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Stefan war froh, endlich wieder in seinem Büro im Polizeipräsidium zu sitzen. Auch wenn sein Schreibtisch unordentlich, die Luft schlecht und der Ficus Benjamini seit Wochen tot war, fühlte er sich bedeutend wohler als im Sektionssaal des Rechtsmedizinischen Instituts. Wie hielt Lutz es da nur aus? Sein Blick fiel auf das neueste Foto, das auf dem Schreibtisch stand. Tina lächelte braun gebrannt in die Kamera. Antonia grinste frech und ließ ihre erste Zahnlücke blitzen. Paul guckte mürrisch. Sein Haar war zu lang und unordentlich. Und der kleine Finn strahlte begeistert. Stefan rieb sich die Augen. Er musste sich an die Arbeit machen. Konzentriert wühlte er sich durch die Unterlagen. Da waren diese drei Fälle, die nichts miteinander zu tun haben konnten, weil sie so verschieden waren. Und trotzdem waren sie enger miteinander verwoben als es zunächst den Anschein machte. Das Telefon klingelte. Stefan sah auf das Display. Robert. Endlich!

»Was sagt Hamburg?«

»Richter war asozial. Seine Bude ist grauenvoll. Er hatte eine tote Katze im Eiswürfelfach!«

Stefan sprang aus dem Stuhl. »Er hatte was?«

»Du hast schon richtig verstanden.«

»Das ist ja krank. Also gut. Immer schön der Reihe nach. Was sagen die Hamburger Kollegen zu den Umständen seines Todes?«

Er konnte hören, wie Robert in seinem Notizbuch blätterte.

»Sascha Richter starb an schweren Schädelverletzungen. Er war nach dem Aufprall auf den Boden nicht sofort tot.«

Stefan ließ sich wieder in seinen Schreibtischstuhl sinken. Das war wirklich grauenhaft. Wie lange hatte Richter noch gelebt? War er bei Bewusstsein gewesen? Er durfte jetzt nicht darüber nachdenken. Er musste seinen Job machen.

»War es ein Unfall? Oder hat da jemand nachgeholfen?«

»Das ist das Problem. Es gibt keine Kampfspuren. Die Spurensicherung ist noch vor Ort, um nach Fingerabdrücken zu suchen. Richter war ziemlich voll. Vielleicht ist er unglücklich gestürzt. Es hätte dem Anschein nach aber auch nicht besonders großer Anstrengung bedurft, ihn über das Geländer zu stoßen.«

Stefan seufzte. »Mit anderen Worten, entweder Richter hat nicht nur mal wieder zu tief ins Glas geschaut, sondern auch von der Balkonbrüstung, oder es ist jemandem ein perfekter Mord gelungen.«

»Ja, es könnte Mord gewesen sein. Victor Rubens hat sich auch nicht selbst erschossen.« Roberts Stimme hatte einen feindseligen Unterton angenommen. »Es gibt in deinem Umfeld im Übrigen Menschen, besser eine Frau, die von Anfang an davon überzeugt war, dass Laura Crown ermordet worden ist. Du scheinst aber ja noch immer an Zufälle zu glauben.«

Nein, selbst Stefan glaubte nicht an diesen Zufall. Was war mit Mari? Hielt sich der gelackte Schönling für so schlau, dass er nacheinander alle Dinnergäste umbringen konnte und man ihm nicht auf die Schliche kam?

»Robert, bleib in Hamburg. Bleib an der Sache mit Richter dran. Wenn es was Neues gibt, dann ruf mich sofort an. Und fahr zu Mari.«

»Soll ich ihm mal ein bisschen auf den Zahn fühlen?«

Stefan überlegte kurz. Robert hatte sich darüber beklagt, dass er sich wie ein Handlanger vorkam. Mit Recht. Jetzt hatte er die Gelegenheit, Robert die Sache in Hamburg in die Hand zu geben. Ihm blieb auch gar nichts anderes übrig.

»Ja, mach das. Mal sehen, ob der mittlerweile nervös geworden ist. Bis später!«

Stefan legte auf. Plötzlich kam ihm ein neuer Gedanke: Was, wenn Mari gar nicht der Täter war? Dann war er möglicherweise das nächste Opfer.

 

*

 

 

Sophie saß an ihrem Schreibtisch in der Redaktion und tippte ihre Notizen vom Mari-Interview in den Computer, um sie später ihrem Chefredakteur vorlegen zu können. In dem Großraumbüro war es stickig und viel zu heiß. Irgendetwas stimmte heute mit der Klimaanlage nicht. Sophie schenkte sich den Rest Mineralwasser ein und beschloss, sich gleich eine neue Flasche aus der Küche zu holen. Evi, eine Kollegin aus dem Ressort ›Beauty und Wellness‹, stand an der Küchenzeile und löffelte einen geschmacksneutralen Magermilchjoghurt.

»Hallo, Evi. Wie geht’s?«, grüßte Sophie freundlich und öffnete den Kühlschrank.

»Man schlägt sich so durch. Und selbst?« Evi sah sie neugierig an. »Wie war denn dein Gespräch mit Marcello Mari?«

Ihr Chefredakteur hatte anscheinend recht. Alle Frauen flogen auf Marcello Mari. Selbst die hübsche Evi. Und sie selbst hatte ihn ja bis gestern auch richtig sexy gefunden, gestand sie sich ein. Was sollte sie sagen?

»Tja …«

»Der Typ ist doch irre, oder?« Evi wirkte plötzlich ernst.

»Irre?«

»Ich meine, total durchknallt. Macht einen auf Traummann. So schön, so stark, so sinnlich.« Evi feuerte ihren Joghurtbecher in die Mülltonne. »Und in Wahrheit ist er total krank im Kopf.«

Sophie starrte sie an.

»Was meinst du genau?«

»Eine Freundin von mir hatte mal was mit Marcello. Sie war überglücklich, sich einen TV-Star an Land gezogen zu haben. Anfangs war er wohl auch sehr charmant …«

»Evi, komm auf den Punkt!«

»Er hat eine geheime Kellerwohnung in St. Georg.«

»Er hat was?« Sophie bekam eine Gänsehaut. Das konnte wichtig sein. »Weißt du die Adresse?« Die Frage war viel zu heftig gekommen.

»Was ist denn?«, fragte Evi erschrocken.

»Die Adresse!«

»Gurlittstraße. Die Hausnummer weiß ich nicht, aber im Nachbarhaus ist ein kleines Café. Fahr da bloß nicht hin. Der hat wohl ziemlich eigenartiges Spielzeug da. Du weißt schon, Handschellen, Peitschen, krankes Zeug eben. Meine Freundin ist da schreiend raus.«