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Die Herren hatten an der festlich gedeckten Tafel Platz genommen. Ricky puderte die glänzenden Gesichter noch einmal ab, während Lasse die ersten beiden fertig angerichteten Teller vor Marcello Mari und Sascha Richter abstellte. Die Scheinwerfer wurden wieder eingeschaltet und die Kameramänner gingen auf Position. Gernot machte noch schnell ein paar Fotos von den Dinnergästen und Laura, die mit den letzten zwei Tellern in der Tür stand und auf die nächste Regieanweisung wartete. Sophie konnte die Spannung regelrecht spüren.
»Das sieht ja köstlich aus«, meinte Rubens mit alkoholschwerer Stimme.
»Das hast du nie im Leben selbst gekocht!«, giftete Sascha Richter. »Hast du da reingespuckt?«
»Nein. Bei deinem Teller habe ich mir etwas ganz Besonderes einfallen lassen.« Laura blitzte ihn wütend an. »Ich habe draufgepisst!«
»Okay«, ging Lasse dazwischen. »Das reicht jetzt. Wir wollen doch heute alle noch mal nach Hause! Laura, wir machen weiter. Auf das Zeichen servierst du die letzten Teller. Erklär bitte kurz, um was es sich bei deiner Hauptspeise handelt. Anschließend wünschst du allen einen guten Appetit. Und dann stoßt ihr an. Alles klar? Ruhe. Wir drehen! Und bitte.«
Laura atmete tief durch. Ihre Augenlider flatterten leicht. Sophie nahm sich vor, Laura nach diesem Gang einen Kaffee aufzuzwingen. Und Mineralwasser.
»Meine lieben Gäste. Das ist mein … mein Hauptgang. Surf and Turf an grünem Spargel. Der Spargel ist gegrillt und mit … äh … Zitronensaft und Olivenöl bestrichen. Rinderfilet und Garnelen. Man kann auch Hummer nehmen, aber… ich könnte keinen Hummer in kochendes Wasser werfen… nein, das wäre ja Mord. Ich hoffe, euch schmeckt meine Variante. In Hollywood lieben wir dieses Gericht.«
Laura stellte die Teller mit Mühe ab und ging zu ihrem Platz.
»Das sieht großartig aus«, freute sich Marcello Mari und lächelte schleimig in die Kamera.
Laura blieb an der Tafel stehen und erhob feierlich ihr Glas. Ihre Stirn glänzte leicht und sie war plötzlich sehr blass. Sophie schielte zu Lasse. Er schien ebenfalls beunruhigt zu sein.
»Meine Lieben! Ich möchte mit euch anstoßen und ein paar Worte sagen.« Laura schluckte schwer und atmete tief. »Es ist ja so schön, dass wir endlich mal wieder alle … alle zusammen an einem Tisch sitzen. Es wurde auch wirklich Zeit für eine ›Dinnerparty‹. Meint ihr nicht auch? Ja … Wie lange ist das jetzt … jetzt … ich … oh, mir ist nicht …«
Laura fiel in sich zusammen wie eine Marionette, der man die Fäden gekappt hatte. Ihr Rotweinglas zersprang in tausend Splitter. Es schepperte noch Sekunden. Laura hatte sich am Tisch festhalten wollen und die Damastdecke mitgerissen, als sie zusammengebrochen war. Das Tischtuch hatte sie noch in der Hand. Teller und Gläser kullerten zu Boden. Wie die anderen wohl auch, erwartete Sophie, dass Laura aufspringen und lachen würde. Dass sie einfach nur einen bösen Streich gespielt hatte, um der Runde eins auszuwischen. Sie war eine sehr gute Schauspielerin. Doch Laura rührte sich nicht.
Sophie kniete neben Laura nieder und fühlte ihren Puls. Ihre Hände zitterten und ihr eigenes Herz hämmerte so stark, dass sie nicht sicher sagen konnte, ob Laura noch lebte. Sie konnte selbst kaum glauben, dass sie vor vielen Jahren ein paar Semester Medizin studiert hatte. Hatte sie denn gar nichts gelernt?
»Soll ich draufhalten?«, fragte einer der Kameramänner.
»Mach die verdammte Kamera aus, du kranker Vogel«, zischte Sophie. »Lasse, ruf einen Krankenwagen.«
Lasse nickte und verließ das Esszimmer.
»Mein Gott, ist sie betrunken?«, fragte Rubens. Sein Gesicht war dunkelrot und er atmete schwer.
»Die zieht hier doch nur wieder eine Show ab«, vermutete Sascha Richter.
Marcello Mari grinste. »Steh auf, Laura. Zugegeben, dein Auftritt war oscarverdächtig.«
Sophie versuchte, in diesem ganzen Chaos einen klaren Gedanken zu fassen. Laura musste sofort geholfen werden. Wenn es nicht sowieso zu spät war.
»Kann einer hier Erste Hilfe leisten?«, schrie sie in die Runde.
Schweigen. Sophie sah voller Hoffnung zu den Kameramännern, doch es wurde nur mit dem Kopf geschüttelt.
»Ich habe mal einen Sanitäter gespielt«, erklärte Mari. Sascha Richter kicherte. In diesem Moment hätte sie beide am liebsten geschlagen. Sophie wollte diese verfluchten Dinnergäste endlich aus dem Zimmer haben.
»Ricky!«
Ricky stand an der Tür und krallte sich mit beiden Händen an seinem Puderpinsel fest. Er schien sie gar nicht gehört zu haben.
»Verdammt, Ricky!«
»Was?« Er glotzte sie an wie ein Kaninchen das Scheinwerferlicht eines Autos.
»Sei ein Schätzchen und servier den Herren Schampus oder Cognac im Garten. Es gibt hier heute nichts mehr zu essen. Und überhaupt. Alle raus hier.«
Niemand schien zu bedauern, das Zimmer verlassen zu müssen. Sowohl die Technikcrew als auch die prominenten Gäste ließen sich nicht zweimal auffordern. Jeder hatte anscheinend gemerkt, dass es hier um Leben und Tod ging und wollte mit der Situation möglichst nichts zu tun haben.
Sophie schluckte ihre Wut herunter und konzentrierte sich. Ihr Erste-Hilfe-Kurs lag Jahre zurück. Wie war das noch mit der Mund-zu-Mund-Beatmung? Herzmassage! ABCD. Stabile Seitenlage. Atmung freimachen! Sophie öffnete Lauras Mund und fühlte, ob sie etwas im Mund oder Rachen hatte. Da war nichts. Als Nächstes musste sie prüfen, ob Laura überhaupt noch atmete. Sie sah sich rasch um und griff nach dem versilberten Unterteller einer zu Boden gefallenen Butterdose. Sie hielt Laura den Teller direkt unter die Nase. Mit Grauen sah sie, dass der Teller nicht beschlug. Laura atmete nicht. Druckmassage! Sophie rollte Laura wieder auf den Rücken. Dann legte sie eine Hand auf Lauras Brustbein, die andere quer darüber. Und drücken. Mit aller Kraft presste sie den Brustkorb. Eins, zwei, drei, vier, fünf, sechs, sieben, acht, neun, zehn. Sie hielt Laura die Nase zu und beatmete sie. Eins, zwei. Und wieder drücken.
»Der Rettungswagen wird gleich hier sein«, erklärte Lasse, der eilig ins Esszimmer zurückgekommen war. »Wie geht es ihr?«
Sophie zuckte mit den Schultern und schüttelte den Kopf. Sie hörte Glas splittern. Lasse war wohl auf ein herumliegendes Weinglas getreten. Sie versuchte, sich weiter auf die Mund-zu-Mund-Beatmung zu konzentrieren, doch ein neuer Gedanke ließ ihr keine Ruhe.
»Lasse, bleib stehen! Wir sollten hier möglichst keine Spuren verwischen.«
»Spuren verwischen? Wovon zum Teufel sprichst du?«
Sophie antwortete nicht, aber sie war sich sicher, dass sie eine Leiche beatmete.
*
Sophie war unendlich erleichtert, als sie die Sirene des Krankenwagens hörte. Ein paar Sekunden später stürzten der Notarzt und ein Rettungssanitäter ins Zimmer.
»Mein Name ist Simon. Ich bin der Notarzt. Was ist passiert?«
»Sie ist plötzlich zusammengebrochen«, erklärte Sophie. Ihre Stimme klang viel zu schrill.
Dr. Simon nickte. »Also gut. Danke, dass Sie Erste Hilfe geleistet haben. Wir übernehmen jetzt«, sagte er mit fester Stimme. »Bitte gehen Sie zur Seite.« Sophie stand zitternd auf. Der Mann kniete sich neben Lauras Kopf und riss die Verpackung einer Braunüle auf. »Hatte sie irgendwelche Beschwerden?«
»Beschwerden? Ich weiß nicht. Sie war müde. Und sie hatte wohl auch zu viel getrunken. Ja, sie hatte Sorge, eine Grippe zu bekommen.«
Der Rettungssanitäter war bereits dabei, das EKG anzuschließen. »Nulllinie. Hat sie Medikamente genommen?«
»Ich weiß es nicht.«
Der Sanitäter drückte Lauras Herz. Sophie bekam eine Gänsehaut, als sie sah, wie Dr. Simon die Braunüle in Lauras Hals rammte und ihr anschließend einen Beatmungsschlauch intubierte. Sekunden später bekam Laura eine Dosis Adrenalin.
»Elektroschock. Bitte zurücktreten!«
Lauras Körper zuckte unter dem Stromstoß.
»Nulllinie. Verdammt!«
Dr. Simon zog eine weitere Spritze Adrenalin auf. Sophie wollte das nicht mehr mit ansehen und verließ den Raum. Helfen konnte sie sowieso nicht und sie war sich fast sicher, dass auch der Notarzt nichts mehr für Laura tun konnte. Was war nur passiert? Laura war erschöpft und angetrunken gewesen. So etwas machten unendlich viele Menschen jeden Tag durch. Daran starb man doch nicht. Und wenn jemand nachgeholfen hatte? Sie musste Stefan anrufen. Und sie musste dringend eine Zigarette rauchen. Sophie wusste nicht mehr, wo ihre Tasche war. Aber die Eingangstür stand offen und sie hörte die Technikcrew auf der Auffahrt reden.
»Wie geht es ihr?«, fragte Lasse sofort, als sie nach draußen trat.
Sophie schüttelte nur mit dem Kopf.
»Ich weiß es nicht. Hast du ’ne Kippe für mich? Und ein Telefon?«
Lasse reichte ihr wortlos sein Handy, die Schachtel und ein Feuerzeug. Sophie nahm alles und ging die Auffahrt hinunter auf die schmale Straße. Ihre Hände zitterten, als sie versuchte, die Zigarette anzuzünden. Das alles war ein einziger Albtraum. Auch wenn sie schon Leichen gesehen hatte, sie hatte noch nie jemanden sterben sehen. Sie versuchte, die Bilder für einen Augenblick zu vergessen. Zumindest konnte sie etwas tun. Entschlossen wählte sie Stefans Nummer. Sie konnte sie auswendig. Stefan Sperber war Kriminalhauptkommissar in Lübeck und der Mann ihrer Freundin Tina. Sophie und Stefan waren immer wie Hund und Katze gewesen. Wenn sie sich im gleichen Raum befanden, waren nie mehr als ein paar Minuten vergangen, bis sie in Streit geraten waren. Stefan hatte ihr jahrelang vorgeworfen, am Anfang ihrer Karriere eine Zeit lang als Polizeireporterin gearbeitet zu haben. Er hasste diese Art von Sensationsjournalismus und Sophie empfand im Grunde ihres Herzens genauso. Aber damals war es eben ihre Chance gewesen, sich in dem Job zu behaupten. Stefan hatte nie versucht, sie zu verstehen, und sie als eingebildete Karrieretussi abgestempelt. Sie selbst hatte in Stefan nur noch einen selbstgerechten, aufbrausenden Mann gesehen und nie verstanden, warum ihre Freundin ausgerechnet diesen groben Klotz geheiratet hatte. Tina zuliebe hatten sie versucht, sich zusammenzureißen und nicht jedes Wort auf die Goldwaage zu legen, mit mittelmäßigem Erfolg. Im letzten Sommer hatte Sophie der Polizei geholfen, die Morde an drei jungen Kitesurferinnen aufzuklären. Sie selbst wäre beinahe das vierte Opfer geworden. In dieser Zeit hatte sie Stefan genauer kennengelernt und erkannt, dass hinter der rauen Schale ein wunderbarer Ehemann und Familienvater steckte. Nach Pelles Tod hatte sich Stefan ihr gegenüber großartig verhalten und ihr sehr geholfen. Das rechnete sie ihm hoch an. Trotzdem verstanden sie sich noch immer nicht besonders gut, auch wenn sich die offene Feindschaft zwischen ihnen gelegt hatte. Freunde würden sie sicher niemals werden.
»Sperber.«
»Stefan, ich bin’s, Sophie.«
»Was willst du?« Stefans ruppigen Ton kannte sie gut.
»Ich ruf dich nicht an, um mal wieder deine Stimme zu hören und mich davon zu überzeugen, dass es dir gut geht.«
»Prima, dann leg doch einfach wieder auf. Ruf Tina an, wenn du quatschen willst.«
Eigentlich hatte sie von Stefan nichts anderes erwartet, doch sie war zu erschöpft und erschrocken, als dass sie jetzt Spielchen spielen wollte.
»Mir ist nicht nach Scherzen zumute. Soll ich das Präsidium anrufen?«
»Was ist los?«
Stefan schien zu kapieren, dass sie nicht grundlos anrief.
»Ich bin auf Fehmarn. Hier wird eine Kochsendung aufgezeichnet.«
»Ist das nicht schön?«
»Die Dreharbeiten mussten vorzeitig beendet werden …«
»Sophie, jetzt komm auf den Punkt!«
»Weil die Hauptperson, Filmstar Laura Crown, tot zusammengebrochen ist.«
»Tot?«
»Ja, ich fürchte schon. Der Notarzt ist jetzt da. Die ersten Versuche, Laura wiederzubeleben, sind gescheitert. Ich bin dann aus dem Zimmer gegangen. Ich konnte das nicht mehr mit ansehen. Stefan, vor einer halben Stunde war sie noch lebendig. Ich finde, die Polizei sollte auch kommen. Nicht, dass ihr da noch jemand was ins Glas getan hat.«