er es aus Sophies Schlafzimmer klingeln hörte. Sie hatte ihr Telefon gar nicht mitgenommen. Auch ihr Notebook lag am Fußende ihres Bettes. Ohne diese Dinge würde sie nie und nimmer in die Redaktion fahren. Ben lief beunruhigt in den Flur. Ihre Turnschuhe waren nicht da. Vielleicht war sie einfach nur zu einem längeren Lauf aufgebrochen. Zusammen mit diesem Feller. Ben schüttelte den Kopf und hob die unordentliche Zeitung vom Boden auf.
»Hast du wieder Pipi auf den Boden gemacht? Ronja, also so langsam solltest du es gelernt haben. Pipi heißt Garten! Ich will nicht, dass Sophie hinter dir herwischen muss. Kapiert?«
Ronja sah ihn empört an. Ben musste über ihren Blick lachen. Er wollte gerade die Zeitung in einen Müllbeutel werfen, als sein Blick auf das Datum fiel. Die Zeitung war von heute. Und sie war auch nicht nass. Ronja schien wirklich unschuldig zu sein. Ben klappte sie auf und atmete hörbar aus, als er die Schlagzeile las. In einem Film hätte er die dramatische Entwicklung des Falles spannend gefunden. Nur das hier war echt. Und er hatte keine Ahnung, wo Sophie steckte. Er musste plötzlich an dieses Kinderlied denken. Die Version von den Toten Hosen gefiel ihm besser. Zehn kleine Jägermeister.
Leise sang er den Refrain.
Einer für alle, alle für einen,
Wenn einer fort ist, wer wird denn gleich weinen?
Einmal trifft’s jeden, ärger dich nicht,
So geht’s im Leben, du oder ich.
Ben schluckte. War das der Schlüssel? Er summte die Melodie.
Drei prominente Dinnergäste
kamen zum Essen vorbei.
Die Gastgeberin brach tot zusammen,
da waren sie nur noch drei … *
Robert Feller griff zum Hörer, sobald er daheim war, und rief die Hamburger Kollegen an. Schnell wurde er zu Kommissar Funke durchgestellt.
»Kommissar Feller. Was kann ich für Sie tun?«
»Guten Morgen. Ich hoffe, Sie können uns weiterhelfen. Wir ermitteln in einem, nein, zwei oder auch drei Mordfällen. Die Opfer waren Gäste einer Koch-Show, die für das Fernsehen aufgezeichnet wurde.«
»Aha! Sie müssen entschuldigen, aber das klingt gerade etwas wirr.«
»Das stimmt wahrscheinlich. Nun, Sascha Richter war auch einer der Gäste«, erklärte Robert Feller. »Zwei andere sind ebenfalls tot.«
»Ich verstehe. Zufälle gibt es! Was soll ich Ihnen sagen? Die Obduktion steht noch bevor. Wir werden unter diesen Umständen natürlich genauer hinschauen. Allerdings war ich selbst vor Ort. Eine Nachbarin hat die Leiche gefunden. Richter ist vom Balkon gefallen, daran besteht kein Zweifel. Er war wahrscheinlich betrunken. Wir haben neben der Leiche Glasscherben gefunden. Natürlich wissen wir das alles erst nach der Obduktion genauer, aber es ist ziemlich sicher, dass er erst nach dem Aufprall am Boden gestorben ist. Schädelbruch. Er lag in einer Pfütze Blut. Er muss noch eine kurze Weile gelebt haben. Wahrscheinlich war er aber ohne Bewusstsein.«
»Gibt es in seiner Wohnung Zeichen eines Kampfes?«, fragte Robert und streifte sich nebenbei die Turnschuhe von den Füßen.
»Die Kollegen von der Spurensicherung sind noch vor Ort. Ich habe vorhin mit einem gesprochen. Die Wohnung ist wohl sehr verwahrlost. Einen Kampf scheint es aber nicht gegeben zu haben. Es wurden ein paar Scherben im Müll gefunden und ein umgekippter Blumentopf mit einer ausgetrockneten Zimmerpflanze. Der liegt da aber wohl schon länger. Die Nachbarn haben auch nichts gehört.«
Robert war fast ein bisschen enttäuscht. Dann war Richter in seinem Suff einfach nur vom Balkon gefallen?
»Okay. Herr Funke, ich bedanke mich für die Informationen. Könnten Sie uns einen Bericht zufaxen, wenn das Ergebnis der Obduktion feststeht?«
»Immer langsam. Klar faxen wir den Bericht. Aber eine Kuriosität habe ich doch noch für Sie.«
Robert war ganz Ohr.
»Die Kollegen von der Spurensicherung haben im Eisfach eine tote Katze gefunden!«
*
Sophie war die ganze Strecke zurück nach Hause gerannt. Ihre Gedanken fuhren Karussell. Die neuesten Ereignisse waren mehr als besorgniserregend. Sie konnte es gar nicht erwarten, Ben davon zu erzählen. Sophie hatte gerade den Schlüssel ins Schloss gesteckt, als die Tür aufflog.
»Ich warte die ganze Zeit auf dich. Wo warst du denn?«, rief Ben aufgeregt.
»Wo ich war? Bist du verrückt geworden?«
Er blieb in der Tür stehen und sah sie verwirrt an.
»Dürfte ich vielleicht in meine Wohnung?«
Endlich machte Ben Platz. Sophie ging kopfschüttelnd an ihm vorbei.
»Ich habe mich mit Rob getroffen, weil …«
»Rob?«
»Robert Feller.«
Ben hob amüsiert die Augenbrauen. »Seit wann nennst du ihn denn Rob?«
»Das kann dir doch eigentlich egal sein, oder? Hör mir einfach zu, okay? Sascha …«
»… Richter ist tot. Ich habe die Zeitung gefunden.«
»Jetzt fall mir doch nicht ständig ins Wort«, fuhr sie ihn an.
»Was ist mit Richter passiert? Konnte dir Feller da was sagen?«
»Nein. Er muss erst mit den Hamburger Kollegen sprechen.«
»Schön. Ich werde dann mal die nächste Wand streichen.«
»Was ist los mit dir?«
Ben zuckte mürrisch mit den Schultern.
»Jetzt sei nicht bockig und komm mit mir in die Küche. Ich habe nämlich noch eine Knallerneuigkeit. Ich brauche nur erst einen Orangensaft.«
Sophie lehnte sich an den Kühlschrank und trank das Glas leer.
»Und? Was ist das für ein Knaller?«
Tat Ben ganz gut, mal für einen Moment zu warten. Er benahm sich an diesem Morgen wirklich idiotisch.
»Rubens.«
»Rubens? Aha. Und was ist nun mit Rubens?«
Sophie stellte behutsam das Glas auf den Küchentisch, bevor sie die Bombe platzen ließ. »Der ist ermordet worden!«
*
Lasse hatte beschlossen, dass das Grinsen der Person auf dem Video wahrscheinlich gar nichts zu bedeuten hatte. Viele Menschen reagierten mit einer Art Verlegenheitslachen auf unangenehme Lebenssituationen. Er hatte auch viel zu viel zu tun, als dass er sich erlauben konnte, darüber weiter nachzugrübeln oder sich stundenlang der Polizei zu erklären. Er hatte ein bisschen zu lange geschlafen an diesem Morgen. Zu seinem Pech hatte sich seine Assistentin ausgerechnet heute krankgemeldet. Die Liste der E-Mails, die er beantworten musste, war lang. Plötzlich kam ihm eine Idee. Vielleicht sollte er Sophie von der grinsenden Person erzählen. Wäre doch eine gute Ausrede, sie endlich mal wieder zu Gesicht zu bekommen. Erst mal würde er eine große Kanne Kaffee kochen und sich der täglichen Arbeit widmen. Lasse kam gerade wieder aus der Küche, als es an der Tür klingelte. Besuch konnte er jetzt wirklich nicht gebrauchen. Sein Herz begann zu klopfen. Hoffentlich standen die Bullen nicht vor der Tür. Er rechnete damit, dass sie noch einmal mit ihm reden wollten. Nervös sah er auf den Monitor der Gegensprechanlage. Ricky! Erleichtert drückte er auf den Summer, um ihn einzulassen. Ricky schwenkte fröhlich eine Tüte.
»Na? Bock auf frische Croissants? Du siehst so aus, als könntest du eine Stärkung gebrauchen.«
Lasse merkte plötzlich, wie hungrig er war. »Dich schickt der Himmel. Der Kaffee ist gleich durch.«
»Hast du heiße Milch? Mir ist so nach französischem Milchkaffee. Zum Croissant-Reintunken.«
Lasse grinste. »Ich werde mal sehen, was sich da machen lässt.« Schnell lief er zurück in die Küche. Er machte eine Kanne H-Milch in der Mikrowelle heiß und schenkte sie dann zusammen mit dem Kaffee in zwei große Müslischalen.
»Voilà! Café au Lait!«
Sie setzten sich auf den Balkon und genossen die Sonne.
»Bist du nur gekommen, um mit mir zu frühstücken?«
Ricky lachte. »Nein. Ich dachte, ich verführ dich endlich mal.«
»Sorry, da muss ich dich enttäuschen. Ich bin noch immer hetero.«
»Ich kann warten«, versprach Ricky kokett, bevor er auf den eigentlichen Anlass seines Besuchs kam. »Ich wollte dich nur fragen, ob du schon die nächsten Termine für die Aufzeichnungen der ›Dinnerparty‹ hast. Ich muss gleich weiter zu einem Job. Ich kann jetzt ziemlich viel für die Studios am Rothenbaum machen. Aber dort will man natürlich wissen, an welchen Tagen ich zur Verfügung stehen kann. Ich wollte das vorher mit dir absprechen.«
Lasse nickte. »Leider kann ich dir nur ein paar Termine nennen. Es ist gerade nicht so einfach, Gäste zu finden. Ich könnte dir aber drei Sachen für August und September sagen. Nett, dass du zuerst an mich denkst.«
»Macht mir einfach am meisten Spaß.«
»Ist ja auch unheimlich lustig zwischendurch«, entgegnete Lasse trocken.
Ricky riss den Mund auf. »Hast du es eigentlich schon gehört?«
»Dass Rubens sich erschossen hat? Ja. Ich kann das allerdings nicht begreifen. Krank, der Typ. Der hatte doch alles, was man sich nur wünschen kann. Wieso bringt sich so ein gestopfter Mensch einfach um?«
»Das meine ich nicht. Sascha Richter ist auch tot. Ist wohl vom Balkon gefallen.«
Lasse riss die Augen auf. »Wow. Das ist ja unglaublich.« Um den Richter war es nicht wirklich schade. Er hoffte nur, dass die ›Dinnerparty‹ von diesen Neuigkeiten eher profitierte und Zuschauer gewann, statt potenzielle Gäste abzuschrecken. Alles konnte unterm Strich sehr gut für ihn ausgehen. Es konnte ihn aber auch seinen Kopf kosten.