11
Sophie lief kopflos durch die Wohnung. Ben musste jede Minute da sein. Er hatte vor einer halben Stunde angerufen und gesagt, dass sie gleich am Elbtunnel wären. Sophie füllte einen Sektkübel mit Eis und legte eine Flasche Prosecco und zwei Bier hinein. Anschließend stellte sie den Kübel auf den Tisch im Garten. Das Wetter war traumhaft. Sie hatte beschlossen, dass sie am Abend grillen würden. Nach der langen Autofahrt hatten Ben und seine Freundin sicher keine Lust, gleich wieder in ein Auto zu steigen, um in ein Restaurant zu fahren. Sophie hatte auf der Rückfahrt vom Notar am Fischmarkt haltgemacht und Unmengen Riesengarnelen und Thunfischsteaks gekauft.
»Hoffentlich isst seine Freundin auch Fisch«, sagte sie laut. Sie neigte zu Selbstgesprächen. Als Pelle noch lebte, hatte sie eben mit ihm geredet, aber nach seinem Tod war diese Angewohnheit nur noch traurig und lächerlich. Als es klingelte, zuckte sie zusammen. Sie war viel zu nervös. Sie warf einen schnellen Blick in den Spiegel. Sie trug Jeans und ein schlichtes T-Shirt. Die Haare hatte sie zu einem Pferdeschwanz gebunden. Sie wollte auf keinen Fall zu schick sein. Bens Freundin war sicher bequem angezogen und nach der langen Reise nicht mehr taufrisch. Es klingelte wieder. Sophie atmete durch und öffnete die Tür.
»Ben! Endlich!«
Ben sah großartig aus. Er war braun gebrannt, sein Haar länger und noch blonder.
»Hallo, Süße! Ich bin baff. Das ist ja ein echtes Anwesen, in dem du jetzt residierst. Ein kleines Schlösschen für die Prinzessin.«
Er nahm sie in den Arm, küsste ihre Wangen und drückte sie ganz fest.
»Schön, dass du da bist. Es tut so gut, dich zu sehen.«
In diesem Moment rannte ein Hund an ihr vorbei ins Haus.
»Du hast einen Hund?«
»Sozusagen, ja. Sie ist nicht wirklich ein Hund. Außerdem ist sie noch ein halbes Baby.«
Sophie sah sich suchend um. »Wo ist deine Freundin?«
»Das ist meine Freundin.«
»Du hast gar keine Freundin?«, fragte sie verwirrt.
»Der Hund ist die Freundin. Mein Gott, Sophie. Darf ich auch reinkommen?«
»Entschuldige!« Sophie trat zur Seite und ließ Ben hinein. »Ich dachte nur, du würdest eine Frau mitbringen.«
»Sie ist ein Weibchen. Und ich hätte jetzt echt gern ein Bier.«
Sophie fing an zu lachen. »Ich hoffe, dein Weibchen mag Prosecco und Riesengarnelen. Davon habe ich nämlich reichlich.«
Ben grinste. »Ich glaube, sie bevorzugt Wasser.«
Sophie führte Ben in den Garten. Er schnappte sich eine Flasche und ließ sich in einen Gartenstuhl plumpsen. Die kleine Hundedame war bereits dabei, die Beete umzugraben. Sie war sehr schlank. Ihr Fell war weiß. Nur um die Augen bis einschließlich der riesigen hoch stehenden Ohren und am Rücken war ihr Fell rotbraun.
»Du bist also auf den Hund gekommen. Wie heißt sie denn?«
»Das ist Ronja.«
Die Hündin blickte auf, als sie ihren Namen hörte. Ihre rosa Nase war vom Wühlen in der Erde ganz schwarz.
»Sie sieht ein bisschen aus wie eine Fledermaus. Was ist denn da alles drin?«
Ben erhob den Finger. »Oh, oh. Sollte es tatsächlich etwas geben, von dem Frau Sturm keine Ahnung hat? Ronja ist ein Podenco Ibicenco.«
»Aha. Ist das ein anderes Wort für ›spanische Promenadenmischung‹?«
»Nein, meine Liebe. Diese Hundedame ist ein direkter Nachfahre des altägyptischen Pharaonenhundes. Es gibt Höhlenzeichnungen, die diese Hunde zeigen, und die sind über 6.000 Jahre alt.«
Sophie starrte Ben an. Noch war sie sich nicht sicher, ob er sie auf den Arm nehmen wollte.
»Ich weiß das alles auch erst seit kurzem«, gab Ben zu. »In Spanien werden diese Hunde zur Kaninchenjagd eingesetzt. Es sind Gebrauchshunde. Pepe, ein Bekannter von mir auf Ibiza, jagt und züchtet selbst. Ronja war die kleinste und schwächste in einem Wurf. Nach wenigen Wochen wurde ihre Mutter unglücklicherweise überfahren. Ihre Geschwister waren bereits kräftig genug, aber für Ronja sah Pepe keine Chance. Wie gesagt, diese Hunde sollen jagen. Da wird nicht mit dem Fläschchen gepäppelt. Pepe meinte, er würde sich wohl um die Sache kümmern müssen.«
Sophie schauderte. »Er wollte sie töten?«
»Er wollte nicht, dass sie leidet«, erklärte Ben achselzuckend.
»Und dann hast du sie gerettet?«
»Ich habe sie mitgenommen, ja.«
Sophie war ganz gerührt. »Ronja!«
Die kleine Hundedame sprang auf sie zu. Erst jetzt entdeckte Sophie den kleinen rotbraunen Fellfleck mitten auf ihrem Kopf.
»Das ist ja süß.«
»Süß?« Ben sah sie empört an. »Das ist das dritte Auge. In einer Sage heißt es, dass die phönizische Göttin Tanit einige dieser Hunde mit der heiligen roten Erde von Ibiza gesegnet hat, als lebende Nachfahren des Gottes Anubis. Und da wären wir wieder bei den alten Ägyptern. Also? Respekt vor dieser göttlichen Kreatur, die sich gerne danebenbenimmt und Leckereien klaut. Darum Ronja.«
»Die Räubertochter. Wahnsinn! Ben, ich bin echt beeindruckt.«
Ben reckte sich und sah sich um.
»Und ich bin wirklich baff. Es ist wirklich schön hier. Eine Villa an der Elbe! Und trotzdem nicht so Schickimicki wie in Eppendorf.«
»Ich mag Eppendorf! Aber du hast schon recht. Ich wollte nicht mehr dort wohnen. Nach dem Fehmarn-Ding hatte ich plötzlich das Gefühl, nicht mehr mitten in der Stadt leben zu können. Stell dir vor, ich habe sogar mit dem Gedanken gespielt, ganz aufs Land zu ziehen.«
Ben sah sie mit großen Augen an. »Du auf dem Land? Schnapsidee!«
»Weiß ich, aber ich wollte zumindest näher ans Wasser. Ich fühl mich wirklich sauwohl hier. Allerdings gibt es noch jede Menge zu tun.«
»Na, wie praktisch, dass ich da bin.«
»Ach, Ben, ehrlich gesagt habe ich schon wieder ganz andere Probleme.«
»Was ist los?«
Sophie schenkte sich noch ein Glas Prosecco ein.
»Ich habe dir doch von Laura Crown erzählt.«
»Ja, deine Model-Freundin, die Schauspielerin, die in dieser Koch-Show gekocht hat. Das hast du mir gemailt. Wie war sie denn?«
»Das Essen war ganz gut, glaube ich, nur Laura ist vor dem Hauptgang vom Stuhl gekippt!«
Ben blickte Sophie amüsiert an. »War sie besoffen?«
Sophie schüttelte den Kopf.
»Nein. Sie war tot!«
*
Ben sah Sophie entsetzt an. Ihm wäre fast die Bierflasche aus der Hand gefallen. Hatte er sie richtig verstanden?
»Tot? Du machst Witze!«
Sophie schluckte. »Leider nicht. Laura ist tot. Sie ist einfach zusammengebrochen. Der Notarzt hat noch versucht, sie wiederzubeleben.«
Ben nahm ihre Hand. »Warum hast du mir nichts gesagt? Wir haben gestern doch telefoniert.«
Sophie lächelte traurig. »Ich weiß es nicht. Ich habe mich so über deinen Anruf gefreut. Ich habe in diesem Moment fast vergessen, dass ich einen schlimmen Abend hinter mir hatte.«
»Jetzt mal im Ernst. Wart ihr gut befreundet? Ich meine, bist du traurig?«
Sophie schüttelte den Kopf. »Nein, wir waren nicht befreundet. Ich glaube, niemand war mit Laura befreundet. Dazu hätte sie ja etwas von ihrer Persönlichkeit preisgeben müssen. Sie hatte sich immer unter Kontrolle. Angeblich ging es ihr stets blendend. So war sie schon immer, auch zu unseren Model-Zeiten. Irgendwie hat sie mich dadurch auch beeindruckt, weil sie funktionierte wie eine Maschine. Es gibt nicht viele Menschen, die so ehrgeizig und durchtrieben sind. Sie hatte außerdem einen schrägen Humor und eine dreckige Lache. Das mochte ich wirklich an ihr.«
»Woran ist sie denn gestorben?«
»Das ist die Frage. Lutz hatte sie auf dem Tisch. Sie hatte wohl jede Menge Zeug im Blut. Lutz hat Tablettenreste in ihrem Magen gefunden und tippt auf Beruhigungs- oder Aufputschmittel, vielleicht auch beides. Sie hat getrunken und wohl auch gekokst.«
»Wow! Das haut den stärksten Kerl aus den Schuhen. Wusstest du, dass sie Drogen nimmt?«
»Drogen?« Sophie atmete tief durch. »Klar hat sie hier und da mal was eingeworfen, aber drogensüchtig war sie, zumindest damals, meiner Meinung nach nicht. Dafür war sie ein viel zu großer Kontrollfreak. Wenn, dann hatte sie es eher mit Medikamenten.«
Ben hatte plötzlich ein ungutes Gefühl. Wieso wusste sie bereits, was bei der Obduktion herausgekommen war? Im Grunde konnte das nur bedeuten, dass Sophie sich der Sache mal wieder persönlich angenommen hatte.
»Und Lutz Franck meint, sie hat sich in der Dosierung etwas vertan?«
»Ja, das meint Lutz.« Sophie hatte einen Ausdruck im Gesicht, den er sehr gut einschätzen konnte. Sie hatte sich bereits ihr eigenes Bild gemacht. Ben seufzte und fragte trotzdem: »Und du glaubst das nicht?«
Sophie sah ihm direkt in die Augen.
»Nein, ich glaube, dass sie ermordet wurde.«
»Ermordet? Jetzt mach aber mal einen Punkt.«
Sophie sprang auf und sah ihn trotzig an. »Ich bin gleich wieder da. Ich werde dir was zeigen, was dich überzeugen wird. Laura hatte einen Feind.«
Ben sah ihr nach, wie sie wütend ins Haus ging. Er öffnete sich ein weiteres Bier. Wieso musste ausgerechnet Sophie noch einmal so etwas passieren? Er wünschte ihr, dass ihr Leben wieder schön und aufregend wurde. Eine Leiche passte da nicht ins Konzept. Und ein Mordopfer schon gar nicht.
»Hier, lies das!« Sophie kam wieder in den Garten und reichte ihm ein Schreiben in einer Klarsichtfolie.
»Was ist das?«
»Ich habe diesen Brief heute Nachmittag von Lauras Notar erhalten.«
Ben verstand die Zusammenhänge noch immer nicht. »Wieso du?«
»Das weiß ich auch nicht. Laura hat eben mich dazu auserkoren, ihre letzte Botschaft zu erhalten, im Falle ihres Todes. Interessant ist doch, dass sie überhaupt mit ihrem baldigen Tod gerechnet hatte.«
Liebe Sophie,
ich gehe davon aus, dass ich jetzt, da Du diese Zeilen liest, tot bin. Ich hoffe, ich hatte einen dramatischen Abgang und habe auch als Leiche noch umwerfend ausgesehen. Vielleicht habe ich es ja auf diese Weise endlich auf die Titelblätter geschafft. Ich gehe mal stark davon aus, dass ich ermordet wurde. Ich habe die ganze Situation wohl unterschätzt. Ich hätte mir Hilfe suchen sollen, aber dann hätte ich mir meine Angst eingestehen müssen. Du kennst mich. Ich kann es nur schwer ertragen, wenn jemand anderes die Regie übernimmt. Sonst wäre ich sicher auch eine bessere Schauspielerin geworden. Ich weiß, dass ich keine einfache Person bin oder besser war. Ich habe einigen Leuten das Leben ziemlich schwer gemacht. Leider vergesse ich schnell. Es scheint aber jemanden mit einem besseren Gedächtnis und einem nachtragenden Wesen zu geben. Seit ich von Victor das Angebot bekommen habe, in seiner neuen Serie zu spielen, bekomme ich diese Briefe. Es sind zwei, um genau zu sein. Der erste wurde mir nach Hollywood geschickt, der andere ins Hotel. Ich habe die Sache nicht ernst genug genommen, denn sonst wäre ich wahrscheinlich nicht tot und Du nicht in der furchtbaren Situation, einer Toten einen letzten Gefallen zu tun. Liebe Sophie, beim Schreiben dieser Zeilen war ich nicht mehr ganz nüchtern, aber voller Angst. Der Brief war sicher eine kranke Idee, aber er zeigt auch, in was für einem schrecklichen Zustand ich gerade bin. Ich will, dass mein Mörder zur Rechenschaft gezogen wird. Und Du bist eine gründliche Journalistin. Auch wenn wir uns nie wirklich nahestanden, bitte ich Dich, herauszufinden, wer mich umgebracht hat.
Ben ließ den Brief sinken und starrte Sophie an.
»Alter Schwede! Deine Laura hat ja einen kranken Humor. Post mortem.«
Sophie nahm den Brief wieder an sich und nickte.
»Ist ein bisschen schräg, oder?«
»Ein bisschen schräg? Das ist vollkommen irre.« Ben trank einen Schluck Bier und schüttelte den Kopf. Dann sah er sie ernst an. »Wieso liegt der Brief bei dir?«
Sophie zuckte mit den Schultern. »Das habe ich dir doch gesagt. Der Notar hat mir die Briefe gegeben.«
»Das meine ich nicht, und das weißt du auch.«
Sophie sah ihn fragend an.
»Verdammt, Sophie, das ist eventuell Beweismaterial. Das muss zur Polizei. Das ist der Brief einer Toten, die den Verdacht hatte, dass ihr jemand nach dem Leben trachtet. Was glaubst du, was Stefan mit dir macht, wenn er erfährt, dass du das Zeug hier zurückhältst?«
Sophie sah ihn beleidigt an. »Nun mach aber mal ’nen Punkt! Ich habe das erst heute erhalten«, rechtfertigte sie sich mürrisch. »Ist doch wohl klar, dass ich mir das erst mal genauer ansehen möchte, bevor ich es Stefan gebe. Ich erfinde schon eine Notlüge, warum ich ihn nicht sofort verständigt habe.«
Ben sah sie eindringlich an. »Du wirst eine verdammt gute brauchen.«
»Außerdem wollte ich erst vernünftige Kopien davon machen.«
»Wozu?«
Sophie strich sich das Haar zurück und griff nach ihrem Glas.
»Ich habe ja wohl so was wie einen Auftrag.«
»Deine Auftraggeberin ist tot.«
»Genau! Das ist ja der Grund für diesen Auftrag. Ich werde der Sache auf jeden Fall nachgehen.«
Er war nicht überrascht. Im Gegenteil. Alles andere hätte ihn verwundert.
»Was willst du denn machen?«
»Ich werde die Gäste der ›Dinnerparty‹ besuchen und ihnen auf den Zahn fühlen. Und du wirst mir dabei helfen.«
Ben sah sie eindringlich an. »Es ist noch gar nicht lange her, da haben dich deine Schnüffeleien um ein Haar das Leben gekostet.«